Literatur:
Irre! Was ist krank? Und wer gehört weggesperrt?
Wegsperren für immer! Das forderte einst Altbundeskanzler Gerhard Schröder und erntete dafür viel Beifall. Gemeint waren Straftäter, die nach § 63 StPo "eine Gefahr für die Allgemeinheit" darstellen, weil sie nicht für ihre Taten zurechnungsfähig sein sollen.
Richter entscheiden darüber nach Maßgabe von psychiatrischen Gutachtern, ob und wie lang jemand in der forensischen Psychiatrie buchstäblich weggesperrt wird. Und dann? Dank des spektakulären Falls Gustl Mollath ist die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Zu fragen bleibt, welche Interessen hinter dieser Klassifizierung von "normal" und "krank", gesellschaftskonform und gesellschaftsschädlich stehen. Was ist zu tun, um solch einen Irrsinn zu vermeiden?
Manuskript zur Sendung:
Einhell: "Eine schreckliche Geschichte! Eine überaus schreckliche Geschichte!"
Die Geschichte von Franz Xaver Einhell ist die Geschichte von 19 Jahren Psychiatrieerfahrung im sogenannten Maßregelvollzug:
Einhell: "Ja, fürchterlich. Fürchterlich, kann ich bloß sagen. Alles seelisch grausam. Wie soll ich das nur erklären. Ich bin viel zu lange unnötig weggeschlossen gewesen."
Franz Xaver Einhell wurde 1995 wegen exhibitionistischen Verhaltens zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. Er hatte mit seinem Geschlechtsteil dreimal eine Gruppe 13- bis 17-jähriger Mädchen, so steht es im Urteil, "verschreckt" und "verstört". Die Einweisung in die forensische Psychiatrie wurde mit folgendem Satz begründet:
"Die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen, war … durch eine Störung seines Sexualtriebs erheblich gemindert."
Und weiter:
"Es besteht die Erwartung, dass der Angeklagte infolge seiner Krankheit weiterhin Straftaten begehen wird. Er ist daher für die Allgemeinheit gefährlich. … Seine krankhafte Neigung kann nur in einem psychiatrischen Krankenhaus geheilt werden, sodass er für die Dauer der Behandlung unterzubringen ist, § 63 StGB."
Da er in den Jahren zuvor bereits einschlägig verurteilt worden war, stellte der psychiatrische Gutachter bei ihm eine "Borderline-Persönlichkeitsstörung" fest und eine "seelische Abartigkeit", deretwegen eine "verminderte Schuldfähigkeit" in Frage komme, und das hieß, nicht für ein Jahr und sechs Monate ins Gefängnis, sondern zeitlich unbefristet gemäß § 63 StGB: Maßregelvollzug.
Einhell: "Den größten Teil meiner langjährigen Mainkofener Maßregelvollzugsgewahrsnahme war ich in den ersten 14 Jahren überwiegend in Drei- und Viermannzimmerkemenaten untergebracht. Da hab ich dann am Anfang Androcur-Spritzen bekommen, dann weiteres Mal Leogen-Spritzen, dass meine Potenz dadurch etwas abgeflacht worden wäre. Ein Gutachter bei Gericht in Passau, ein gewisser Oberarzt Espert, hat er geäußert, Herr Einhell, wenn Sie sich die Androcur-Spritze geben lassen, dann wollen wir Sie schnell wieder entlassen. Das war reiner Bluff, ja."
10.000 Männer im "Maßregelvollzug"
Über 10.000 Männer und 700 Frauen sind in den alten Bundesländern im "Maßregelvollzug" untergebracht, wozu auch rund zweieinhalbtausend suchtkranke Straftäter zählen. Etwas über 80.000, auch hier beträgt der Anteil der Frauen nur sechs Prozent, sitzen im "normalen" Strafvollzug ein. Im §63 heißt es:
"Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist."
Müller: "Diese Idee, dass der Mensch eingesperrt wird, ist nicht eine, die nur in bestimmten Zeiten aktuell wäre, die auch nicht in bestimmten Weltregionen ist, diese Idee ist natürlich universell. Wie das jetzt im System verankert wird, wie das konstruiert wird, das ist natürlich von Weltregion zu Weltregion verschieden, und hier hat man das auch bis 1933 in Deutschland anders geregelt gehabt."
