Gesellschaft

Gier zerfrisst das kapitalistische System

Auf einem Scrabble-Brett sind mit Buchstaben-Steinen die Begriffe "Kapitalismus" und "Macht" zusammengefügt, scheinbar wahllos im Hintergrund liegende Steine bilden das Wort "Geld".
Auf einem Scrabble-Brett sind mit Buchstaben-Steinen die Begriffe "Kapitalismus" und "Macht" zusammengefügt © dpa / picture alliance / Hans Wiedl
Von Jana Swiderski |
Wo jeder giert, kämpft jeder gegen jeden und jedes System führt sich irgendwann ad absurdum, meint die Erziehungswissenschaftlerin Jana Swiderski. Weil Maßlosigkeit aber anerzogen sei, sind wir der Gier nicht hilflos ausgeliefert.
Es gibt Menschen, die behaupten, der Mensch sei von Natur aus gierig. Dem, so sagen sie, müsse das Gesellschaftssystem Rechnung tragen. Ein System, das die Gier des Menschen unterdrückt, sei demzufolge widernatürlich.
Deswegen hätten Sozialismus und Kommunismus keine Überlebenschance – anders als der Kapitalismus, der menschliche Gier zulasse und fördere. Das klingt zunächst einmal plausibel.
Jedoch stellen sich vier Fragen: Sind Menschen zu allen Zeiten und unter allen Umständen gierig? Ist die Gier tatsächlich natürlichen Ursprungs? Oder hat sie individuelle und gesellschaftliche Quellen, die zu beeinflussen, jeder Mensch in der Hand hat? Denn würde eine Gesellschaft nicht auch daran zerbrechen, dass jeder seine Gier ungezügelt auslebt?
Streben nach Mehr ist nicht gleichzusetzen mit Gier
Das Problem des Mehrhabenwollens ist seit der Antike bekannt. Ein Streben nach Mehr ist nicht gleichzusetzen mit Gier. Und einen Beleg dafür, dass der Mensch zu allen Zeiten und unter allen Umständen gierig sein musste, um sich möglichst effektiv selbst zu verwirklichen, einen solchen Beleg gibt es nicht.
Was meint man mit Gier? Sie ist das vernunftlose und maßlose Begehren, das keinen Aufschub duldet. War und ist dieses Verhalten allen Menschen gleichermaßen eigen? – Wohl nicht! Wenn Gier also kein Wesenszug ist, der in der Natur festgeschrieben wurde, dann kann sie beeinflusst werden – durch persönliche oder gesellschaftliche Impulse, im Guten wie im Schlechten.
Ja, sie lässt sich bewusst steuern. Denn der Mensch vermag zu lernen, sich zu mäßigen, Bedürfnisse zu begrenzen und das richtige Maß zu finden – und vernünftig zu urteilen. Er kann dies durch Erziehung lernen.
Schon kleinen Kindern bringt man bei, sich nicht hastig den Mund mit allen guten Sachen vollzustopfen, sondern kleine Portionen zu wählen. Erzieher schätzen ein, was und in welchem Maß etwas gut ist für Heranwachsende, bis sie lernen, dies selbst zu beurteilen.
Wenn es gierige und weniger gierige Menschen gibt, heißt das nicht, dass sie sich darin von Natur aus unterscheiden. Es heißt, dass sie unterschiedlich erzogen wurden, anders geübt sind, sich selbst zu erziehen.
Zeitgeist und Kultur einer Gesellschaft spielen dabei durchaus eine Rolle. Sie können Gier fördern, wenn es en vogue ist, dass Minderheiten sich auf Kosten der Mehrheit bereichern, wenn Ungleichheit den Wettlauf um das bessere Leben antreibt.
Ohne Regeln droht der Zerfall
Wo jeder giert, kämpft jeder gegen jeden, ist ein jeder sich selbst der nächste. Weil Gemeinsinn ihm nichts bedeutet, haben auch Regeln für ihn keinen Sinn. Ohne Regeln, ohne Grenzen, auf die sich eine Gesellschaft verständigt, führt sich jedoch jedes System ad absurdum.
Es kann auf einen Rechtsfrieden, der von der Gemeinschaft garantiert wird, nicht verzichten. Und dieser Frieden hängt von der Mäßigung, der Zügelung der Gier und der Begrenzung der Bedürfnisse ab.
Die Gier und der Eigennutz sind die Geister, die der Kapitalismus rief. Und diese Geister wird er nun nicht mehr los. Wie der Zauberlehrling droht auch der Kapitalismus zugrunde zu gehen, wenn er der Gier, der Maßlosigkeit und dem grenzenlosen Besitzstreben nicht Einhalt zu gebieten vermag.
Aber da wir selbst es sind, die unsere Gier zu beeinflussen vermögen, sind wir ihr nicht ausgeliefert. Nur durch die Fähigkeit zu Selbstbegrenzung kann der Wohlstand von Dauer sein und der gesellschaftliche Frieden gewahrt bleiben. Das Nachdenken darüber kann ein Schritt auf diesem Weg sein.

Jana Swiderski
studierte Philosophie, Erziehungswissenschaften, Soziologie, promovierte über "Bildung der Bedürfnisse", war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität Berlin, lehrte als Dozentin "Sozialassistenz" und "Pädagogik" und ist derzeit Arbeitsvermittlerin in einem Berliner Job-Center.
Erziehungswissenschaftlerin Jana Swiderski
Erziehungswissenschaftlerin Jana Swiderski© Foto: Gerd Peter Huber
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