Gesellschaft für Strahlenschutz kritisiert Desinformation über Tschernobyl
Im zerstörten Reaktorblock von Tschernobyl befindet sich deutlich weniger Kernbrennstoff als offiziell angegeben, sagt Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz. Die Zahlen würden übertrieben, um Geld für einen zweiten Sarkophag zu bekommen.
Joachim Scholl: Erinnerungen an die Tage von Tschernobyl vor 25 Jahren in der DDR. Der Physiker Sebastian Pflugbeil lebte auch in der DDR, war damals 38 Jahre alt, mit wenig Karrierechancen durch seine kritische Haltung gegenüber der DDR-Führung. Heute ist er der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz und jetzt bei uns im Studio. Willkommen im "Radiofeuilleton", Herr Pflugbeil.
Sebastian Pflugbeil: Guten Tag!
Scholl: Wurden Sie auch, wie Christian Halbrock es gerade formuliert hat, durch Tschernobyl zum Atomkraftgegner in der DDR?
Pflugbeil: Bei mir ging das schon ein bisschen eher los, ich habe Anfang der 70er-Jahre angefangen, mich mit Atomwaffen zu beschäftigen, mit Atomwaffenwirkung – das war auch tabu in der DDR. Man war zwar gegen die amerikanischen Raketen, aber so genau sollte man sich dann doch nicht damit beschäftigen, damit man nicht auf die Idee kommt, dass die russischen auch nicht so gut sind. Und dann landet man bei Uranbergbau und Kernkraftwerken ziemlich automatisch.
Scholl: Wie hat man das Unglück von Tschernobyl damals in der DDR wahrgenommen? Viele Menschen sahen ja Westfernsehen und erfuhren schnell, dass Tschernobyl kein kleiner Unfall, sondern der Alptraum war. War das vielen klar?
Pflugbeil: Ja, die meisten informierten sich doch über die Westmedien und man merkte an den Reaktionen, dass das schon wahrgenommen wurde, was im Westen dazu gesagt wurde. In den Medien fand eine ganz eigenartige Veränderung statt. Da wurde mit einem Mal berichtet, zum Beispiel über Kernkraftwerksunfälle, die im Westen stattgefunden hatten, das war vorher nicht üblich, darüber zu berichten, oder es wurde relativ viel geschrieben über die Abrüstungsinitiative von Gorbatschow, also Abrüstung von Atomwaffen, und wurde so dargestellt, dass alles was im Westen zu Tschernobyl geschrieben wurde, dass das eben von dieser Abrüstungsinitiative ablenken sollte und dummes Zeug wäre. Da war relativ viel zu finden, und das machte dann schon sehr misstrauisch.
Scholl: Wie weit ging die Verharmlosung der Behörden?
Pflugbeil: Es wurde einmal eine Handvoll Zahlen veröffentlicht, die haben dann einen Schwall von Anfragen provoziert bei den Behörden, das haben sie nie wieder gemacht, und ansonsten waren das Allgemeinplätze, die in den Medien veröffentlicht wurden, dann wurden die willigen Wissenschaftler gebeten aus der Akademie der Wissenschaften, zum Beispiel Professor Flach aus Rossendorf aus dem Kernforschungszentrum, Professor Lanius, erinnere ich mich, die haben auch gesagt: Für uns sowieso kein Problem, das ist ja so weit weg, und auch für die "Russen" in Anführungsstrichen bedeutet das eine Erhöhung der Krebsrate um 0,001 Prozent, also das wird man nie nachweisen können, da ist alles eigentlich im grünen Bereich. Und das unterschied sich aber nicht wesentlich von den Äußerungen der lieben Kollegen in Westdeutschland.
Scholl: Es kam ja auch zu solchen Merkwürdigkeiten, dass plötzlich also Gemüse, das im Westen nicht verkauft werden konnte, in den Regalen der DDR-Geschäfte auftauchte. Ich meine, wurde man da nicht misstrauisch? Hat das jemand gekauft?
