"Vertrauen" ist dieser Tage in aller Munde – allerdings meist, um den Mangel daran zu beklagen: Nicht erst seit dem Terroranschlag in Hanau beschreiben Angehörige und Opfer rassistischer Anfeindungen, wie sie zunehmend das Grundvertrauen in die Gesellschaft verlieren (oder längst verloren haben). Nach der Regierungskrise in Thüringen scheint nicht nur dort das Vertrauen in die politischen Parteien und die demokratischen Verfahren selbst zutiefst erschüttert. Und in Griechenland mündet die Ablehnung einer vermeintlichen "Lügenpresse" in offene Gewalt gegen Journalisten.
Medien und Parteien in der Krise
Erleben wir also eine Vertrauenskrise? "Ja und nein", sagt der Soziologe Jan Wetzel, vom Wissenschaftszentrum Berlin – zusammen mit Jutta Allmendinger hat er jüngst den Essay "Die Vertrauensfrage. Für eine neue Politik des Zusammenhalts" verfasst:
"Man muss differenzieren: Ja, es gibt diese Krisen – man sieht das an spezifischen Fällen der Politik oder der Medien." Von einer "allgemeinen Vertrauenskrise" aber könne man nicht sprechen, im Nahbereich, also gegenüber der Familie, dem Verein oder den Nachbarn, hätten wir durchaus weiterhin Vertrauen – schließlich könne auch nur so das soziale Leben aufrechterhalten werden: "Ansonsten wäre hier Bürgerkrieg und das ist offenbar nicht so."
Ein Problem sieht Wetzel allerdings beim Vertrauen in jene Institutionen, die klassischerweise zwischen dem Leben der Einzelnen und der Politik als Ganzer vermittelten und für gesellschaftliche "Verbindlichkeit" und Austausch gesorgt hätten: Parteien und Massenmedien. Die Autorität der Medien werde durch neue Medien herausgefordert, wie etwa der Fall des Youtubers Rezo gezeigt habe. Und in Thüringen hätten die beteiligten Parteien den Eindruck erweckt, es gehe ihnen nicht um politische Auseinandersetzungen, sondern bloße "Parteispiele".
Gewalt tötet Vertrauen
Was aber ist überhaupt Vertrauen, wie kommt es zustande? Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal gesagt, ohne Vertrauen würden wir morgens gar nicht erst das Bett verlassen. Martin Hartmann, Philosoph an der Universität Luzern, der sich seit langem mit Fragen des Vertrauens beschäftigt, erläutert, was damit gemeint ist: "Wir sind in der Welt, wir bewegen uns im Alltag und zweifeln nicht daran, dass die Dinge im Großen und Ganzen so bleiben wie sie sind – das ist eine Grundstabilität, die wir brauchen."
Wie groß das Vertrauen von jemandem tatsächlich ist, könne man aber vor allem in Ausnahmesituationen feststellen, in denen der normale Lauf der Dinge unterbrochen ist und man entscheiden müsse, ob man sich weiter vertrauensvoll verhalte oder nicht. Gewalterfahrungen hingegen untergrüben fast immer das Vertrauen in die Gesellschaft: "Gewaltopfer beschreiben sehr oft, dass sie ein grundlegendes Vertrauen in den Mitmenschen verlieren und nur sehr schwer, wenn überhaupt, wiedergewinnen."
Der Luzerner Philosoph Martin Hartmann.© privat
Gegenwärtig sieht Hartmann aber auch eine grundlegende Verunsicherung alltäglicher Gewissheiten am Werk: "Unsere Ernährung, unser Verkehrsverhalten, Klimawandel – es könnte sein, dass wir deshalb so viel über Vertrauen nachdenken, weil das alles fundamental unseren selbstverständlichen Alltag in Frage stellt."
Soziologe Wetzel ergänzt, dass Vertrauen weniger ein geistiges Vermögen sei, sondern sich vor allem "in Beziehungen zu Menschen" ausdrücke und auch durch die soziale Umwelt bestimmt werde – etwa, wenn wir etwa eine Straße betreten: "Diese Straße ist ein sozialer Zusammenhang, der jeden Tag, durch das soziale Miteinander aktualisiert wird."
Vertrauen braucht Kontrolle
Vertrauen wird also, alles in allem schwieriger – aber liegt das vielleicht auch an uns selbst? Hartmann jedenfalls sieht zahlreiche Hinweise dafür, dass wir gar nicht immer vertrauen wollen: "Weil vertrauen verletzlich macht und wir Angst haben, uns verletzlich zu machen. Wir haben ein Kontrollbedürfnis." Indizien dafür sieht Hartmann etwa im Phänomen der "Helikoptereltern" oder der steigenden Nachfrage nach panzerartigen SUVs.