Erklärt der Rechtswissenschaftler Professor Henning-Ernst Müller von der Universität Regensburg. Tatsächlich ist 1933 unter den Nazis das Gesetz "gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher" sowie "Maßregeln der Sicherung und Besserung" erlassen worden. Aber, so Professor Müller:
"Es wird heutzutage nicht als typisches Nazi-Unrecht angesehen. Ist aber auch nicht ganz zufällig, dass die Nazis diese Regelung eingeführt haben, die schon in den 20er-Jahren in der Weimarer Republik diskutiert wurde."
Der heutige § 63 StGB trägt einen Widerspruch in sich, der in einem demokratischen Rechtsstaat schwer auflösbar scheint, aber für beide Seiten rechtsstaatlich vereinbar sein muss. Auf der einen Seite die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Individuums, die ihm auch seine Eigenverantwortlichkeit lässt. Auf der anderen die Sicherheit der "Allgemeinheit" und ihr Schutz vor einem nicht zurechnungsfähigen Straftäter, der dadurch vom Handelnden zum Behandelten mutiert. Der Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate, der den die Öffentlichkeit aufrüttelnden Fall des in der forensischen Psychiatrie zu Unrecht über sieben Jahre eingesperrten Gustl Mollath vertritt.
Strate: "Das Konzept geht ja dahin, dass natürlich erstmal die Schuldfähigkeit jedes Menschen, seine Freiheit, sich für das Recht oder gegen das Recht zu entscheiden, unterstellt wird. Die Anerkennung dieser Freiheit ist auch die Anerkennung der Würde des Menschen. Das andere ist die Ausnahmesituation, dass man aufgrund auch ärztlicher Begutachtung in der Regel durch Psychiater feststellt, dass man in seiner Fähigkeit, sich frei zu entscheiden, eingeschränkt ist aufgrund bestimmter psychischer Krankheiten. Das ist ein Vorgang, der meines Erachtens das Prinzip der Menschenwürde nicht in Frage stellt. Es gibt Menschen, die in der Tat wirre sind und auch nicht fähig sind, sich klar zu verorten in ihrer Umwelt."
Das generelle Problem des §63 sei aber vielmehr, so der renommierte Strafverteidiger Gerhard Strate, dass es keine Maßstäbe für "erhebliche" Anlasstaten gibt, dazu käme eine oft mangelnde Sorgfalt, mit der solche Verfahren durchgeführt werden:
"Das ist mehr eine Frage der Einstellung, der Güte des Personals, mit dem wir sozusagen zu tun haben in der Justiz."
Die zweifelhafte Macht der psychiatrischen Gutachter
Jede Straftat kann also nach § 63 StGB forensisch beurteilt werden, wenn Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Wer aber stellt fest, welche psychiatrische "Störung" vorliegt? Wer befindet über welche "Therapie" im Maßregelvollzug? Wer entscheidet, ob von dem "Probanden", also dem "gefährlichen" Psychiatriepatienten, keine "Gefahr" mehr ausgeht? Letztendlich entscheiden die Richter, die Urteile fällen und Beschlüsse fassen. Aber eigentlich entscheidend sind die psychiatrischen Gutachter. Sie sind verantwortlich für die Diagnose, die Therapiemaßnahmen und die Prognose bei den jährlichen Überprüfungen der "Gefahr für die Allgemeinheit". Strafverteidiger Gerhard Strate:
"Die Psychiatrie, da gibt es einen großen Bereich des Kaffeesatzlesens. Wenn ich die psychiatrischen Gutachten lese, dann ist es zum Teil ein recht wirrer Sprachgebrauch, der mit einer üblichen Handhabung der deutschen Sprache kaum was zu tun hat. Die Gutachten, die zum Fall Mollath vorgelegt waren, vor allem das Eingangsgutachten, da ist an keiner Stelle etwa überprüft worden, in welchem Umfang die angeblich psychische Erkrankung meines Mandanten auf sein Handeln zu den Tatzeiten, die zum Zeitpunkt der Begutachtung fünf Jahre zurück lagen, körperliche Auseinandersetzungen zwischen Eheleuten, wie diese psychische Erkrankung dort sich ausgewirkt haben sollte. Das ist einfach frei unterstellt. Das grenzt schon an Falschbegutachtung, und ein Gericht, das sich auf derart windige Gutachten stützt, das ist natürlich hoffnungslos verloren."
