Die Stunde der Drachen
Nach dem Jugoslawien-Krieg besaß die bosnische Nationalmannschaft kaum Spieler und nicht mal eigene Trikots. Erstmals nimmt das Land nun bei einer WM teil - und hofft, dass der Fußball die gespaltene Gesellschaft vereint.
Nur noch wenige Stunden bis zum Spiel zwischen Bosnien und Ägypten. Zwei blau-weiß-gelbe Fanzüge schlängeln sich durch Innsbruck, das Echo der Freudengesänge wird von den Bergen hin- und hergeworfen. Die Fans scheinen aus jedem Winkel der mittelalterlichen Stadt zu singen. Ein leicht gebeugt laufender Herr mit Hut ist empört, es sei doch Aschermittwoch:
"Ich tät´s als Polizei gar nicht erlauben. Das Spiel schon von mir aus. Aber hier zu demonstrieren und zu schreien... Einen christlichen Bekennertag mit Füßen treten im heiligen Land Tirol!"
Mitten drin: Izeta, Mubera, Sada und Sena. Vier Freundinnen, die seit Jahren zu allen Spielen der Nationalelf fahren. Hier können sie für ein paar Stunden den schwierigen Alltag in ihrer Heimat vergessen: Die immer teurer werdenden Lebensmittel und die Sorge, dass die eigenen Kinder zu Hause keine Arbeit finden und wie so viele junge Leute nur eins wollen: möglichst schnell weg aus Bosnien.
"Diese Jungs sind die einzigen, die der Welt zeigen, was Bosnien Gutes kann. Sonst gibt es nur schlechte Nachrichten aus unserem Land - wegen unserer Politiker. Hier auf dem Fußballfeld gibt es keinen Nationalismus, hier spielen alle zusammen: Bosniaken, Kroaten und Serben, alle sind Bosnier."
Die ganze Nation war auf den Beinen, als sich die Jungs für Brasilien qualifiziert haben. In der Hauptstadt sind 50.000 Leute zusammengekommen. Junge, Alte, Babys und Omas - alle haben unsere Drachen empfangen.
"Weltmeister in unseren Herzen"
Drachen, so werden die bosnischen Fußballnationalspieler genannt. Sinnbild der überschwänglichen Freude wurde Fußballkommentator Marian Mijajlovic. Selbst bosnischer Serbe stellte er nach dem Spiel keine Fragen oder lieferte irgendwelche klugen Analysen. Stattdessen verließ er nach dem 1:0 in Litauen einfach seine Sprecherkabine, lief aufs Spielfeld, um mit den Spielern zu singen und zu tanzen.
Auch dieses Mal sind viele Kinder unter den Fans, auf dem Arm, im Kinderwagen, an der Hand. Der Zug nähert sich dem Tivoli-Stadion in Innsbruck. Menschen mit glücklichen Gesichtern steigen überall aus Bussen und Autos, schließen sich ihm an. Fans der Drachen aus Deutschland und der Schweiz, manche sogar aus Frankreich.
"Das ist zwar nur ein Freundschaftsspiel. Aber wir kennen unseren Staat und wissen, wie heruntergekommen er ist. Deshalb müssen wir ihn unterstützen und fahren für unseren Staat überall hin - Brasilien, Portugal, nach Paris in Frankreich."
Der etwa 30-jährige Bosnier arbeitet in der Schweiz. Dass Bosnien in der ersten Runde der WM auf Argentinien trifft und damit gleich auf einen der Favoriten, trübt seine Freude nicht:
"Das beste Ergebnis ist schon erreicht, einfach weil wir nach Brasilien fahren. Bosnien ist und wird immer Weltmeister in unseren Herzen bleiben."
"Das ist mehr als Sport"
Zwei Stunden später. Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff. Der Journalist Bakir Tiro aus Sarajevo sitzt schon auf seinem Platz im Pressebereich der Tribüne und studiert noch einmal seine Notizen von der Pressekonferenz. Sport bedeutet für ihn Erholung von der vertrackten Politik - und Hoffnung. Für ihn hat der Fußball das Potential die Bühne zu sein, auf der sich die zerstrittenen nationalen Gruppen des Landes wieder annähern und das Zusammenleben proben.
"Das ist mehr als Sport, Fußball ist eine Lebensform geworden in letzter Zeit. Fußball trägt zum Zusammenwachsen unserer Gesellschaft bei. In unserer Mannschaft spielen Leute, die im Krieg auf unterschiedlichen Seiten standen. Heute sind sie die besten Freunde."
Das Spiel beginnt eher träge, die 14.000 bosnischen Fans im Stadion laufen dennoch fast über vor Freude, ihre Drachen auf dem Spielfeld zu sehen: Jeder gelungene Pass wird bejubelt, jede Torchance frenetisch beklatscht und gefeiert.
Nach der Halbzeitpause wird Euphorie zu Wut
Die Fans haben die Namen ihrer Städte auf Transparente geschrieben, darunter nicht nur Orte aus der kroatischen und bosnischen Föderation, sondern auch aus der Republika Srpska.
"Ich kann nicht beschreiben, was das für ein Gefühl ist, hier als Bosnier zu sein und dieses Land anzufeuern. Wir lieben das über alles. Wir sind das traurigste Volk der Welt, aber wir lieben unser Land über alles."
Nach der Pause wandelt sich die Euphorie in Wut und Entsetzen: In der 52. Minute fällt das erste Tor für Ägypten, zwölf Minuten später das zweite. Als klar wird, dass die bosnische Mannschaft kein Tor mehr schießen wird, skandieren einige Fans an die Adresse von Nationalspieler Edin Dzeko: "Dzeko raus".
Dieser reagiert wütend, droht den Fans mit geballter Faust und fordert sie gestikulierend auf, aufs Spielfeld zu kommen. Ein Buh-Konzert ist die Antwort. Auf der anschließenden Pressekonferenz nimmt Trainer Safet Susic seinen Stürmer-Star in Schutz. Hinten im Raum, neben einem Kamerateam, sitzt der Journalist Bakir Tiro aus Sarajevo.
"Die Mannschaft hat heute nicht alles gegeben, aber das Publikum hätte auch nicht so reagieren dürfen bei einem Freundschaftsspiel. Aber wir sind Bosnier - bei uns gibt es nur Riesen-Freude oder Riesen-Trauer, und nichts in der Mitte. Das ist eines der Probleme, das uns schon viel gekostet hat im Leben."