Pflugbeil: Ja, da werde ich noch sauer werden, wenn Sie das anschneiden. Es war so, dass in dem Gürtel um Berlin viel Gemüse und Grünzeug für Westberlin angebaut wurde, das wurde dann nicht abgenommen von Westberlin, landete zunächst in den Kaufhallen in Ostberlin. Die Leute kauften es da auch nicht, weil sie vorher Westfernsehen gesehen hatten, Salat zum Beispiel, typisch. Und dann landete das Zeug in den Schulküchen und den Kindergärten, und die Kinder kriegten das zum Futtern, und man sah dann, die Kinder, die informiert waren, die ließen es stehen und die anderen, die holten sich zwei, drei Portionen. Das ist schon böse gewesen.
Scholl: Sie, Herr Pflugbeil, gehörten auch zum Umkreis der Umweltbibliothek, Sie haben im Auftrag der evangelischen Kirchen in der DDR dann eine Studie über Energie und Umwelt in der DDR erarbeitet, auch mit dem Blick natürlich auf die Atompolitik. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Pflugbeil: Wir haben so einen Rundumschlag gemacht, nicht nur Atom, sondern auch … haben mit Braunkohle angefangen, Braunkohle war das, was viel offensichtlicher ein Problem war in der DDR, das roch man und sah man in der Gegend um Leipzig, Bitterfeld, Halle. Das hat viele Leute direkt berührt und dann sind wir die ganze Palette durchgegangen: Wie ist das mit den fossilen Brennstoffen? Wie ist das mit der Atomenergie? Da war natürlich Tschernobyl der Motor, der eigentliche Motor der ganzen Geschichte. Da haben wir aber auch relativ viel geschrieben über die Energieeinsparung, das hieß in der DDR rationelle Energieanwendung, da gab es eine Menge Leute, die sich dafür schon professionell interessierten, aber die kamen nicht so richtig zum Zug, bis hin zu den regenerativen Energiequellen, also Sonnenenergienutzung. Und vieles von dem, was wir damals geschrieben haben, das könnte man heute genau so drucken. Das hat schon ein bisschen Niveau gehabt.
Scholl: 25 Jahre Tschernobyl – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Sebastian Pflugbeil, dem Präsidenten der Gesellschaft für Strahlenschutz. Diese Studie, Herr Pflugbeil, war natürlich ein Affront für die Behörden, das Buch erschien in mehreren Auflagen, ohne Autorennamen, um die Verfasser zu schützen. Welche Wirkung hatte dieses Buch? Hatte es eine?
Pflugbeil: Ja, es ist erschienen unter der Herausgabe des Bundes der evangelischen Kirchen der DDR. Das war so die höchste Etage im Bereich der evangelischen Kirchen, unten stand: Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch, das war so die Floskel, mit der man überhaupt was publizieren konnte. Dass unsere Namen nicht draufstanden, um uns zu schützen, ist übertrieben, das war da einfach in diesen Kirchenpapieren oft nicht üblich, war aber ganz zweckmäßig. Und dadurch, dass das diesen Absender hatte, Bund der evangelischen Kirchen, wurde das auch von ein bisschen ängstlichen Zeitgenossen doch gerne gelesen und interessiert gelesen und hatte auch eine gewisse Autorität, allein durch den Absender schon. Und das hat Spuren hinterlassen, das ist von Hand zu Hand weitergereicht worden über die Infrastruktur, die die Kirche hatte, und wir haben natürlich auch das unsere getan, dass das unters Volk kam. Das war das erste vielleicht – ungefähr 200 Seiten stark war die Studie – das erste ein bisschen umfangreichere Material über diese Thematik überhaupt, was für so normale Zivilisten verständlich geschrieben war.
Scholl: Sie gehörten zu den Mitbegründern des neuen Forums, 1990 waren Sie in der Regierung Modrow Minister ohne Geschäftsbereich und haben für den Runden Tisch ein Gutachten zur Sicherheit der Atommeiler in der DDR erstellt. Danach war der Ausstieg anscheinend keine Frage mehr, das konnten Sie relativ schnell durchsetzen.