Natürlich sind auch Richter nicht vor Irrtümern gefeit, betont die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, und Richterin am Oberlandesgericht München, Andrea Titz. Aber sie sieht weder die richterliche Unabhängigkeit in Gefahr noch deren verantwortungsvollen Umgang mit psychiatrischen Gutachten:
"Das bedeutet natürlich auch, dass ich ein Mindestmaß an Verständnis für die entsprechende Terminologie aufbringen muss, für die entsprechenden Klassifikationen aufbringen muss, und da muss jeder einzelne Richter auch sich selbst in die Pflicht nehmen und muss sich soweit auf den Stand bringen, dass er in der Lage ist, das nachzuvollziehen. Andererseits ist natürlich das Wesen des sachverständigen Gutachtens, dass der Richter, auch wenn er sich noch so weit fortbildet, er doch nicht die volle Kenntnis haben kann, so wie sie ihn ein Mediziner nach einem abgeschlossenen Studium haben kann."
Keine Zeit für Ethik und Verantwortung?
Wenn sich Richter nochmal auf den aktuellen Stand bringen möchten, können sie sich die 2012 erschienenen, neun vom Deutschen Richterbund ausformulierten "Thesen zur richterlichen Ethik" durchlesen, die, Seite für Seite, von "Menschlichkeit" und "Verantwortungsbewusstsein" über "Integrität" und "Gewissenhaftigkeit" bis hin zu "Mut" abgehandelt werden. Oder sie können gleich eine Fortbildung an einer Richterakademie besuchen - wenn sie denn Zeit und Lust dazu haben.
Wie aber soll das gehen bei der auch bei der Justiz üblichen Arbeitsüberlastung? Schon im Studium geht es nur noch um Leistungspunkte und beste Noten. Da fallen Ethik und Verantwortung, für die es keine Punkte gibt, schon mal hinten runter. Wenn also von der "sorgfältigen richterlichen Prüfung" die Rede ist, gibt Professor Henning-Ernst Müller, der neben seiner Forschung am Lehrstuhl der juristischen Fakultät der Universität Regensburg auch aus- und fortbildet, zu bedenken:
"Jeder, der in irgendeiner Weise in einer solchen Bürokratie arbeitet, ist daran interessiert, möglichst seine Akten geschwind vom Tisch zu bekommen und wird den Weg des geringsten Widerstands gehen, das ist einfach menschlich. Wo ich wirklich ein falsches Verständnis sehe, dass sich bei weitem nicht alle, aber viele Richter als verlängerter Arm der Strafverfolgungsbehörden sehen, dass sie mehr oder weniger dafür da sind, das abzusegnen, was ihnen vorgelegt wird, und weniger als eine unabhängige Kontrollinstanz, die mindestens ebenso den angeklagten Bürger im Auge hat und dessen Rechte garantieren muss. Von einem Richter kann man nicht verlangen, dass er sich mit jeder Sache intensiv stundenlang beschäftigt, wenn er dafür im Grunde nur zehn Minuten brauchen darf, aber das ist so das, wohin das tendiert."
Man sollte meinen, dass nach dem öffentlichen Aufruhr um den Fall Mollath der §63 StGB auf dem im April stattfindenden 21. Deutschen Richtertag in Weimar auf der Tagesordnung stünde. Weit gefehlt . Man kommentiere und diskutiere nicht Urteile der Kollegen, erklärt Andrea Titz den Korpsgeist unter den etwa 15.000 Richtern und den auch im Deutschen Richterbund organisierten Staatsanwälten. Haben es Richter nicht ohnehin schwer, wenn Sie im Sinne der öffentlichen Erregung "unpopuläre" Entscheidungen treffen? Also jemanden aus der forensischen Psychiatrie entlassen, der sofort wieder eine Frau vergewaltigt? Oder - wie im Fall Mollath - jemanden über Jahre grundlos drin lassen? Egal, wie, immer sei "die öffentliche Empörung riesengroß", stellt die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Richterbundes fest:
"Eine ganz schwierige Entscheidung, die der Richter zu treffen hat, wo er sich als Grundlage zwingend eines psychiatrischen Gutachtens bedienen muss, das ist natürlich nicht sein einziger Maßstab, aber doch einer seiner Maßstäbe sein muss, weil niemand den Verurteilten, beziehungsweise den Untergebrachten so gut kennt wie der Psychiater, der ihn auch behandelt."
