Matthias Lohre, Jahrgang 1976, ist Autor und Journalist. Knapp zehn Jahre lang war er Politikredakteur der "taz". Sein Buch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. In "Das Opfer ist der neue Held" geht er jetzt der Frage nach: Was passiert, wenn ganze Gesellschaften ihre Traumata verdrängen?
Wie aus Opfern Helden werden
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Niemand will Opfer werden, niemand will Gewalt oder Diskriminierung erfahren. Und doch kann man heute einen seltsamen Trend beobachten, meint der Journalist Matthias Lohre: Dass sich Menschen gerne zu Opfern stilisieren – auch wenn sie keine sind.
Opfer – dieses Wort hatte bis vor kurzem einen schlechten Ruf. Opfer, das waren in der öffentlichen Wahrnehmung willensschwache Menschen. Gewaltopfern wurde deshalb vielfach sogar unterstellt, sie trügen Mitschuld an ihrem Leid. Opfer zu sein, galt als Schande.
Binnen weniger Jahrzehnte aber hat sich das Bild vom Opfer radikal gewandelt: Weg von den Anschuldigungen, hin zur Anerkennung. Wer öffentlich seine Benachteiligung beklagt, gilt heute als mutiger Kritiker einer fehlerhaften Gesellschaft.
So gut das ist, heute treibt es seltsame Blüten: Immer mehr Menschen bezeichnen sich mittlerweile als von finsteren Mächten unschuldig Verfolgte. Und zwar gerade auch dann, wenn sie das ganz offensichtlich nicht sind.
Bedrohung lauert überall
So erklärt Donald Trump sich und seine Anhänger zu Opfern einer Hexenjagd liberaler Medien und Parteien. Befürworter des Brexit halten sich für Opfer einer angeblich übermächtigen EU, die nationale Eigenständigkeit zermalmen will. Politiker und Wähler der AfD behaupten, alle anderen Parteien planten den "Volkstod" Deutschlands. Ähnliche Bedrohungsszenarien gibt es unter Linken.
An Universitäten fordern Studierende Schutz vor unliebsamen Meinungen ein. Sie fürchten, selbst Worte in einem Buch könnten sie traumatisieren. "Triggerwarnungen" sollen sie davor bewahren, sich schockartig an schmerzvolle Erlebnisse erinnert zu fühlen. Selbst dann, wenn es gar nicht ihre Erlebnisse sind, sondern die anderer Mitglieder ihrer ethnischen oder sexuellen Minderheit. Sie erklären das Leid anderer Menschen zu ihrem eigenen.
Unmoralisch im Namen der Moral
Ob Donald Trump, die AfD oder Verfechter der Identitätspolitik – sie alle eint eine düstere Weltsicht. Sie halten sich für ohnmächtig, aber moralisch überlegen. Um sich herum vermuten sie abgehobene Eliten, die aufrechte Bürger wie sie erniedrigen. In diesem Überlebenskampf ist ihnen jedes Mittel Recht, schließlich verteidigen sie ein hehres Ideal. So verhalten sie sich unfair im Namen der Fairness, eigensüchtig im Namen des Gemeinwohls, unmoralisch im Namen der Moral.
Wir sind Zeugen eines epochalen Umbruchs: Das Ideal des selbstbestimmt lebenden Individuums verblasst, und an seine Stelle tritt das immerzu Aufmerksamkeit und Mitgefühl einfordernde Opfer. Dessen Selbstwertgefühl speist sich nicht aus eigenen Leistungen, Ideen oder guten Taten.
Die neuen Opfer sind stolz darauf, etwas erlitten zu haben. Sie definieren sich durch – reale oder vermeintliche – Verletzungen. So schaffen sie sich eine schlüssige Lebenserzählung. Ich leide, also bin ich. Was ist da passiert?
Individualisierung und Verunsicherung
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat unsere Gesellschaft sich extrem individualisiert. Das ist befreiend. Aber es erzeugt auch großen Druck. Wir alle, so hören wir immer wieder, sind für unser Glück allein verantwortlich. Sind die Anforderungen zu groß, bist du zu schwach. Doch die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören und akzeptiert zu werden, die gibt es immer noch.
Und so unterschiedlich wir auch sind: Auf den Glauben, Opfer dunkler Mächte zu sein, darauf können wir uns einigen. Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen nach Unschuld und Zugehörigkeit - ganz ohne die moralischen Grautöne und lästigen Pflichten, die echte Gemeinschaften ihren Mitgliedern zumuten.
Opfer als oberste moralische Instanz
Das mag hämisch klingen. Redet hier also jemand menschliches Leid klein? Nein. Natürlich gibt es weltweit viele Millionen in Not Geratene und Verfolgte, die unsere Empathie und Hilfe brauchen. Doch um diese wahren Opfer geht es hier nicht. Sondern um Menschen, die den Opferstatus missbrauchen, um mit dem Finger auf andere zeigen zu können. Nach dem Motto: Hier sind die Guten, dort die Bösen.
Was für eine Karriere: Das schwache, verachtete Opfer von einst hat sich gewandelt zur obersten moralischen Instanz. Aus einem Makel ist ein Verdienst geworden, aus einer Ausnahme ein Massenphänomen, aus einem Außenseiter die Zentralfigur unserer Zeit. Mit anderen Worten: Das Opfer ist der neue Held.