Pflugbeil: Ja, das ist nicht allein mein Verdienst. Ich habe in der Zeit, wo ich Minister war, oder ich war ein paar Wochen Minister nur, mit dem Hintergedanken, in die Archive des Ministerrats zu kommen und genau solche Unterlagen zu finden, die so einen Ausstieg befördern würden, also geheime Gutachten über die Kernkraftwerke und diesen ganzen Problemkomplex. Und das ist dann in der kurzen Zeit auch gelungen. Ich bin jeden Abend mit dicken schwarzen Taschen nach Hause gefahren mit meinem Dienstwagen und haben das zuhause kopiert. Das durfte man natürlich nicht, das waren geheime Verschlusssachen und VVS, also alles geheimes Zeug. Und da war aber klar, dass in unserer Hand Belege waren von den Kernkraft-Fachleuten in der DDR, die nur geschrieben waren zur Information der Regierung, wo ganz offen und ganz scharf kritisiert wurde, was in diesen Anlagen alles nicht stimmt. Und das lag halt auf dem Tisch, und dieses Material hat praktisch erzwungen, dass die Geräte dann wenig später abgeschaltet wurden alle.
Scholl: Wir haben jetzt aktuell die Diskussion um den weiteren Schutz des Reaktors in Tschernobyl, der sogenannte Sarkophag muss erneuert werden. Nun gibt es ja merkwürdig divergierende Angaben darüber, wie viel Kernbrennstoff überhaupt noch vorhanden ist. Es heißt, 95 Prozent wären noch im Reaktorschacht, Wissenschaftler sprechen dagegen umgekehrt von nur fünf Prozent. Wie ist ihre Einschätzung? Braucht Tschernobyl diesen neuen gigantischen und auch gigantisch teuren Sarkophag überhaupt?
Pflugbeil: Mir missfällt das Missverhältnis. Auf der einen Seite die Leichtigkeit, hunderte von Millionen Euro zu beschaffen für so was wie den zweiten Sarkophag, ein blitzendes Gerät, was belegen würde, wenn es denn mal fertig wird, wie gut man so einen Unfall händeln kann und auf der anderen Seite eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Zuständen im Gesundheitswesen, gegenüber dem Schicksal der vielen Leute, die krank geworden sind, Familien, die ihre Väter verloren haben, als Liquidatoren. Da ist eine völlige Gleichgültigkeit im Westen, und man kriegt da keine müde Mark aus den offiziellen Töpfen zur Aufbesserung des nach dem Fall der Sowjetunion zusammengebrochenen Gesundheitswesens. Das hat uns geärgert, und deswegen haben wir diesen Sarkophag seziert und geguckt: Was sind die Gründe, so einen Sarkophag zu bauen? - und sind auf lauter Sprechblasen gestoßen.
Scholl: Was heißt das?
Pflugbeil: Es spricht sehr viel dafür – eine lange Reihe von Indizien, die ich jetzt nicht aufführen kann –, dass tatsächlich in diesem Sarkophag fünf, maximal zehn Prozent des Kernbrennstoffs sich aufhalten, und man fragt sich, wieso die offiziellen Stellen immer von 90, 95 Prozent reden, die da noch drin sind. Das ist offensichtlich nur Argumentationsmasse, um diesen zweiten Sarkophag begründen zu können. Es wird gesagt, dass von diesem Kernbrennstoff große Gefahr für die Ukraine und für ganz Westeuropa ausgeht. Das ist alles Unsinn. Freunde von mir sind da drin gewesen in dem Sarkophag und haben speziell nach dem Verbleib des Kernbrennstoffs gesucht und so gut wie nichts gefunden. Alles was bisher so offiziell dazu geäußert wurde, hat sich als Ente herausgestellt. Es ist der größte Teil nach oben mit einer Kernexplosion herausgeflogen, hat sich in der Gegend verteilt. Diese Vokabel Kernexplosion wird im Westen überhaupt nicht geschätzt. In Verbindung von Kernkraftwerken, dass es da Kernexplosionen geben kann, steht in keinem Lehrbuch, und man möchte das auch nicht rein haben, deshalb tabuisiert man das und erzählt falsche Dinge.