Und um diesem Kontrollbedürfnis nachzugehen, uns etwa in einer begrenzten Gemeinschaft "einigeln" zu dürfen, schüren wir selbst unser Misstrauen (oder lassen es bereitwillig schüren): "Es ist, als würden wir uns einreden, dass wir niemandem mehr vertrauen können, damit wir niemandem mehr vertrauen müssen."
Misstrauen ist eine "demokratische Grundtugend"
Dass wir ein Kontrollbedürfnis haben, betont auch Wetzel – er sieht aber darin keinen Widerspruch zum Vertrauen, im Gegenteil: "Vertrauen kann man nur, wenn man Kontrolle hat. So etwas wie blindes Vertrauen gibt es in der echten Welt nur sehr, sehr selten." Vertrauen und Misstrauen seien meist miteinander verbunden – auch im Bereich der Politik: "Natürlich funktioniert die Regierung nur, weil alle vier Jahre das Vertrauen entzogen wird und alle neu wählen dürfen – das ist letztlich eine Misstrauenstechnik." Ja, der ganze Rechtsstaat sei ein "Misstrauenssystem": "Sie müssen misstrauen, um letztlich Vertrauen herstellen zu können."
Der Berliner Soziologe Jan Wetzel.© David Ausserhofer
Was passiert, wenn dieses politische Misstrauen fehlt, zeigen Fälle der "offenen Lüge", auf die Hartmann verweist: "Leute wie Trump, von denen wir alle wissen, dass sie andauernd Lügen produzieren – und irgendwie weiß das jeder – und trotzdem scheinen einige Leute Trump Vertrauen zu schenken." Hier scheint also das Vertrauen in einen bestimmten Anführer so groß zu sein, dass selbst offensichtliche Lügen es nicht erschüttern können.
Demgegenüber erscheint ein gewisses Maß an "Misstrauen gegenüber dem, was Politiker sagen" geradezu als "demokratische Grundtugend", wie Wetzel betont. Allerdings stelle sich die Frage, "wie dieses Misstrauen dann wieder in Beziehungen überführt werden kann, die auf Verlässlichkeit beruhen".
Wege aus der Vertrauenskrise
Den Schlüssel dafür sieht Wetzel in Bildung und Beteiligung: Wenn etwa schon in der Schule Wikipedia-Artikel verfasst würden oder der Austausch mit professionellen Medienmachenden gesucht werde, stärke das die Einbindung und senke die Neigung zu Verschwörungstheorien. Auf diese Weise "gesamtgesellschaftliche Formen zu schaffen, in denen sich Misstrauen und Vertrauen zu einer gesunden Demokratie verbinden", hält Wetzel für zentral.
Auch Hartmann betont den konstruktiven Wert des Misstrauens: Allzu oft sei die Rede vom Vertrauen bloßes Marketing – und gerade da gebe es gute Gründe, nicht zu vertrauen – denn "gegenüber bestimmten Institutionen möchte ich gar nicht so verletzlich sein, wie ich es wäre, wenn ich vertrauen würde".
Den Vertrauensbegriff "entlasten"
In diesem Sinn plädiert der Philosoph dafür, den Begriff des Vertrauens selbst zu "entlasten", den er durch überzogene Erwartungen "völlig überfrachtet" sieht: "Ich muss meiner Bank nicht vertrauen, ich muss den Produkten, die ich benutze, nicht vertrauen – wenn sie funktionieren, dann reicht mir das schon." Erst recht gelte das für die algorithmische Welt des Internets: "Was, bitteschön, soll Vertrauen da leisten?" Hier sei vielmehr "Verlässlichkeit" gefragt: "Da wäre ich schon zufrieden, wenn man mir einigermaßen verlässlich das liefert, was ich brauche und mich nicht immer hintergeht oder betrügt."
Stattdessen müssten wir jene Bereiche bestimmen – etwa die Politik –, wo Vertrauen "wirklich wichtig ist und uns anschauen, wie es dort, wenn es denn in der Krise ist, wiederhergestellt werden kann – das ist schwer genug."
Martin Hartmann: "Vertrauen – Die unsichtbare Macht"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
304 Seiten, 22 Euro
Jutta Allmendinger und Jan Wetzel: "Die Vertrauensfrage. Für eine neue Politik des Zusammenhalts"
Dudenverlag, Berlin 2020
128 Seiten, 16 Euro
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
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