Gesellschaft in Panik
In "Theres" erzählt der Schwede Steve Sem-Sandberg das Leben der Ulrike Meinhof. Sein Dokumentarroman - gleichzeitig Panorama der bundesrepublikanischen Gesellschaft und Innenansicht der Kampfgemeinschaft RAF - stammt von 1996 und ist nun auf Deutsch erschienen.
Es ist nicht so, dass Ulrike Meinhof in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht vorkäme. Elfriede Jelinek ließ 2006 ihr Theaterstück "Ulrike Maria Stuart" uraufführen, Dagmar Leupold imaginierte 2009 ein Totengespräch zwischen Heinrich von Kleist und der Terroristin mit dem fanatischen, an Michael Kohlhaas erinnernden Rechtspathos in "Die Helligkeit der Nacht" und überdies gibt es als Standardwerk natürlich Stefan Austs Sachbuch "Der Baader-Meinhof-Komplex" von 1985.
Das ist der Kontext, in dem man den Dokumentarroman "Theres" vom 54-jährigen Steve Sem-Sandberg sehen muss. Dieses Buch stammt aus dem Jahr 1996, damals waren genau 20 Jahre seit dem Tod von Ulrike Marie Meinhof in Stuttgart-Stammheim vergangen. Dass ein Schwede sich ihrer Geschichte annahm, ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil u.a. die deutsche Botschaft in Stockholm ein Ziel des RAF-Terrors war.
Bis heute ist das Leben Meinhofs vor Mythen- und Legendenbildung, vor falscher Heroisierung nicht gefeit. Steve Sem-Sandberg erzählt es weitgehend chronologisch von den 60er-Jahren an – mit Rückblenden in ihre Kindheit. Plastisch schildert er die früh scheiternde Ehe mit Klaus Rainer Röhl, ihr Dasein als meinungsfreudige "Konkret"-Kolumnistin und Ostermarschiererin, die bei allem politischen Protest auch die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen wusste, etwa auf Sylt: "Zwischen den Appellen und Demos: Urlaub in Kampen."
Der Weg in den Untergrund verläuft in Etappen: erste Begegnung mit Baader und Ensslin (welche Pastorentochter später Meinhof mit spöttischem Unterton in Anlehnung an Theresa von Avila den Namen "Theres" geben sollte, "wie die Karmeliterin, die allein, isoliert und von ihren Gefährten im Stich gelassen hinauszog und den Katholizismus reformierte"), 1970 dann die Befreiung Baaders (der sie als "bürgerliche Fotze" und "Hexe" beschimpfte), Banküberfälle (Ulrikes Ausbeute fiel am geringsten aus), schließlich Bombenattentate, Polizisten-Morde, die Verhaftung 1972 und die Jahre in der JVA, ihr Hass auf das System "wie eine gewaltige einhüllende Glocke, in der es endlich möglich ist, sich zu konzentrieren und zu schreiben".
Sem-Sandberg vermag eindringlich darzustellen, wie eine maßgeblich von der Springer-Presse ausgelöste Massenhysterie ihr fälschlicherweise die Rolle zuschrieb, der "eigentliche Motor der Gewaltmaschinerie" zu sein. Kein Zufall, dass am Rande immer wieder eine Radio-Sendung namens "Fantastische Fakten" Erwähnung findet - Tatsachen und Fiktion vermischen sich in Meinhofs Biografie wie in kaum einer anderen. So präsentiert der Autor unter dem Motto "Geschichten. Wahr oder falsch? Bitte ankreuzen" mehrere Versionen ein und desselben Ereignisses und überlässt es dem Leser, sich ein Bild zu machen.
Manches in diesem Buch ist geeignet, Reaktionen etwa der Meinhoftochter Bettina Röhl zu provozieren, die ihrer Mutter attestiert, "nicht liebesfähig" gewesen zu sein. Sem-Sandberg zeichnet Meinhof als stets um ihre Kinder besorgt, obwohl doch sie es war, die ihre Zwillinge in einem Flüchtlingslager für palästinensische Waisenkinder aufwachsen lassen wollte (was Stefan Aust verhinderte). Glänzend gelungen ist das Porträt des heute noch lebenden BKA-Chefs Horst Herold, der sich so sehr seinen Fahndungsobjekte anverwandelte, dass er sich in seinem Wiesbadener Büro mit Bett, Computer und Büchern einbunkerte: "Sein neues Heim nennt er sein Stammheim."
So entsteht das Panorama einer ganzen Gesellschaft in Panik, die Innenansicht einer sich zerfleischenden, über Leichen gehenden "Kampfgemeinschaft", die von jedem Mitglied Kad(av)ergehorsam einforderte. Dieses Buch stellt mehr Fragen, als es Antworten gibt: Wollte Meinhof je die Ikone sein, zu der sie Linksradikale machten? War sie, als sie starb, nicht längst exkommuniziert aus der "militanten Betschwesterngemeinde" (Peter Rühmkorf) der RAF? Sem-Sandbergs kluges Buch ist alles andere als das, was mancher Film schon aus der Geschichte der RAF machte – "eine Seifenoper mit Krimikomponente".