Scholl: Wie die DDR mit der Katastrophe von Tschernobyl umging – das war Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch!
Pflugbeil: Bitteschön!
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Sebastian Pflugbeil: Guten Tag!
Scholl: Wurden Sie auch, wie Christian Halbrock es gerade formuliert hat, durch Tschernobyl zum Atomkraftgegner in der DDR?
Pflugbeil: Bei mir ging das schon ein bisschen eher los, ich habe Anfang der 70er-Jahre angefangen, mich mit Atomwaffen zu beschäftigen, mit Atomwaffenwirkung – das war auch tabu in der DDR. Man war zwar gegen die amerikanischen Raketen, aber so genau sollte man sich dann doch nicht damit beschäftigen, damit man nicht auf die Idee kommt, dass die russischen auch nicht so gut sind. Und dann landet man bei Uranbergbau und Kernkraftwerken ziemlich automatisch.
Scholl: Wie hat man das Unglück von Tschernobyl damals in der DDR wahrgenommen? Viele Menschen sahen ja Westfernsehen und erfuhren schnell, dass Tschernobyl kein kleiner Unfall, sondern der Alptraum war. War das vielen klar?
Pflugbeil: Ja, die meisten informierten sich doch über die Westmedien und man merkte an den Reaktionen, dass das schon wahrgenommen wurde, was im Westen dazu gesagt wurde. In den Medien fand eine ganz eigenartige Veränderung statt. Da wurde mit einem Mal berichtet, zum Beispiel über Kernkraftwerksunfälle, die im Westen stattgefunden hatten, das war vorher nicht üblich, darüber zu berichten, oder es wurde relativ viel geschrieben über die Abrüstungsinitiative von Gorbatschow, also Abrüstung von Atomwaffen, und wurde so dargestellt, dass alles was im Westen zu Tschernobyl geschrieben wurde, dass das eben von dieser Abrüstungsinitiative ablenken sollte und dummes Zeug wäre. Da war relativ viel zu finden, und das machte dann schon sehr misstrauisch.
Scholl: Wie weit ging die Verharmlosung der Behörden?
Pflugbeil: Es wurde einmal eine Handvoll Zahlen veröffentlicht, die haben dann einen Schwall von Anfragen provoziert bei den Behörden, das haben sie nie wieder gemacht, und ansonsten waren das Allgemeinplätze, die in den Medien veröffentlicht wurden, dann wurden die willigen Wissenschaftler gebeten aus der Akademie der Wissenschaften, zum Beispiel Professor Flach aus Rossendorf aus dem Kernforschungszentrum, Professor Lanius, erinnere ich mich, die haben auch gesagt: Für uns sowieso kein Problem, das ist ja so weit weg, und auch für die "Russen" in Anführungsstrichen bedeutet das eine Erhöhung der Krebsrate um 0,001 Prozent, also das wird man nie nachweisen können, da ist alles eigentlich im grünen Bereich. Und das unterschied sich aber nicht wesentlich von den Äußerungen der lieben Kollegen in Westdeutschland.
Scholl: Es kam ja auch zu solchen Merkwürdigkeiten, dass plötzlich also Gemüse, das im Westen nicht verkauft werden konnte, in den Regalen der DDR-Geschäfte auftauchte. Ich meine, wurde man da nicht misstrauisch? Hat das jemand gekauft?
Pflugbeil: Ja, da werde ich noch sauer werden, wenn Sie das anschneiden. Es war so, dass in dem Gürtel um Berlin viel Gemüse und Grünzeug für Westberlin angebaut wurde, das wurde dann nicht abgenommen von Westberlin, landete zunächst in den Kaufhallen in Ostberlin. Die Leute kauften es da auch nicht, weil sie vorher Westfernsehen gesehen hatten, Salat zum Beispiel, typisch. Und dann landete das Zeug in den Schulküchen und den Kindergärten, und die Kinder kriegten das zum Futtern, und man sah dann, die Kinder, die informiert waren, die ließen es stehen und die anderen, die holten sich zwei, drei Portionen. Das ist schon böse gewesen.
