Gesellschaft

Inklusion als letzter Schritt der Aufklärung

Von Beate Krol |
Inklusion ist wesentlich ehrgeiziger als Integration und damit ein anstrengender Lernprozess. Doch es gibt für Deutschland kein Zurück: Es ist völkerrechtlich daran gebunden. Das Land könnte damit vor einer Zeitenwende stehen, meint die Journalistin Beate Krol.
Im Sommer lief in den Kinos ein Werbespot zur Inklusion. Darin versucht eine Kommissarin einem Mann ein Geständnis zu entlocken, doch der spielt bloß stumm mit seinen Fingern herum. Als die Polizistin wutentbrannt aus dem Verhörraum stürmt, schaltet sich ein Kollege ein, und siehe da, mit dem redet der Mann, denn der Kollege beherrscht die Gebärdensprache.
Der Verdächtige ist also gehörlos und natürlich stellt sich umgehend seine Unschuld heraus. Dazu schiebt sich der Slogan ins Bild: "Wir müssen den Alltag einfacher machen. Und das müssen wir einfach machen."
Der Spot aus dem Bundesarbeitsministerium ist gut gemacht. Die knisternde Atmosphäre, der gut aussehende gehörlose Mann, die sich langsam aufbauende Aggressivität und schließlich die überraschende Auflösung. Und doch gibt es ein Problem: Wie viele andere Kampagnen auch verniedlicht der Spot das Thema – und tut ihm damit keinen Gefallen.
Inklusion ist ehrgeiziger als Integration
Zur Wahrheit der Inklusion gehört, dass sie nicht einfach mal so zu machen ist. Inklusion ist ehrgeiziger als Integration. Ihr reicht es nicht, dass behinderte Menschen nicht ausgeschlossen werden, sondern sie sollen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Das ist ein fundamentaler Unterschied, der eine andere Haltung, andere Gesetze und eine andere Finanzierung erfordert.
Ein Beispiel: Ein junger spastisch gelähmter Mann möchte Werbegrafiker werden. In einer nicht-inklusiven Gesellschaft bleibt das ein Traum. Egal wie begabt er ist, er landet in einer barrierefreien Behindertenwerkstatt.
In einer inklusiven Gesellschaft hat er ein Anrecht auf einen persönlichen Assistenten, der nach seinen Anweisungen den Computer bedient und ihm auch beim Toilettengang hilft. Dieser Assistent wird vom Staat bezahlt, genauso wie das Herrichten eines geeigneten Arbeitsplatzes bei seinem Arbeitgeber.
Inklusion ist völkerrechtlich bindend
Oder das Ausüben von Ehrenämtern: Eine querschnittgelähmte Mutter möchte Elternsprecherin werden. In einer nicht-inklusiven Gesellschaft muss sie verzichten, weil weder Fahrstuhl noch Rampen in der Schule vorhanden sind. In einer inklusiven Gesellschaft hat sie das Recht darauf, sich einzubringen und deshalb muss die Schule barrierefrei sein.
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hat die deutsche Regierung diesem Paradigmenwechsel zugestimmt. Damit ist die Inklusion kein freiwilliger Akt, sondern völkerrechtlich bindend. Das heißt, unsere Gesellschaft muss mitmachen, muss sich ändern, wenn sie die Menschenrechte einhalten will.
Mit aufmunternden Appellen gelingt das nicht. Ebenso wenig wie mit der Taktik, die Schwierigkeiten herunterzuspielen. Auch die Vertreter der Aufklärer im 17. und 18. Jahrhundert wären nicht weit gekommen, wenn sie den Menschen nur zugerufen hätten: "Denken tut nicht weh, probier' es einfach aus!".
Wie jede größere historische Veränderung ist auch Inklusion ein anstrengender Lernprozess. Es wird zu Rückschlägen und Übertreibungen kommen. Den Alltag einfacher zu machen, macht ihn für viele erst einmal schwerer. Und das gilt sowohl für Menschen ohne als auch mit Behinderung.
Inklusion hat das Potential zu einer historischen Zäsur
Und dann sollten die Menschen auch wissen, was Inklusion bringt: Sie verhindert nicht nur wie in dem Kinospot, dass ein Mensch zu Unrecht verdächtigt wird. Inklusion vergrößert bei allen Menschen das Repertoire an Verhaltensweisen und Kompetenzen, macht den Einzelnen, seine Gruppe, ja die ganze Gesellschaft über Schwierigkeiten hinweg stärker.
Vielleicht werden künftige Historiker die Inklusion sogar als historische Zäsur begreifen – wie die Aufklärung, in deren Tradition sie steht. Sie wollte Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit befreien. Inklusion will Menschen aus nicht-verschuldeter Unmündigkeit herausholen. Das ist beileibe nicht einfach, aber es ist machbar.
Beate Krol, geboren 1968 in Osnabrück, arbeitet von Berlin aus als Journalistin und Dozentin, unter anderem in der journalistischen Ausbildung. Jugend- und Bildungsthemen sind einer ihrer Arbeitsschwerpunkte.
Beate Krol (Quelle: privat)
Beate Krol (Quelle: privat)© Privat
Für die Bundeszentrale für politische Bildung gab sie die Publikation „Zukunft der Wirtschaft – Zukunftsaussichten Jugendlicher“ (2002) heraus. Außerdem erschien bei dtv junior das Jugendsachbuch „Zu zwei, zu dritt, zusammen – Freundschaft“ (2003).
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