Astrid von Friesen ist Diplom-Pädagogin, praktizierende Heilpraktikerin im Bereich Gestalt- und Traumatherapie sowie Publizistin. Sie unterrichtete 20 Jahre an der TU Bergakademie Freiberg. Ihre beiden letzten Bücher mit Gerhard Wilke: "Generationen als geheime Macht - Wechsel, Erbe und Last sowie "Die Macht der Wiederholungen: Von quälenden Zwängen zu heilenden Ritualen".
Der gefühlte Opferstatus
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Kulturelle Aneignung, diskriminierende Sprache, Interessen von Minderheiten: Immer häufiger stilisieren sich Menschen im Zusammenhang damit zu Opfern, findet Astrid von Friesen. Das gefährde den Zusammenhalt der Gesellschaft, warnt die Pädagogin.
Nach über 70 Jahren Frieden gibt es nur noch selten Anlässe zum Heldentum. Wie schade, denken offenbar viele, denn in den Geschwisterkohorten der Schulklassen, Teams, Sub- und Unter-Sub-Gruppen stilisieren sich immer häufiger Menschen zu Opfern.
Wie zum Beispiel amerikanische Studentinnen, die sich durch Shakespeares Werke traumatisiert fühlen, Opfer seiner literarischen Themen über Hass, Gewalt und Inzest. Professoren können dort ihre Jobs verlieren, wenn sie nicht die möglichen Opfer vor "Mikroaggressionen" warnen.
Muss Muttermilch jetzt Menschenmilch heißen?
Dreadlocks dürfen von niemandem mehr außer von Afrikanern getragen werden, und berühmte Schauspieler mussten öffentlich die Opfer dieser "kulturellen Aneignung" um Verzeihung für ihre Frisuren bitten.
Auch sollte Muttermilch eigentlich Menschenmilch genannt werden, um Männer nicht zu diskriminieren. Homosexuelle sollen auch keine Heterosexuellen spielen, und umgekehrt, weil der eine sich nicht in die Opferposition der anderen einfühlen könne.
Menschen werden grausamerweise immer wieder zu Opfern anderer, und der Kampf der Opfer wie ihrer Mitkämpfer gegen Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie ist absolut noch nicht beendet.
Reales Heldentum ist mühsam
Doch reales Heldentum ist mühsam, einen Opferstatus dagegen einzunehmen und digital mit sprachpolizeilichen, ausgrenzenden Attacken andere als angebliche Täterinnen zu bezichtigen, ist leicht. Man proklamiere dazu eine eigene Blase: je kleinteiliger, diverser, desto stärker die Opfer-Mentalität, mit Ansprüchen auf Ausgleich und Sonderrechte.
Der Kampf darum wird als heldenhaft empfunden und schweißt die eigene Sub-Gruppe zusammen.
Kumulativ können jedoch nicht sämtliche Minderheitenwünsche erfüllt werden, weil der Staat für alle, nämlich für 83 Millionen Einwohner entscheiden muss. Die daraus resultierenden Ent-Täuschungen, dass die "da oben", wie strenge Eltern, nicht alles sofort erfüllen, haben ein Reservoir von undankbaren Wutbürgerinnen anwachsen lassen.
Publizistin Fourest diagnostiziert "Aufstieg der Opferkultur"
Die Politik erfülle zwar immer neue Sonderrechte der "beleidigten Generation", schreibt die französische Publizistin, Caroline Fourest kürzlich über den "Aufstieg der Opferkultur".
Ein Beispiel: Eine vietnamesische Studentin in den USA fühlte sich als Opfer, weil ihr ein vietnamesisches Gericht nicht heimatlich genug schmeckte, woraufhin eine Medienkampagne gegen die Köchin gestartet wurde. Frage: Wer ist hier eigentlich Opfer, wer ist Täterin?
All dies trägt nicht zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft bei. Dieser wird jedoch historisch garantiert von der breiten Mittelschicht und den Verantwortungsträgerinnen, die gemeinschaftliche Werte aufrechterhalten und in die nächste Generation transportieren: von den Lehrerinnen, Ärzten, Facharbeiterinnen, Juristen und dem Mittelmanagement.
Und keineswegs von dünnhäutigen, beständig nach Mikroaggressionen Ausschau-Haltenden, die sich als Opfer in "sicheren Räumen" der Universitäten verkriechen, während sie die Werke der Weltliteratur eigentlich kritisch analysieren sollten.
Radikale Konflikte zwischen Sub-Minderheiten
Etwas verändert sich gerade radikal: Die sozialen Konfliktlinien ergeben sich seltener zwischen Jung gegen Alt, vielmehr entwickeln sich radikale Geschwisterkonflikte zwischen den Sub-Minderheiten-Gruppen, ausgrenzend und diffamierend.
Kulturell und symbolisch fungiert die Mittelschicht als Opfergabe der Wachstumsdoktrin und nicht mehr als Garant des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Wohingegen die moralischen Sittenwächter weniger Helden oder Opfer – als vielmal neue Täter sind!