Gila Lustiger: "Die Schuld der Anderen"
Berlin Verlag, Berlin 2015
493 Seiten, 22,99 Euro
Die Welt ist schlecht und bleibt schlecht
Die Themen des Romanhelden Marc sind die Verkommenheit des politischen Systems und die Korrumpierbarkeit des Menschen. In "Die Schuld der Anderen“ von Gila Lustiger wird ein Sittenbild der französischen Gesellschaft gezeichnet, das übertragbar ist auf alle europäischen Demokratien.
Vorsicht! Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie mit unliebsamen Erkenntnissen konfrontiert. Ihnen werden die letzten Illusionen geraubt oder ihre schlimmsten Ahnungen bestätigt. Dabei hätten Sie ohnehin schon all das wissen können, was die in Frankfurt geborene und in Paris lebende Schriftstellerin Gila Lustiger in ihrem neuen Roman beschreibt.
"Die Schuld der Anderen" räumt erbarmungslos auf mit der Illusion, dass das Gute irgendwann siegt und ein Mensch zugleich moralisch und mächtig sein kann. Dass die Welt doch wenigstens bei uns in Europa, in Frankreich, dem Mutterland der Menschenrechte, zivilisiert sei. Nein, das ist sie nicht und wir können es kaum ändern – so die schlichte Wahrheit, von der die Autorin mit Engagement, literarischem Können und präzise recherchierten Fakten berichtet.
Am Anfang noch hoffen wir auf einen Großstadtroman, Gila Lustiger lockt den Leser mit sinnlichen Stadtschilderungen: ein Sommermorgen in Paris, makellos blau ist der Himmel, zwei Freunde in den besten Jahren schlendern an der Seine entlang, natürlich heißen sie Pierre und Marc, der eine Zeitungsredakteur, der andere investigativer Reporter. Doch schnell eröffnet Lustiger den Krimi, der ihr Roman über weite Strecken ist. Pierre und Marc sprechen über einen knapp dreißig Jahre alten Mordfall, der plötzlich wieder zum Thema wird, weil zufällig, per DNA-Analyse, der mutmaßliche Täter entdeckt wurde. Marc beginnt, den Fall wieder aufzurollen und gerät damit in einen Sumpf aus Angst und Lügen, Gier und Gewalt. Am Anfang steht ein Prostituiertenmord, je länger der Reporter aber recherchiert, desto mehr kommt er den Untaten von Politikern und Wirtschaftsbossen auf die Spur, die einen Giftskandal vertuschen.
Einblick in die Zentren der Macht
Marc ist die Hauptfigur im Roman, dessen Thema: die Verkommenheit eines politischen Systems, die Macht des Geldes, die Korrumpierbarkeit des Menschen. Lustiger hat einen großen Gesellschaftsroman geschrieben, der in Frankreich spielt, die jüngere Geschichte des Landes, seine speziellen sozialen und ökonomischen Verhältnisse mit äußerster Präzision abbildet, doch leider wohl ein Modell abgibt für den Zustand anderer europäischer Demokratien in wirtschaftsliberalen Zeiten. Dieser Roman ist ein Werkzeug. Die Autorin unterhält den Leser und gleichzeitig rüttelt sie ihn auf. Sie führt ihn in die Zentren der Macht, zu den Eliten des Staates, in die Banlieues, in Arbeiterfamilien und Provinznester, zu neuen Islamisten, Arbeitslosen, Krebskranken.
Marc, der einen jüdischen, intellektuellen Vater hat, ist stark geprägt vom Großvater mütterlicherseits, einem Manager von Unternehmen, die jährlich sechs Milliarden Umsatz generieren, der von sich sagt: "Ich muss mir die Welt nicht zusammenlügen, ich erschaffe sie mir."
Zwischen Bewunderung und Ablehnung der sogenannten "guten Gesellschaft" versucht der Reporter seinen Weg zu finden. In der Arbeit interessiert er sich vor allem für die dunkeln Seiten der französischen Gesellschaft. Er hat einen hohen moralischen Anspruch – und erkennt am Ende, wie Oedipus in der griechischen Tragödie, dass auch er verstrickt ist in das, was er bekämpft.
Gila Lustiger zeichnet ihre Charaktere nie schwarz-weiß. Mit Lust am scharfen Denken inszeniert sie einen gesellschaftlichen Diskurs, lässt uns an Widersprüchen und Emotionen ihrer Figuren teilhaben. Das macht diese so lebendig und den Roman, der in vielen Details auf Fakten beruht, so überzeugend. "Die Schuld der Anderen", postuliert Menschlichkeit, verhandelt die brennenden Fragen unserer Zeit und ist ein gelungenes Beispiel für die Relevanz des Romans.