Die Gutachten basierten nach Aussage von Franz Xaver Einhell auf halbstündigen, manchmal auch dreiviertelstündigen Befragungen, die entweder von Assistenten oder Oberärzten der Klinik vorgenommen wurden. Außer der starken, wechselnden Medikamentierung gab es im Laufe der Jahre auch so etwas wie eine Gesprächstherapie, bei der dem "Probanden" aber wohl nicht klar gemacht wurde, was deren Sinn sein sollte.
Einhell: "Die bayerische forensische Ärzteschaft wollten in erster Linie nur ihr Konzept verwirklichen. Aber wie es dem Probanden da innerlich zumute ist, da können sie sich ja kaum innerlich einfühlen, weil sie mussten ja keine solche Salvacylspritze nehmen. Aber das Eigentliche vom Probanden, um da zu einer Lebensfreude zu kommen, das hat natürlich keiner angefasst."
Die "Bibel der Psychiater": DSM
Um eine "krankhafte Störung" feststellen zu können, benutzen Psychiater, Psychologen, Gutachter in der Regel das DSM, "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders", also das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen, herausgegeben von der American Psychiatric Association, und das von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebene, fast identische ICD, "International Classification of Deseases". Ein Katalog zur Definition und Ausdifferenzierung der Abartigkeit, Grundlage für psychiatrische Gutachten und therapeutische Maßnahmen. Sexuelle Störungen, Angststörungen, dissoziative Störungen, Störungen der Impulskontrolle und so weiter und so fort. Über 1000 Seiten. Obwohl sich das DSM, auch in der Forschung maßgeblich, meist auf rein symptomatische Beschreibungen psychischer Leiden beschränkt und seine Checklisten nicht nach deren Ursachen fragen, gilt es als "Bibel der Psychiater", auch in Deutschland. Der Psychiater, Gutachter und Lehrbuchautor Professor Hans-Ludwig Kröber, der das Forensische Institut an der Berliner Charité leitet:
"Dass das DSM in Deutschland überhaupt wahrgenommen wird, ist eine Entwicklung der letzten 20 Jahre. Eigentlich nur deswegen, weil die Amerikaner als erste diese methodische Neuerung vorgenommen haben, eine operationalisierte Diagnostik eingeführt haben, dass für jede Diagnose verbindliche Kriterien festgelegt wurden. Wenn es dann auch rechtliche Konsequenzen hat, ist dann eine operationalisierte Diagnostik ein zusätzlicher Schutz davor, dass man Fehldiagnosen stellt."
ICD und DSM bilden also das Gerüst, wonach der psychiatrisch kranke Mensch eingepasst wird und behandelt werden kann. Damit alle über dasselbe reden: Die Krankheitsbilder passen auf die Diagnosen, die Diagnosen passen auf die Therapien, die wiederum auf die Medikamente, und die passen zum Abrechnungsmodus mit den Krankenkassen. Wer die Definitionsmacht hat, hat die Marktmacht. Um die wird heftig gestritten. Es geht um Konkurrenz im psychiatrischen Versorgungssystem, wie Professor Hans-Ludwig Kröber am Beispiel "Spielsucht" erzählt:
"Das war die eine pressure group, die wollte die Spielsucht wie Alkoholismus und andere Stoffsuchten behandelt haben, damit sie diese ganzen Leute auch in ihren Suchtkliniken behandeln konnten. Also dass man nur eine weitere Station aufmacht, neben der Alkoholiker- und der Junkie-Station ne Station für Spielsüchtige. Und die anderen wollten das in ihren verhaltenstherapeutischen Kliniken haben, das sind unsere Leute! Das ist keine Sucht, sondern das ist eine Zwangskrankheit, und dann haben die drum gekämpft, wo das pathologische Spielen denn platziert wird. Gelandet ist es unter einer Eigenkategorie: Störung der Impulskontrolle, und da ist dann Pyromanie und Kleptomanie und Trichotillomanie, und bisher hat man das da auch nicht so richtig weggekriegt."
