Gesellschaft

Indiens Kasten machen mobil

Anhänger des indischen Premiers Narendra Modi
Viele Anhänger des indischen Premiers Narendra Modi entstammen unteren sozialen Schichten © picture alliance / dpa
Von Sabina Matthay |
Narendra Modi, Indiens neuer Premier, will gegen die Bürokratie vorgehen. Auch sonst gerät einiges in Bewegung. Modi hat sich als Mitglied einer niedrigen Kaste nach oben gearbeitet. Diese sozialen Schichten erkennen sich in ihm wieder.
Eigentlich sprechen Inder ungern über das Kastenwesen. Das uralte soziale System der Hindus, der überwältigenden Mehrheit der Einwohner Indiens, ist besonders Angehörigen der westlich orientierten Bildungsschicht unangenehm – auch wenn sie selbst danach leben. Immer noch kann jeder Inder genau abschätzen, wer welcher Kaste angehört.
Gerade deshalb darf der Hinweis, dass der neue Regierungschef Narendra Modi einer weit unten in der Hierarchie angesiedelten Kaste entstammt, derzeit wohl in keiner Unterhaltung in den Salons von Delhi fehlen. So einer hat es also erst zum Ministerpräsidenten des indischen Bundesstaates Gujarat und dann mit traumhaftem Ergebnis zum Regierungschef des ganzen großen Landes gebracht. Ein Beweis, dass Indien in modernen Zeiten angekommen ist.
Aber das Kastenwesen ist keineswegs nur noch Folklore. Die Abgrenzung sozialer Gruppen, die Bevorzugung mancher, die Benachteiligung anderer ist nach wie vor Alltag. Das zeigen zum Beispiel die Reaktionen auf die Vergewaltigungen: Angriffe auf Ausländerinnen und auf indische Städterinnen höherer Kasten rufen Empörung hervor; über Gewalt gegen niedrigkastige und kastenlose Frauen entrüstet sich niemand. Dabei sind sie die häufigsten Opfer – in der Stadt wie auf dem Lande.
Gesellschaft ist in vier Hauptkasten aufgeteilt
Traditionell ist die indische Gesellschaft in vier Hauptkasten eingeteilt: Ganz oben Brahmanen als Priester und Lehrer, dann die Krieger und Herrscher der Kshatryas, gefolgt von Vashyas – Händlern, und der Arbeiterkaste Shudra. Ganz unten in der Hierarchie stehen Dalits, einst unberührbar genannt.
Jahrhundertelang galt dieses System als unverrückbar, regelte es die Lebensumstände jedes Einzelnen bis ins Detail: wo man lebte, welcher Beschäftigung man nachging, wen man heiratete, was und mit wem man aß und trank.
Die Hierarchie blieb qua Geburt unverrückbar, die rigiden sozialen Regeln bestimmten die Interaktion zwischen den Kasten. Noch heute muss, wer es wagt, Ehepartner oder Partnerin selbst zu suchen, gar außerhalb seiner Kaste, damit rechnen, von den eigenen Eltern getötet zu werden.
Zwar steht Diskriminierung aufgrund von Kastenzugehörigkeit unter Strafe, auf dem Lande, wo die Mehrheit der Inder lebt, sind diese Regeln aber nach wie vor in Kraft.
In den Städten wird heute gern auf die Veränderungsmacht von Bildung verwiesen, die es manchmal auch Söhnen und Töchtern von indischen Slumbewohnern ermöglicht, zu Ingenieuren und Managern aufzusteigen. Oder darauf, dass die wirtschaftliche Öffnung Indiens eine Mittelschicht hat entstehen lassen, die die alten sozialen Hierarchien angeblich ersetzt.
Es geht auch darum, Unrecht zu rächen
Staatliche Quoten für Studienplätze und Stellen im öffentlichen Dienst haben dazu ebenso beigetragen wie neue Berufsbilder, etwa in der Informationstechnologie.
Sicherlich hat Indiens neuer Premier Narendra Modi seinen Wahlsieg seinem Charisma und seiner politischen Erfahrung zu verdanken, er ist aber auch eine Bestätigung, dass das Kastenwesen weiterhin lebendig ist. Denn es sind gerade die Entrechteten und Diskriminierten Indiens, die ihr Wahlrecht in den vergangenen Jahrzehnten ausgeübt haben – auch um sich für erlittenes Unrecht zu rächen.
Längst schöpfen Parteien diese Ressentiments ab. Aller Modernisierung Indiens zum Trotz stellen also ausgerechnet demokratische Kräfte sicher, dass Kastenzugehörigkeit weiterhin als entscheidender Faktor der indischen Gesellschaft erhalten bleibt.
Sabina Matthay, geboren 1961, studierte Angewandte Sprachwissenschaft in Saarbrücken - mit Abstechern nach Exeter in England und Urbino in Italien. 1990 Einstieg in den Hörfunk beim Deutschen Dienst des BBC World Service in London. Auch nach der Rückkehr nach Deutschland und der Arbeit für verschiedene ARD-Sender ist sie dem Radio treu geblieben.
Sabina Matthay, ehemalige ARD-Korrespondentin für Südasien, jetzt freie Autorin.
Sabina Matthay, ehemalige ARD-Korrespondentin für Südasien, jetzt freie Autorin.© Deutschlandradio / Cara Wuchold
Arbeitsschwerpunkte: Politik, Geschichte, Gesellschaft Großbritanniens und seiner ehemaligen Kolonien und Mandatsgebiete - nur Afrika ist noch ein weißer Fleck auf dieser persönlichen Landkarte.
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