Besprochen von Knut Cordsen
Steve Sem-Sandberg: Theres
Roman
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012
391 Seiten, 22,95 Euro
Mehr zum Thema bei dradio.de:
Retter und Teufelsknecht - Steve Sem-Sandberg: "Die Elenden von Lodz". Klett Cotta, (DLF, Büchermarkt)
Kaleidoskop der Inhumanität - Steve Sem-Sandberg: "Die Elenden von Lodz", Stuttgart 2011, 652 Seiten, (DKultur, Kritik)
Das ist der Kontext, in dem man den Dokumentarroman "Theres" vom 54-jährigen Steve Sem-Sandberg sehen muss. Dieses Buch stammt aus dem Jahr 1996, damals waren genau 20 Jahre seit dem Tod von Ulrike Marie Meinhof in Stuttgart-Stammheim vergangen. Dass ein Schwede sich ihrer Geschichte annahm, ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil u.a. die deutsche Botschaft in Stockholm ein Ziel des RAF-Terrors war.
Bis heute ist das Leben Meinhofs vor Mythen- und Legendenbildung, vor falscher Heroisierung nicht gefeit. Steve Sem-Sandberg erzählt es weitgehend chronologisch von den 60er-Jahren an – mit Rückblenden in ihre Kindheit. Plastisch schildert er die früh scheiternde Ehe mit Klaus Rainer Röhl, ihr Dasein als meinungsfreudige "Konkret"-Kolumnistin und Ostermarschiererin, die bei allem politischen Protest auch die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen wusste, etwa auf Sylt: "Zwischen den Appellen und Demos: Urlaub in Kampen."
Der Weg in den Untergrund verläuft in Etappen: erste Begegnung mit Baader und Ensslin (welche Pastorentochter später Meinhof mit spöttischem Unterton in Anlehnung an Theresa von Avila den Namen "Theres" geben sollte, "wie die Karmeliterin, die allein, isoliert und von ihren Gefährten im Stich gelassen hinauszog und den Katholizismus reformierte"), 1970 dann die Befreiung Baaders (der sie als "bürgerliche Fotze" und "Hexe" beschimpfte), Banküberfälle (Ulrikes Ausbeute fiel am geringsten aus), schließlich Bombenattentate, Polizisten-Morde, die Verhaftung 1972 und die Jahre in der JVA, ihr Hass auf das System "wie eine gewaltige einhüllende Glocke, in der es endlich möglich ist, sich zu konzentrieren und zu schreiben".
Sem-Sandberg vermag eindringlich darzustellen, wie eine maßgeblich von der Springer-Presse ausgelöste Massenhysterie ihr fälschlicherweise die Rolle zuschrieb, der "eigentliche Motor der Gewaltmaschinerie" zu sein. Kein Zufall, dass am Rande immer wieder eine Radio-Sendung namens "Fantastische Fakten" Erwähnung findet - Tatsachen und Fiktion vermischen sich in Meinhofs Biografie wie in kaum einer anderen. So präsentiert der Autor unter dem Motto "Geschichten. Wahr oder falsch? Bitte ankreuzen" mehrere Versionen ein und desselben Ereignisses und überlässt es dem Leser, sich ein Bild zu machen.
Manches in diesem Buch ist geeignet, Reaktionen etwa der Meinhoftochter Bettina Röhl zu provozieren, die ihrer Mutter attestiert, "nicht liebesfähig" gewesen zu sein. Sem-Sandberg zeichnet Meinhof als stets um ihre Kinder besorgt, obwohl doch sie es war, die ihre Zwillinge in einem Flüchtlingslager für palästinensische Waisenkinder aufwachsen lassen wollte (was Stefan Aust verhinderte). Glänzend gelungen ist das Porträt des heute noch lebenden BKA-Chefs Horst Herold, der sich so sehr seinen Fahndungsobjekte anverwandelte, dass er sich in seinem Wiesbadener Büro mit Bett, Computer und Büchern einbunkerte: "Sein neues Heim nennt er sein Stammheim."
So entsteht das Panorama einer ganzen Gesellschaft in Panik, die Innenansicht einer sich zerfleischenden, über Leichen gehenden "Kampfgemeinschaft", die von jedem Mitglied Kad(av)ergehorsam einforderte. Dieses Buch stellt mehr Fragen, als es Antworten gibt: Wollte Meinhof je die Ikone sein, zu der sie Linksradikale machten? War sie, als sie starb, nicht längst exkommuniziert aus der "militanten Betschwesterngemeinde" (Peter Rühmkorf) der RAF? Sem-Sandbergs kluges Buch ist alles andere als das, was mancher Film schon aus der Geschichte der RAF machte – "eine Seifenoper mit Krimikomponente".
Besprochen von Knut Cordsen
Steve Sem-Sandberg: Theres
Roman
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012
391 Seiten, 22,95 Euro
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Retter und Teufelsknecht - Steve Sem-Sandberg: "Die Elenden von Lodz". Klett Cotta, (DLF, Büchermarkt)
Kaleidoskop der Inhumanität - Steve Sem-Sandberg: "Die Elenden von Lodz", Stuttgart 2011, 652 Seiten, (DKultur, Kritik)