"Geheilt" ist dann jemand, wenn das Prognosegutachten ergibt, dass der "Proband" mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr krankhaft und deshalb unzurechnungsfähig eine Straftat begehen könnte. Nur, wer wollte bestreiten, dass Medikamente auf jeden Fall Wirkung zeigen, sicher auch Nebenwirkungen, die aber nicht unbedingt sein Verhalten, zu dem die Straftat geführt hatte, ändern?
"Da wär ich ja bald durchgedreht"
Nachdem das jährliche "Prognosegutachten" routiniert eine Entlassung verhinderte, versuchte der "Proband" Einhell nach Jahren der Deprivation, durch einen Antrag in einer anderen Klinik auf ein Zimmer für sich allein so etwas wie Privatsphäre für sich zu bekommen. Zweimal wechselte er so kurzfristig die Klinik, was ihm das Leben aber nicht leichter machte:
"Und dann hab ich bei meinem eineinvierteljährlichen, weiteren letzthin Maßregelvollzugsaufenthalt im Isar-Amper-Klinikum München-Haar, habe ich mich dann doch noch wieder solidarisch gezeigt. Von einem dortigen Stationsarzt Dr. Benz, der hat mir das mehrmals empfohlen, hab ich mich einer zweimaligen, jeweils vierteljährlichen Salvacylspritzen-Indikation, potenzhemmenden Salvacylspritzen-Indikation auf freiwilliger Basis unterzogen. Das war für mich die Hölle. Ich bin ja dadurch noch totunglücklicher geworden. Da wär ich ja bald, kann man sagen, durchgedreht."
Die Planung der Behandlung der "Probanden" im Maßregelvollzug, die Durchführung der Therapie, eventuelle "Lockerungen" wie die Genehmigung von Besuch oder der Spaziergang an der frischen Luft auf dem abgesperrten Gelände, die Beurteilung des Therapieerfolgs, das alles ist der Klinik überlassen und nicht gesetzlich geregelt, führt Professor Müller aus:
"Das gibt ne große Macht, unkontrollierte Macht, weil entweder die Patienten keine Chance haben, einen Rechtsweg gegen eine Maßnahme einzuleiten oder auch gar nicht die Kompetenz dazu haben. Anders als jetzt die Strafgefangenen, wo es einen Rechtsweg gibt, wo sie einen Antrag auf gerichtliche Entscheidungen stellen können, wo es noch eine gewisse Kontrolle gibt über das, was in einer Anstalt passiert. Das ist in den forensischen Kliniken nicht der Fall. Man kann sagen, in gewisser Weise ist das ein rechtsfreier Raum."
17 Prozent der Untergebrachten im Maßregelvollzug stammen aus der allgemeinen Psychiatrie, weil sie dort etwas "angestellt" haben. Und wer nicht den Erwartungen des Personals in der forensischen Abteilung entspricht, hat auch schlechte Karten.
Einhell: "Mit dem damaligen Stationsarzt Dr. Benz, da kam es mal zu einer leichten Meinungsverschiedenheit, da hat er mir gesagt, ja, Herr Einhell, da bleiben Sie noch weitere 16 Jahre hier."
Franz Einhell hat seinen Beruf als Landwirt gern ausgeübt. Er besaß einen stattlichen Bauernhof, der, als er in den Maßregelvollzug kam, eilig von seiner geschiedenen Frau verkauft wurde. Arbeiten durfte er aber auch im Maßregelvollzug:
"So Teile zusammenschrauben, mechane, metallische Teile zusammenschrauben. In der Kelleretage des berüchtigten Hauses C8. Im Monat bin ich schon mal auf 100/120 Euro gekommen. Da musste ich aber wöchentlich ganztags arbeiten, für verschiedene Auftraggeber, verschiedene Firmen da in dem Umland von Mainkofen und Deggendorf, ja."
