Gesellschaftliche Umbrüche

Wandel als Chance begreifen

04:21 Minuten
Auf einem Schild was nach links weist, ist eine Hand gezeichnet, die nach rechts zeigt (Illustration)
Wandel gleich Fortschritt? Für viele Menschen scheint diese Gleichung nicht mehr aufzugehen. © imago / Malte Mueller
Ein Standpunkt von Aleida Assmann |
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Wir erleben derzeit einen rasanten gesellschaftlichen Umbruch - etwa wenn es um Zuwanderung geht oder um die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann sieht darin vor allem eine Chance.
Ich habe in meinem Leben schon viel Wandel erlebt. Aber so viel Wandel wie heute war nie. Selbst unser Begriff von Wandel hat sich verändert. Lange Zeit waren die Menschen stolz darauf, die Welt zu verwandeln, und nannten das "Fortschritt" oder "Modernisierung".
Jetzt sind wir vorwiegend mit einem Wandel konfrontiert, der sich aus den unbeabsichtigten Folgen unseres Handelns ergibt. Die ultimative Krise des Planeten hat ja niemand angestrebt und viele haben sie bis vor Kurzem auch nicht wahrhaben wollen.

Wandel hatte lange eine positive Bedeutung

Auch der Begriff der Globalisierung ist zweischneidig geworden. Vor 20 Jahren träumte man noch von der kosmopolitischen Weltgesellschaft, in der alle Grenzen durch Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien überwunden werden. Inzwischen werden überall Grenzen neu befestigt, denn die abstrakte Weltgesellschaft hat einen sehr realen Migrationshintergrund bekommen.
Damit sind wir bei einem weiteren Wandel: der Zusammensetzung der Gesellschaft. Ein Viertel der deutschen Bevölkerung hat inzwischen Eltern oder Vorfahren, die nicht hier geboren sind. Am 10. September dieses Jahres feierte Bundespräsident Steinmeier nach 60 Jahren mit den Familien der türkischen Gastarbeiter das "Anwerbeabkommen" als eine Erfolgsgeschichte, die heute in der dritten Generation angekommen ist.
Doch die Enkel stellen fest: Die Geschichte ihrer Großeltern kommt in den Schulbüchern nicht vor, obwohl sie schon doppelt so lange hier leben wie die Ostdeutschen im wiedervereinigten Deutschland. "Wer aus der Geschichte ausgeschlossen ist", sagt ein Betroffener, "kann sich der Geschichte auch nicht zugehörig fühlen".

Die Rückkehr der Kolonialgeschichte

In den letzten beiden Jahrzehnten sind vermehrt syrische und afrikanische Migranten dazugekommen. Mit ihnen ist auch die europäische Kolonialgeschichte zurückgekehrt. Je mehr Menschen von anderen Kontinenten in einer Stadt leben, desto vielfältiger wird der Blick. Der hängt nämlich wesentlich davon ab, was man erlebt und welche Demütigungen man in seinem Leben erfahren hat.
Hier ein Beispiel aus der Stadt Konstanz. Dort wurde kürzlich über Nacht ein Buchstabe von einer Hauswand entfernt. Das M, das jetzt fehlt, ist inzwischen an einem sicheren Ort versteckt. Die betroffene Apotheke hat bei dieser Aktion ihren Namen verändert. Sie ist zur "Ohren-Apotheke" geworden. Das ist niemandem entgangen, der hier vorbeikommt.
Jeder schaut anders auf dieses Bild. Als ich die Besitzerin der Apotheke nach ihrer Meinung fragte, sprach sie von Sachbeschädigung und Diebstahl. Das sei auch ein Verstoß gegen das Denkmalgesetz, denn der Schriftzug stamme aus dem 18. Jahrhundert. Für mich ist der zerstörte Schriftzug so etwas wie eine öffentliche Lektion, vielleicht sogar eine Geschichtsstunde.

Die Eingesessenen können dazulernen

Inzwischen hat das Wort "Mohrenapotheke", das es überall in Deutschland gibt, einen eigenen Wikipedia-Eintrag bekommen. Man kann sich also ganz einfach über die Geschichte dieses Namens informieren und dabei mehr über die lange europäische Kolonialgeschichte erfahren.
Wir Eingesessenen haben aber auch die große Chance, etwas über unsere Geschichte dazuzulernen, indem wir mit den Augen derer auf sie blicken, die nicht hier geboren sind oder deren Vorfahren eine ganz andere Herkunft haben.
Unsere Gesellschaft ist diverser geworden - und das ist gut so. Die Aufnahmegesellschaft tut gut daran, sich über diesen Prozess auszutauschen und mit der Komplexität unterschiedlicher Lebenserfahrungen auseinanderzusetzen. Wie hat es die Autorin Kübra Gümüşay ausgedrückt? "Wir alle werden uns wandeln müssen. Gemeinsam."

Aleida Assmann studierte Anglistik und Ägyptologie an den Universitäten Heidelberg und Tübingen. Sie lehrte von 1993 - 2014 Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zahlreiche Gastprofessuren führten sie ins Ausland. 2017 erhielt sie zusammen mit ihrem Mann Jan Assmann den Balzan Preis für ihre Forschungen zum Kulturellen Gedächtnis und 2018 ebenfalls zusammen mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte (2018), Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (2020).

© Valerie Assmann
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