Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Wir dürfen Geflüchtete nicht nach Herkunft bewerten

Flyer mit Informationsmaterial und Willkommensgrüßen auf Ukrainisch liegen auf einem Tisch aus.
Die Hilfsbereitschaft, die wir aktuell für Ukrainer haben, sollten wir auch gegenüber anderen Geflüchteten jeglicher Herkunft aufbringen, fordert die Psychologin Deborah Schnabel. © Getty Images / Omer Messinger
Ein Einwurf von Deborah Schnabel |
Groß ist die Unterstützung für Menschen aus der Ukraine. Aber genau das werfe auch Zweifel am Zustand unserer Gesellschaft auf, meint die Psychologin Deborah Schnabel: Weil Geflüchtete anderer Herkunft auf gleiche Hilfe oft schon sehr lange warten.
Mehr als eine halbe Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Die Hilfsbereitschaft ihnen gegenüber ist groß, auch der Staat zeigt sich großzügig: Sie bekommen unbürokratisch Hilfe, dürfen arbeiten und studieren.
Hier werden endlich die richtigen Maßnahmen ergriffen, auf die Geflüchtete aus anderen Ländern wie Syrien, Eritrea und Afghanistan noch immer warten. Das sorgt für Spannungen und Frustration. Betroffene, Einrichtungen der Geflüchtetenhilfe, Schulen, Kitas oder Vereine fragen sich, wie das zu bewältigen ist.

Debatte über Integrationsfähigkeit und Identität

Umgekehrt meldeten sich schon kurz nach Ankunft der ersten ukrainischen Geflüchteten Stimmen zu Wort, die darüber urteilten, warum die einen vermeintlich besser nach Deutschland passen als die anderen, wer leicht und wer schwer zu integrieren sei, wer gut und wer schlecht gebildet sei.
Mit welchem Recht eigentlich? Und so geht es in einer Krise wieder dieser auch um die großen Fragen nach Identität: Wer sind wir, wer wollen wir sein?
Das betrifft mich auch persönlich – als Jüdin, als Deutsche und als Europäerin. Als Enkelin von Holocaust-Überlebenden, als Tochter eines Geflüchteten nach dem Einmarsch der Russen in Polen 1939 und als Frau eines geflüchteten Eritreers, dessen Familie zwischen dem Sudan und Libyen festsitzt oder gefangen gehalten wird.
Die vielen Fluchterfahrungen in meiner Familie zeigen mir: Wer sich immer noch an der Frage der Integrationsfähigkeit abarbeitet und daran, ob jemand weiß oder schwarz, jüdisch, muslimisch oder christlich ist, aus dem Westen oder Osten kommt, der arbeitet an der Realität der deutschen Migrationsgesellschaft vorbei, in der längst so viele unterschiedliche Bezüge zu Weltgeschichte und Fluchtbewegungen bestehen.

Wir brauchen Zusammenhalt statt Spaltung

Hier wird versucht, unsere Gesellschaft zu spalten, und das ist das Letzte, was wir gerade brauchen. Denn was es jetzt eigentlich braucht, ist, ein tief liegendes Verständnis von Empathie, Solidarität und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu entwickeln. Klar, das klappt nicht auf Knopfdruck.
Aber wir können Räume schaffen, in denen eigene Perspektiven geteilt und andere anerkannt werden können. Es geht um Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Migrations- und Fluchterfahrungen.
Es geht darum, dafür zu sensibilisieren, dass sowohl Antisemitismus als auch Rassismus gesamtgesellschaftliche Probleme sind – ohne, dass wir diese beiden Phänomene gleich- oder miteinander in Konkurrenz setzen.

Sicherheit ist ein Bedürfnis von allen

Innere Abwehr und Emotionen sind Teil dieses Prozesses. Verständlich, denn wenn darüber verhandelt wird, wer ankommen und bleiben darf und wer nicht, dann steht im Kern ein elementares Grundbedürfnis des Menschen zur Debatte: Sicherheit.
Und doch wünsche ich mir für den Diskurs und den Umgang miteinander, dass wir die Worte „aber“ und „oder“ in diesem Kontext streichen und sie durch ein „und“ ersetzen. Und zwar so: Ja, mein Schicksal ist einzigartig. Und deines auch. Ja, es gibt meine Geschichte und deine. Meine Schutzbedürftigkeit und deine. Mein Recht auf ein sicheres Leben und deines.
Ich muss mich sicher fühlen, um mich auf die andere Perspektive, auf das „und“ einlassen zu können. Auf unsere aktuelle Situation bezogen, würde dazu gehören, gleiche Bedingungen für Geflüchtete aus unterschiedlichen Ländern zu schaffen. Also das gleiche Recht zu studieren und zu arbeiten auch ohne Abschluss oder langwierige Anerkennung. Sich frei zu bewegen innerhalb Deutschlands, zu bleiben.
Es geht darum, Strukturen zu schaffen, innerhalb derer Zusammenhalt möglich wird. Die Verantwortung dafür darf nicht auf die Betroffenen abgewälzt werden. Das ist Aufgabe der Politik und unserer Demokratie. Doch hier sind wir noch lange nicht.

Deborah Schnabel ist seit September 2021 Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Die 36-Jährige ist promovierte Psychologin. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit zählt die Vermittlung digitaler Bildungsinhalte. Dabei bildet die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Shoa sowie der deutschen Kolonialgeschichte einen wichtigen Bezugspunkt der politischen Bildungsarbeit gegen heutige Formen von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung.

Porträt Deborah Schnabel
© Felix Schmitt / Bildungsstätte Anne Frank

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