Rahel Jaeggi und Nancy Fraser: "Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie"
Suhrkamp, Berlin 2020
329 Seiten, 24 Euro
Was ist falsch am Kapitalismus?
47:17 Minuten
Finanz-, Klima- Corona-Krise: eine Krise jagt die nächste. Sozialphilosophin Rahel Jaeggi spricht von einer "multiplen Dauerkrise". Auch Kapitalismus-Kritik hat wieder Konjunktur. Was zeichnet Kapitalismus also aus und was genau macht ihn problematisch?
"Kapitalismus" – dieser Begriff war ziemlich lang ziemlich out. Er schien nach Systemkonkurrenz, nach Gewerkschaftskampf und Industriekapitalismus zu klingen. Wer in den letzten Jahren über unsere Ökonomie sprechen wollte, verlegte sich lieber auf die Rede von der "freien Marktwirtschaft". Seit kurzem aber – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Finanz- und Klimakrise – ist der "Kapitalismus" zurück in der breiten öffentlichen Debatte und mit dem Begriff auch das Nachdenken über ihn.
Eine, die schon seit langem intensiv über den Kapitalismus nachdenkt, ist die Berliner Sozialphilosophin Rahel Jaeggi. Im Mittelpunkt ihrer Forschung dazu steht die These, dass der Kapitalismus nicht nur eine Wirtschaftsweise sei, sondern eine umfassende "Lebensform": "Ausgelöst ist das von einem gewissen Zweifel daran, dass die Zähmung des Kapitalismus gelingen kann und der Vorstellung, dass man deshalb etwas tiefer hineingehen muss in die ökonomischen Praktiken selber – diese also nicht als Black Box begreifen sollte, sondern die Ökonomie als Teil des sozialen Lebens aufzufassen."
Kapitalismus als "Lebensform"
Anders als gängige liberale, aber auch viele kritische Analysen, begreift Jaeggi Gesellschaft und Ökonomie also nicht als getrennten Bereiche. Vielmehr, so Jaeggi, gelte es, die vielfältigen Beziehungen zu analysieren, die zwischen ökonomischen und anderen gesellschaftlichen Praktiken bestehen: "Es gibt politische, institutionelle Voraussetzungen, es gibt kulturelle Voraussetzungen dafür, dass ökonomische Praktiken diese oder jene Ausprägung kriegen."
Zugleich werde aber auch der Rest der Gesellschaft von den ökonomischen Praktiken mitbestimmt. Auch eine kapitalistische Ökonomie sei also – entgegen dem ökonomischen Selbstverständnis – keineswegs eine "normfreie Zone", wo allein nach Kosten-Nutzen-Kalkülen und Eigeninteresse entschieden wird. Ganz im Gegenteil sei sie "Teil der Normen, Werte und Vorstellungen darüber, wie man die Welt versteht und wie man das Leben in ihr führt."
Der Kapitalismus verschleiert sein Ethos
Deutlich werde das zum Beispiel in Debatten darüber, was überhaupt auf einem kapitalistischen Markt gehandelt werden darf: Sollen etwa auch Eizellen als Ware gelten können? Auch dass wir es als selbstverständlich erachten, dass Arbeiter ihre Körperkraft als Ware zu Markte tragen, es aber alles andere als selbstverständlich ist, den Körper für Sexarbeit zur Ware zu machen, zeige wie stark auch ökonomische Praktiken durchdrungen von gesellschaftlichen Normen und ethischen Vorentscheidungen seien. Die hier wirksamen Werturteile gelte es zu analysieren und zu diskutieren – allein: Der Kapitalismus habe eine Tendenz dazu, sein eigenes Ethos zu verschleiern, so Jaeggi.
Bestimmend für die kapitalistische Lebensform sei die Auffassung, der Raum des Ökonomischen sei ethisch neutral. Diese Verschleierung des normativen Gehalts ökonomischer Praktiken behindere die kollektive Selbstbestimmung, indem sie ihr wichtige Bereiche des Gesellschaftlichen entziehe – etwa die Frage, welche Dinge wir den Märkten überlassen wollen und welche nicht.
Die Corona-Krise als "Brennglas" des Kapitalismus
Jaeggi geht davon aus, dass Lebensformen immer Lösungen auf historisch gegebene Probleme sind. Krisenhaft wird eine Lebensform demnach dann, wenn sie auf wichtige Probleme, die sie selbst hervorbringt, keine guten Antworten geben kann.
Genau das beobachtet Jaeggi etwa mit Blick auf den Arbeitsmarkt: Formal herrscht dort Freiheit und Gleichheit. Tatsächlich aber tendierten kapitalistische Gesellschaften immer wieder zu einer "Prekarisierung" der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Jaeggi sieht darin einen der grundlegenden Widersprüche dieser kapitalistischen Lebensform und fügt hinzu: "Die Frage, ob sie die auf befriedigende Weise lösen kann, wage ich zu bezweifeln."
Auch angesichts der vielfältigen Einzelkrisen, die wir derzeit erleben – etwa hinsichtlich Wirtschaft, Klima, Demokratie – spricht Jaeggi von einer "multiplen Dauerkrise", die eine grundlegende Veränderung unumgänglich machen könnte: "Wenn man sich all diese Fragen mit Blick auf die globalisierte Welt ansieht, könnte man behaupten, wir sind hier an einem Punkt, der zu sehr großen, radikalen Transformationen führen wird – entweder zum Guten oder zum Schlechten."
Die Coronakrise wirke vor diesem Hintergrund wie ein Brennglas, das bereits existierende Probleme sichtbarer macht – etwa eine profitorientierte Unterfinanzierung des Gesundheitssystems. So wirke die Pandemie dort besonders katastrophal, "wo Gesundheitssysteme nicht vorhanden sind oder solche Allgemeingüter unter dem Motto der Marktförmigkeit sehr stark runtergespart, prekarisiert worden sind".
Wie fortschrittlich mit den Krisen umgehen?
Mit Sorge beobachtet Jaeggi, dass in den letzten Jahren vor allem rückschrittliche Kräfte aus den vielfältigen Krisen zu profitieren scheinen, die mit einfachen Antworten den Blick auf die Krisenursachen verstellten. Um solchen "regressiven Lösungen" den Wind aus den Segeln zu nehmen, müsse man ihnen einerseits öffentlichkeitswirksam entgegentreten, aber zugleich müsse man die rechtspopulistischen Vorschläge "untergraben, indem man die Krisen- und Kritikfelder selber und anders besetzt" – man dürfe den Rechten nicht das gesellschaftskritische Terrain überlassen.
Fortschrittliche Alternativen erkennt Jaeggi in all jenen Bewegungen, die derzeit kollektive Selbstbestimmung dort wieder einfordern, wo sie nicht oder nur unzureichend gegeben ist. Bewegungen etwa, die zur Diskussion stellen, was wir als Arbeit auffassen und wie wir verschiedene Formen der Arbeit behandeln; ob und wie weit wir die Umwelt zur Ware machen sollten und wie wir so wichtige Güter wie Wohnen, Gesundheit und Bildung organisieren wollen. Kurzum: Kräfte, die wieder "soziale Freiheit" dort reklamieren, wo kapitalistische Gesellschaft zunächst einmal sehr beschränkte Wahlfreiheiten anböten.
Außerdem in dieser Sendung:
Corona-Krise und Transformation: "Eine historisch einmalige Chance"
Zurück zur Normalität: Dieses Ziel leitet uns in der Pandemie. Das ist die falsche Losung, meint Svenja Flaßpöhler. Vielmehr sollten wir die Virus-Krise als Möglichkeit begreifen, gesellschaftlich umzusteuern.