Scholl: Sie, Herr Pflugbeil, gehörten auch zum Umkreis der Umweltbibliothek, Sie haben im Auftrag der evangelischen Kirchen in der DDR dann eine Studie über Energie und Umwelt in der DDR erarbeitet, auch mit dem Blick natürlich auf die Atompolitik. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Pflugbeil: Wir haben so einen Rundumschlag gemacht, nicht nur Atom, sondern auch … haben mit Braunkohle angefangen, Braunkohle war das, was viel offensichtlicher ein Problem war in der DDR, das roch man und sah man in der Gegend um Leipzig, Bitterfeld, Halle. Das hat viele Leute direkt berührt und dann sind wir die ganze Palette durchgegangen: Wie ist das mit den fossilen Brennstoffen? Wie ist das mit der Atomenergie? Da war natürlich Tschernobyl der Motor, der eigentliche Motor der ganzen Geschichte. Da haben wir aber auch relativ viel geschrieben über die Energieeinsparung, das hieß in der DDR rationelle Energieanwendung, da gab es eine Menge Leute, die sich dafür schon professionell interessierten, aber die kamen nicht so richtig zum Zug, bis hin zu den regenerativen Energiequellen, also Sonnenenergienutzung. Und vieles von dem, was wir damals geschrieben haben, das könnte man heute genau so drucken. Das hat schon ein bisschen Niveau gehabt.
Scholl: 25 Jahre Tschernobyl – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Sebastian Pflugbeil, dem Präsidenten der Gesellschaft für Strahlenschutz. Diese Studie, Herr Pflugbeil, war natürlich ein Affront für die Behörden, das Buch erschien in mehreren Auflagen, ohne Autorennamen, um die Verfasser zu schützen. Welche Wirkung hatte dieses Buch? Hatte es eine?
Pflugbeil: Ja, es ist erschienen unter der Herausgabe des Bundes der evangelischen Kirchen der DDR. Das war so die höchste Etage im Bereich der evangelischen Kirchen, unten stand: Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch, das war so die Floskel, mit der man überhaupt was publizieren konnte. Dass unsere Namen nicht draufstanden, um uns zu schützen, ist übertrieben, das war da einfach in diesen Kirchenpapieren oft nicht üblich, war aber ganz zweckmäßig. Und dadurch, dass das diesen Absender hatte, Bund der evangelischen Kirchen, wurde das auch von ein bisschen ängstlichen Zeitgenossen doch gerne gelesen und interessiert gelesen und hatte auch eine gewisse Autorität, allein durch den Absender schon. Und das hat Spuren hinterlassen, das ist von Hand zu Hand weitergereicht worden über die Infrastruktur, die die Kirche hatte, und wir haben natürlich auch das unsere getan, dass das unters Volk kam. Das war das erste vielleicht – ungefähr 200 Seiten stark war die Studie – das erste ein bisschen umfangreichere Material über diese Thematik überhaupt, was für so normale Zivilisten verständlich geschrieben war.
Scholl: Sie gehörten zu den Mitbegründern des neuen Forums, 1990 waren Sie in der Regierung Modrow Minister ohne Geschäftsbereich und haben für den Runden Tisch ein Gutachten zur Sicherheit der Atommeiler in der DDR erstellt. Danach war der Ausstieg anscheinend keine Frage mehr, das konnten Sie relativ schnell durchsetzen.