"Populär, Leute wegzusperren"
In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der "Untergebrachten" in den forensischen Kliniken fast verdreifacht, weil in der Justiz ein Paradigmenwechsel vom "Schuldstrafrecht" zum "Präventionsstrafrecht" stattgefunden hat. Der Psychiater, Gutachter, Lehrbuchautor und Leiter der Forensischen Psychiatrie in der Psychiatrischen Klinik an der Universität München, Professor Norbert Nedopil, erklärt die politischen Vorgaben für seine Gutachter-Zunft:
"Ich weiß noch, wir haben 1997 hier in München eine Tagung gehabt und davor gewarnt und haben diesen Anstieg auch vorhergesehen, weil es sozusagen populär war, Leute wegzusperren, und weil es populär geworden ist, Sicherheit als oberstes Gebot zu nehmen in der Politik. Die Arbeit hat sich verändert dahingehend, dass wir in den 80er-Jahren so drei Prognosegutachten in dieser Abteilung gemacht haben im Jahr, drei. Heute sind es über 60, nur für München, nur in dieser Abteilung."
Ob er das nötig habe, sich "mit dem Krusch da abzugeben", zitiert Professor Nedopil sein Umfeld. Ob sie, die Psychiater in der Forensik, "nichts Besseres zu tun hätten, als sich mit dem Abschaum der Gesellschaft zu befassen". Professor Norbert Nedopil weist darauf hin, dass die Spezialisierung auf die forensische Psychiatrie eine relativ junge Disziplin ist, und mit dem "Sicherheitsaspekt" sich sowieso die Gewichtung verschoben hat. Vor allem die Furcht vor Negativschlagzeilen setze den Gutachtern zu:
"Also, dieses Prognose-Gutachten-Machen ist eine neue Geschäftsgrundlage unseres Handelns, das ist richtig ein Wirtschaftszweig geworden. Da gibt es auch viele, die mit der Unsicherheit, die bei Prognosen immer besteht, natürlich auch ihre eigene Sicherheit bedenken, ich will ja nicht in der Zeitung stehen. Hört man gelegentlich auch bei Gericht."
Nicht nur Gutachter und Richter, auch Politiker sind auf eine "gute Presse" bedacht. Und auf Volkes Stimmung, die Gerhard Schröder während seiner Kanzlerzeit 2001 nach mehreren spektakulären Fällen von Kindesmissbrauch und -tötung so aufgegriffen hat:
"Wegschließen! Und zwar für immer!"
Müller: "Gerade mit dem Strafrecht wird viel Politik betrieben, symbolische Politik betrieben. Strafrecht ist relativ günstig, erstens, es kommt gut an, wir tun etwas. Und zweitens kostet es uns unmittelbar auch kein Geld. Es kostet eben langfristig viel mehr Geld, die Unterbringung nach § 63 StGB ist natürlich durch die medizinische Betreuung, Behandlung, wesentlich teurer als etwa ein Platz in der Strafvollzugsanstalt."
Es ist nicht nur viel teurer, wie der Rechtswissenschaftler Henning-Ernst Müller sagt. Es tangiert auch unseren Rechtsstaat. Politik muss zwar wahrnehmen, wie Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern sind, findet die zweimalige Bundesjustizministerin der letzten beiden Regierungskoalitionen aus CDU/CSU und FDP, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:
"Aber Wenn die Mehrheit in unserer Bevölkerung sagen würde, wir wollen jetzt die Todesstrafe haben,darf die Politiknicht darauf reagierenund sagen, wir führen jetzt die Todesstrafe ein. Sie müssen nicht um jeden Preis diese Stimmung auch bedienen. Dann würde in manchen Bereichen aufgrund einer momentanen Stimmungslage eine ganz andere Gesellschaft erzeugt. Was ist denn die Grundlage unseres Zusammenlebens? Warum haben wir denn die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Artikel 1 reingeschrieben? Doch nicht nur, damit es sich gut liest! Sondern damit auch dann danach die Politik und die Gesetzgebung und das Zusammenleben mit gestaltet wird."
Aufgerüttelt durch die Berichterstattung im letzten Jahr über den Fall Mollath, hat die damals amtierende Bundesjustizministerin innerhalb kürzester Zeit ein fundiertes, siebenseitiges Papier zu "Reformüberlegungen zum §63 StGB" erarbeiten lassen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger umreißt die Kernpunkte der Reform:
"Das ist einer der entscheidenden Punkte, diese an die Prognose höheren Anforderungen auch durch materielle Vorgaben zu setzen. Aber es kommen die anderen dazu. Wie ist das mit der Begutachtung. Wann ein Gutachter, wann zwei Gutachter. Wie ist das mit einer zeitlichen Befristung der Unterbringung generell. Und ich würde die erste Befristung schon mal deutlich bei vier Jahren fest machen und nicht bei zwölf oder fünfzehn. Aber es geht dann auch darum, wann wird die erste Prognoseentscheidung nochmal überprüft."
