Gesellschaftsentwurf für Europa

Zusammenhalt durch Visionen

Menschen gehen auf einem Arm mit EU-Flagge zum ausgestreckten Finger (Illustration).
Bürgerinnen und Bürger einbinden: Das fordert die Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel. © imago / Gary Waters
Ein Kommentar von Sophie Pornschlegel |
Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, muss ein neuer Gesellschaftsentwurf diskutiert werden, meint die Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel. Dabei sei es wichtig, die unterschiedlichen Interessen aller Bürger einzubinden.
In Deutschland gibt es bislang noch keinen Grund, alarmistische Töne anzuschlagen. Laut dem "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt" der Bertelsmann Stiftung vertrauen die Deutschen mehrheitlich ihren Mitbürgerinnen und Institutionen. Auch die wachsende kulturelle und religiöse Vielfalt steht dem Gemeinsinn nicht entgegen. Allerdings gibt es auch klare Anzeichen dafür, dass dieses Vertrauen gefährdet ist – und damit auch die Grundlage für ein stabiles, demokratisches politisches System.
Nicht nur in den USA oder Frankreich hat sich das soziale Gefüge in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Auch in Deutschland spricht man vermehrt von "Desintegrationsprozessen", die zu einer neuen Polarisierung der Gesellschaft geführt haben. Bei Diskussionen um die Zuwanderung lässt sich diese Neuordnung der gesellschaftlichen Konfliktlinien besonders gut beobachten. Früher waren es eher "anonyme Instanzen" wie der Kapitalismus, die Wirtschaft oder die soziale Ungleichheit, die für Missstände verantwortlich gemacht wurden. Heute steht der Vorwurf im Raum, dass die "Öffnung der Grenzen", also das Festhalten am gemeinsamen europäischen Schengen-Raum, einen grundlegenden Angriff auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstelle.

Zusammenhalt ohne Ausgrenzung

Die Neuordnung der Konfliktlinien könnte womöglich selbst zu einer großen Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann und darf nicht durch Erniedrigung anderer, durch Hass und Angst – und auch nicht durch aggressive Ausgrenzung – entstehen. Dennoch brauchen wir eine gemeinsame Basis, um auch in Zukunft gemeinsam in Frieden leben zu können. Auf welchen Grundsätzen genau eine solche Solidargemeinschaft sich stützen soll und wie die Interessen eines pluralistischen Volks politisch angemessen repräsentiert werden können, muss immer wieder gesellschaftlich ausverhandelt und legitimiert werden.
Viele beziehen sich auf das Grundgesetz als Basis für das Gemeinwesen. Doch die Aufgabe von Verfassungen ist es nicht, den Zusammenhalt selbst zu schaffen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht vielmehr durch einen ständigen Prozess aus Interessenausgleich, Anerkennung anderer Meinungen, Willens- und Konsensbildung. Es braucht gesellschaftliche und politische Strukturen, die diesen Prozess begleiten und gemeinsam verantwortete Entscheidungen ermöglichen. Sie müssen von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim angesehen und als solche akzeptiert werden. Gleichzeitig bedarf es den Schutz von Minderheiten.

Mitsprache und Diskussion

Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch in Zukunft gewährleisten zu können, müssten vor allem zwei "Baustellen" in Angriff genommen werden.
Zunächst brauchen wir eine breite Diskussion über die Frage, wie ein neuer Gesellschaftsentwurf, der für alle Bürgerinnen und Bürger zufriedenstellend ist, aussehen könnte. Denn die traditionellen Versprechen, wie "Wohlstand", "Frieden" oder "Fortschritt", die unser wirtschaftliches und politisches System bisher getragen haben, sind unter Druck geraten – und müssen deshalb überdacht werden. Wie soll die Arbeitswelt von morgen aussehen? Wie kann der Sozialstaat gerecht sein und für alle funktionieren? Welche Rolle soll Deutschland in Europa einnehmen?
Zweitens müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine solche gesamtgesellschaftliche Diskussion ermöglichen. Dafür benötigen wir eine Reform der politischen Entscheidungsprozesse. Die unterschiedlichen Interessen aller Bürgerinnen und Bürger müssen artikuliert und entsprechend repräsentiert werden, vielmehr, als es derzeit der Fall ist. Dafür braucht es ein verbessertes Verhältnis von Parteien und Zivilgesellschaft. Nur unter solchen Rahmenbedingungen kann eine öffentliche Debatte entstehen, in der breit legitimierte Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft gefunden werden.

Sophie Pornschlegel ist Projektmanagerin beim Progressiven Zentrum im Programmbereich Zukunft der Demokratie. Dort beschäftigt sie sich unter anderem mit Projekten zu Repräsentation, politischer Teilhabe und Parlamentarismus in Europa. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Vorstandsmitglied beim Grassroot-Thinktank für Europa- und Außenpolitik Polis180 und ist in dieser Funktion für das internationale Netzwerk verantwortlich. Sophie Pornschlegel war zuvor in einer Public-Affairs-Beratung tätig sowie in der der europäischen Kommission. Sie hat Politikwissenschaft in Paris und London studiert.

© Progressives Zentrum / Per Jacob Blut
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