Anna Schneider, Jahrgang 1990. Studium der Rechtswissenschaften und Kunstgeschichte in Wien. Von 2014 bis 2017 war sie Referentin für Verfassung und Menschenrechte im Parlamentsklub der NEOS. 2017 war Schneider Gründungsmitglied des österreichischen Medien- und Rechercheprojekts "Addendum", ab 2019 Redakteurin im Berliner Büro der "NZZ". Seit Juni 2021 ist sie Chefreporterin bei "Welt". Ihr Buch "Freiheit beginnt beim Ich" erscheint im November.
Maggie Thatcher hatte recht
Maggie Thatchers Zitat von der nicht existenten Gesellschaft wird noch heute mit moralischer Abscheu begegnet. Doch Journalistin Anna Schneider meint: Sie hatte recht! © Getty Images / Jasmin Merdan
Es gibt nur Individuen, keine Gesellschaft
Staat, Gesellschaft, solidarisches Wir – das sind in Krisenzeiten die Hauptadressaten für Hilferufe. Doch Maggie Thatchers Satz aus dem Jahr 1987 sei immer noch zutreffend, meint Journalistin Anna Schneider: "So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht."
Im März dieses Jahres meldete sich der damals noch amtierende britische Premierminister aus seiner Coronaisolation zu Wort, wohl um den Briten ein wohliges Gefühl der Geborgenheit einzuflößen. Wer könnte es ihm verdenken? Die Coronapandemie habe bereits bewiesen, so Johnson, dass es so etwas wie die Gesellschaft wirklich gebe. Diese seine Worte konnten eigentlich nur als Ode an den menschlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten gemeint sein.
Schön. Oder?
Ein Schelm, wer diesen Zeilen nicht nur Positives entnimmt. Doch bei näherer Betrachtung fällt das schwer. Denn dass Johnson mit seiner Aussage ein berühmt-berüchtigtes Zitat seiner Vorgängerin Margaret Thatcher in sein Gegenteil verkehrte, erzählt mehr über die anti-individualistischen Tendenzen der Coronazeit, als einem lieb sein kann.
Gesellschaft ist ein Konstrukt
Nach wie vor wird Thatchers „There is no such thing as society“ mit moralischer Ablehnung begegnet, ja mit Abscheu vor kaltherzigen neoliberalen Ideen und rücksichtslosem Egoismus.
Alles daran ist falsch.
So etwas wie eine Gesellschaft gebe es nicht, sagte Thatcher also 1987 in einem Interview. Dieser Satz klebt bis heute an ihr – was ihr wohl gefallen würde! Und aufgrund bereits erwähnter Abwehrreflexe mag es zunächst nachvollziehbar erscheinen, dass diese Aussage auf große Empörung stieß und noch immer stößt. Dabei ist sie bereits in ihrer Knappheit eigentlich nur eins - und zwar korrekt.
Die Gesellschaft ist ein soziales Konstrukt, Menschen sind immer mehr als die stumpfe Masse, derer sie durch Bezeichnungen wie „die Gesellschaft“ zugerechnet werden sollen. Sie sind Individuen, und nur sie allein können denken, handeln und frei sein. Das alles kann das Kollektiv nicht. Insofern gibt es keine Gesellschaft, es gibt immer nur Individuen. Wir leben schließlich nicht im Sozialismus.
Wer davon noch nicht überzeugt ist, sollte sich mit dem restlichen Thatcher-Interview auseinandersetzen, was leider viel zu selten geschieht. „Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien“, sagte sie. „Keine Regierung kann etwas tun, außer durch Menschen. Und die Menschen müssen zunächst einmal auf sich selbst achten.“
Verantwortung geht von Individuen aus
Thatcher sagt damit nicht, dass jeder nur auf sich selbst achten solle. Der Punkt ist vielmehr, dass nur derjenige sich auch um andere kümmern kann, der mit sich selbst im Lot ist, also für sich selbst Verantwortung übernimmt. Daher ist man notwendigerweise zunächst für sich selbst und seine Familie verantwortlich, was nicht bedeutet, dass man nicht auch anderen hilft, damit diese sich wiederum ebenfalls um sich selbst kümmern können.
Bei jeder menschlichen Interaktion stehen sich also stets reale Individuen gegenüber, es geht niemals um eine abstrakte Einheit, der man die Verantwortung für eigenes Unvermögen zuschieben könnte. Insofern sollte man Thatchers Aussagen als das verstehen, was sie sind: Harsche Kritik am Anspruchsdenken des Nannystaates, der den Einzelnen nolens volens in die Selbstvergessenheit und Abhängigkeit zwingt.
Angesichts der Tatsache, dass liberale Demokratien auf den Rechten von Individuen – und eben nicht von Kollektiven – beruhen, ist diese ganz grundsätzlich individualistische Sichtweise alles andere als unangebracht oder gar unmoralisch. Es ist eine ziemlich präzise Definition des mündigen Bürgers, der zu widersprechen auf die Negierung von Eigenverantwortlichkeit hinauslaufen würde. Womit wir wieder bei Johnson und Corona wären. Wer schon davor nicht daran geglaubt hat, dass es die Gesellschaft gibt, wird das auch nun nicht glauben, da die Pandemie in ihren letzten Zügen liegt. Weil es dafür schlicht keine Notwendigkeit gibt.