Sind die Politiker überfordert?
Jetzt ist wieder Parteienprofilierung, beziehungsweise das Herumlavieren mit dem § 63 angesagt. Die fünf dürren Sätze in der Berliner Koalitionsvereinbarung sind ja nur eine sehr allgemeine Absichtserklärung. Sind die Politiker vielleicht einfach auch überfordert?
Leutheusser-Schnarrenberger: "Die Politiker sind nicht überfordert. Sie müssen sich den Herausforderungen stellen. Das Wichtigste ist, dass man diese Auseinandersetzung führt, auch öffentlich. Natürlich ist da auch ein hohes Verhetzungspotential. Da kann man dann auch einen Politiker beleidigen, der eben die Haltung hat, wir haben die Verantwortung, Menschen nicht zu Unrecht wegzusperren. Da kommt dann mal eine Breitseite. Ja, das muss ein Politiker aushalten, deshalb wird er ja für vier Jahre gewählt, ne stärkere Verantwortung wahrzunehmen als ein Mitglied unserer Gesellschaft."
Abschaffen will den § 63 niemand. Alle sind einverstanden mit Art und Inhalt einer "Therapie", Verhaltensweisen durch Medikamente zu verändern. Keiner weiß so richtig, worin eigentlich die Qualifikation von Gutachtern besteht? Abgesehen davon, dass solch eine Debatte in der Zuständigkeit des Gesundheitsministeriums liegt und nicht in der des Justizministeriums, wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erläutert:
"In der Reform wird natürlich die Anforderung, dass jemand nicht zurechnungsfähig ist, erhalten bleiben. Es wird in dieser Reform nicht die Frage aufgeworfen, wie wird generell die Unzurechnungsfähigkeit gestellt, oder darf es sie gar nicht geben, oder sollen die Auswirkungen generell in unserem Rechtssystem anders sein."
Freiheit nach fast zwei Jahrzehnten in der Psychiatrie
Als 2010 als vorläufig letzter Anwalt Hans-Jürgen Hellberg in Niederbayern den Fall Einhell übernahm, hielt der Klinikchef in Mainkofen ihn immer noch für gefährlich. Tatsächlich wurde Einhell mit den Jahren immer zorniger "auf den Freistaat Bayern", dem er die Schuld an seinem Unheil gibt. Aber sonst? Die Klinik warnte vor der Entlassung, der Proband sei - nach fast zwei Jahrzehnten in der forensischen Psychiatrie - extrem "hospitalisiert". Dennoch, gestärkt durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012, das ein "Restrisiko" bei einer Entlassung aus dem Maßregelvollzug für angemessen hielt, erreichte Rechtsanwalt Hellberg über den Passus der "Verhältnismäßigkeit" mit einem weiteren externen Gutachten, dass der nunmehr 66-jährige Franz Xaver Einhell am 30. November 2013 plötzlich in Freiheit war.
Einhell: "Das war für mich ein Schock. Wie wenn man von der Nacht in den Tag übertritt. Das ist eine gewaltige psychische Umstellung."
Mit Bewährungsauflagen: fünf Jahre lang unter Führungsaufsicht. Einmal im Monat bei der Polizei melden. Dreimal im Monat in der Klinik vorstellig werden. Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen. Verbot, Kindergärten, Spielplätze, Schwimmbäder und Schulen aufzusuchen. Verbot, den Landkreis zu verlassen. Fußfessel. Dabei wünscht er sich die ganze Zeit nichts sehnlicher als eine Frau.
Wegschließen! Und zwar für immer?
Staatsversagen auf höchster EbeneHerausgegeben von Sascha Pommerenke und Marcus B-Klöckner204 Seiten, Westend Verlag Frankfurt a.M., 2013Die Affäre Mollath: Der Mann, der zu viel wusste,Von Uwe Ritzer und Olaf Przybilla240 Seiten, Droemer Verlag 2013Mord - Geschichten aus der WirklichkeitVon Hans-Ludwig Kröber154 Seiten, Rowohlt Verlag 2012