Gesellschaftlicher Wandel

Kein Ende der Geschichte

Tunesierinnen demonstrieren am internationalen Frauentag 2014 in Tunis für mehr Rechte. (8.3.2014)
Arabischer Frühling: Diese Frauen demonstrieren für mehr Rechte in Tunesien. © dpa/ picture alliance / Mohamed Messara
Von Ramon Schack · 02.07.2014
Der Wandel ist sicher, der Ausgang ungewiss und das Paradies bleibt eine Utopie: Geschichte kommt nicht einfach an ein "Ende", meint der Publizist Ramon Schack. Ein Blick auf die aktuellen Konflikte in der Welt - Ukraine, Syrien, Irak, oder auch die Schuldenkrise - zeigt vielmehr, dass sich Geschichte immer anders entwickelt, als wir denken.
Kürzlich erhielt ich eine E-Mail von einer Frau, der ich im Sommer 1989 im Urlaub begegnet bin. Sie hatte ein Foto beigefügt, das uns beide an einem Hotelpool unweit von Barcelona zeigt. Das war vor einem Vierteljahrhundert, zu einer Zeit ohne Internet, Facebook, Smartphone.
Sie schrieb gerade eine Postkarte an eine Brieffreundin in der DDR, in einem Land, das für uns Westdeutsche weiter entfernt war als Spanien. Es kümmerte sie nicht, ob die Leipziger Freundin neidisch werden könnte, da sie eine bunte Postkarte aus einem Urlaubsort erhielt, der für sie unerreichbar gewesen ist. Schließlich seien die Ostdeutschen an ihr beengtes Leben gewöhnt, war ihre Haltung.
Einige Monate später wurde die Berliner Mauer geöffnet. Europa war nicht mehr geteilt. Der Kommunismus verschwand gemeinsam mit dem Kalten Krieg. Und Francis Fukuyama hielt das "Ende der Geschichte" für gekommen, weil sich nunmehr die liberale westliche Ordnung weltweit durchsetzen werde, da jedwede Alternative gescheitert sei. Der amerikanische Politikwissenschaftler irrte, er irrte von Anfang an.
Antiliberale Bewegungen sind auf dem Vormarsch
Zwar löste der Markt die Planwirtschaft ab, aber statt freiheitlicher Demokratie erstarkte Oligarchie. Das westliche Ideal konkurriert heue mit dem Moskauer Modell der "Gelenkten Demokratie" oder dem Pekinger eines zunehmend konfuzianisch geprägten Staatsverständnisses. Aber auch im alten Westen halten Lobbyisten den Parlamentarismus im Griff, werden Bürger von Suchmaschinen und Geheimdiensten auf eine Weise überwacht, welche die Schreckensvisionen George Orwells bald eingeholt haben dürfte.
Überall wachsen antiliberale Bewegungen heran. Sie offenbaren eine Kluft zwischen den politischen Eliten und der breiten Bevölkerung. Sie reagieren auf gesellschaftliche Konflikte. Wo Menschen mit dem Komplexen einer freien Welt nicht fertig werden, sehnen sie sich nach "bewährtem Vergangenen", nach "alter Übersichtlichkeit" zurück.
Entladen sich politische Spannungen, fegen sie alte Ordnungen hinweg, stürzen Regierungen und tauschen Eliten aus. Sie schaffen Neues oder auch nur Anderes, nicht immer Ideales. Vielleicht hilft Ökonom Joseph Schumpeter das Phänomen besser zu verstehen, wenn er von schöpferischer Zerstörung spricht.
Aufstand gegen erstarrte Strukturen
So gesehen erlebten Osteuropa beim Fall des Eisernen Vorhangs oder Nordafrika im arabischen Frühling einen Aufstand gegen erstarrte Strukturen. Der politische, der wirtschaftliche, der soziale Druck musste entweichen. Daraus folgte durchaus ein Aufbruch. Dass dieser oft nichts von dem bringt, was Menschen sich versprochen haben, haben die letzten 25 Jahre gelehrt.
Nicht etwa liberales Denken, nicht etwa Demokratie oder soziale Marktwirtschaft führen die Geschichte an ihr gutes Ende. Es ist Dynamik, die sich immer wieder Bahn bricht, die Finanzmärkte kollabieren lässt und Bürgerkriege provoziert, aus Siegern Verlierer oder aus Verlierern Sieger macht. Sie erlaubt kein Ende der Geschichte. Wen sie nicht verzweifeln lässt, der richtet sich mit ihr ein.
Die Leipziger Brieffreundin von damals macht mittlerweile in Spanien Urlaub. Und eine Berliner Studentin von heute fragte mich neulich beiläufig, wie es eigentlich vor 1989 gewesen sei, ob wirklich einmal eine Mauer mitten durch Berlin führte. Die einen erleben den Aufbruch, wie ihn sich Francis Fukuyama erträumte, die anderen eher so, wie ihn Joseph Schumpeter regelmäßig erwartet. Der Wandel ist sicher, der Ausgang ungewiss und das Paradies bleibt eine Utopie.
Ramon Schack, Jahrgang 1971, ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Berliner Zeitung, Wiener Zeitung, Handelsblatt. Sein Buch "Neukölln ist Nirgendwo. Nachrichten aus Buschkowskys Bezirk" erschien Ende Juni 2013 im Verlag 3.0 Zsolt.
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Ramon Schack© Quelle: privat