Pflugbeil: Ja, das ist nicht allein mein Verdienst. Ich habe in der Zeit, wo ich Minister war, oder ich war ein paar Wochen Minister nur, mit dem Hintergedanken, in die Archive des Ministerrats zu kommen und genau solche Unterlagen zu finden, die so einen Ausstieg befördern würden, also geheime Gutachten über die Kernkraftwerke und diesen ganzen Problemkomplex. Und das ist dann in der kurzen Zeit auch gelungen. Ich bin jeden Abend mit dicken schwarzen Taschen nach Hause gefahren mit meinem Dienstwagen und haben das zuhause kopiert. Das durfte man natürlich nicht, das waren geheime Verschlusssachen und VVS, also alles geheimes Zeug. Und da war aber klar, dass in unserer Hand Belege waren von den Kernkraft-Fachleuten in der DDR, die nur geschrieben waren zur Information der Regierung, wo ganz offen und ganz scharf kritisiert wurde, was in diesen Anlagen alles nicht stimmt. Und das lag halt auf dem Tisch, und dieses Material hat praktisch erzwungen, dass die Geräte dann wenig später abgeschaltet wurden alle.
Scholl: Wir haben jetzt aktuell die Diskussion um den weiteren Schutz des Reaktors in Tschernobyl, der sogenannte Sarkophag muss erneuert werden. Nun gibt es ja merkwürdig divergierende Angaben darüber, wie viel Kernbrennstoff überhaupt noch vorhanden ist. Es heißt, 95 Prozent wären noch im Reaktorschacht, Wissenschaftler sprechen dagegen umgekehrt von nur fünf Prozent. Wie ist ihre Einschätzung? Braucht Tschernobyl diesen neuen gigantischen und auch gigantisch teuren Sarkophag überhaupt?
Pflugbeil: Mir missfällt das Missverhältnis. Auf der einen Seite die Leichtigkeit, hunderte von Millionen Euro zu beschaffen für so was wie den zweiten Sarkophag, ein blitzendes Gerät, was belegen würde, wenn es denn mal fertig wird, wie gut man so einen Unfall händeln kann und auf der anderen Seite eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Zuständen im Gesundheitswesen, gegenüber dem Schicksal der vielen Leute, die krank geworden sind, Familien, die ihre Väter verloren haben, als Liquidatoren. Da ist eine völlige Gleichgültigkeit im Westen, und man kriegt da keine müde Mark aus den offiziellen Töpfen zur Aufbesserung des nach dem Fall der Sowjetunion zusammengebrochenen Gesundheitswesens. Das hat uns geärgert, und deswegen haben wir diesen Sarkophag seziert und geguckt: Was sind die Gründe, so einen Sarkophag zu bauen? - und sind auf lauter Sprechblasen gestoßen.
Scholl: Was heißt das?
Pflugbeil: Es spricht sehr viel dafür – eine lange Reihe von Indizien, die ich jetzt nicht aufführen kann –, dass tatsächlich in diesem Sarkophag fünf, maximal zehn Prozent des Kernbrennstoffs sich aufhalten, und man fragt sich, wieso die offiziellen Stellen immer von 90, 95 Prozent reden, die da noch drin sind. Das ist offensichtlich nur Argumentationsmasse, um diesen zweiten Sarkophag begründen zu können. Es wird gesagt, dass von diesem Kernbrennstoff große Gefahr für die Ukraine und für ganz Westeuropa ausgeht. Das ist alles Unsinn. Freunde von mir sind da drin gewesen in dem Sarkophag und haben speziell nach dem Verbleib des Kernbrennstoffs gesucht und so gut wie nichts gefunden. Alles was bisher so offiziell dazu geäußert wurde, hat sich als Ente herausgestellt. Es ist der größte Teil nach oben mit einer Kernexplosion herausgeflogen, hat sich in der Gegend verteilt. Diese Vokabel Kernexplosion wird im Westen überhaupt nicht geschätzt. In Verbindung von Kernkraftwerken, dass es da Kernexplosionen geben kann, steht in keinem Lehrbuch, und man möchte das auch nicht rein haben, deshalb tabuisiert man das und erzählt falsche Dinge.
Scholl: Wie die DDR mit der Katastrophe von Tschernobyl umging – das war Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch!
Pflugbeil: Bitteschön!
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