Warum als Philosoph in die Politik gehen?
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Philosophie will Erkenntnis gewinnen, Politik dagegen Macht. Was passiert, wenn man beides zusammenbringt? Wie verändert der philosophische Blick die politische Praxis? Und wie die Praxis die Theorie?
Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck und die SPD-Politikerin Gesine Schwan kennen beide Welten. Habeck hat in philosophischer Ästhetik promoviert und gemeinsam mit seiner Frau mehrere Romane veröffentlicht, bevor er den Grünen beitrat. Gesine Schwan ist als habilitierte Philosophin zu höchsten akademischen Ehren gelangt, heute gleichzeitig Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD.
Philosophie und Politik gehören zusammen
Die beiden sind sich einig, dass Politik und Philosophie zwar verschiedenen Logiken gehorchen, sich aber zugleich gegenseitig brauchen. Der "Wettbewerb um Macht" sei natürlich Kern der Politik, so Schwan, aber ebenso wichtig sei, "dass man, bevor man in diese machtorientierte Argumentation geht, sich Klarheit darüber verschafft, wohin man eigentlich will. Und da gehören Philosophie und Politik zusammen."
Den entscheidenden Unterschied in der Herangehensweise gegenüber nicht-philosophischen Politikern sieht Habeck darin, "dass man nicht nur in der Fachlichkeit verharrt, sondern hin und wieder mal einen halben Schritt zurücktritt und fragt: Was ist eigentlich gerade die Geschichte unserer Zeit?"
Analytisches Denken, die Kunst, "richtig zu fragen" – darin sehen beide die wichtigste Lehre der Philosophie. Wenn Habeck mal nicht weiter wisse, dann besinne er sich zurück auf die philosophischen Texte, die ihm viel bedeuten. Eine wichtige Referenz ist für ihn die Existenzphilosophie. Umgekehrt betont Schwan den Wert der politischen Praxis für ein "genauer artikuliertes Verständnis dessen, was ich denn unter demokratischer Politik verstehe, was sich in der Realität auch bewähren können muss."
Analytische Distanz zur enttäuschenden Wirklichkeit
Das philosophische Training könne auch dabei helfen, so die ehemalige Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, die Enttäuschungen zu verarbeiten, die mit dem politischen Geschäft einhergehen:
"Wenn man öffentlich richtig eine rein kriegt, ist das nicht sympathisch, das muss man schon sehen – aber man kann es analytisch auf Distanz bringen. Und dann ist man, finde ich, aus der Hilflosigkeit schon mal ein Stückchen raus."
Und in Zeiten, als eine Frau an der Spitze der Bundesrepublik noch keine Selbstverständlichkeit war, habe Schwan ihr philosophisch geschulter Machtbegriff sogar dabei geholfen, ihre Kandidatur zu rechtfertigen. Sie wäre damals immer wieder gefragt worden, warum sie als Frau so viel Macht haben wolle. In ihrer Antwort berief sie sich auf den Machtbegriff bei Hannah Arendt r: einer "Macht, Menschen zusammenzubringen für ein gemeinsames Projekt – und dafür möchte ich gern viel Macht haben". Die betreffenden Journalisten habe das überrumpelt: "Da konnte man nun sozusagen nichts mehr dagegen sagen, das durfte auch eine Frau machen."
Enteignungsdebatte: Gemeinwohl vor Profitstreben
Mit Blick auf die derzeitige Diskussion um eine mögliche Enteignung großer Immobilien-AGs in Berlin betonen sowohl die SPD-Politikerin und der Grünen-Vorsitzende den Vorrang des Allgemeinwohls vor individuellem Profitstreben.
Dabei müsse sich das Gemeinwohl freilich immer erst "aus der Diskussion ergeben, es ist nicht apriori vorhanden", präzisiert Schwan. "Aber wenn wir die Kategorie aufgeben und sagen, das entscheidet eben einfach der Markt und alle anderen Kategorien wie Gerechtigkeit sind hinfällig, dann haben wir verloren – und das war überwiegend der Diskurs der letzten 30 Jahre."
Die Philosophin betont, dass die Wertsteigerung von Grundeigentum oft auf staatliche Infrastrukturmaßnahmen zurück zu führen sei: "Und dass dieses Eigentum sakrosankt bei dem individuellen Besitzer sein soll, dafür gibt es ja überhaupt keine gute theoretische Berechtigung oder Begründung."
Regulierung im Sinne der sozialen Marktwirtschaft
Habeck differenziert in diesem Zusammenhang seine Äußerungen aus einem vorangehenden Interview, in dem er eine Enteignung für "denkbar" gehalten hatte. Ob eine Vergesellschaftung von Wohnraum gegen Entschädigung am Ende wirklich "politisch schlau" sei, das müsse jede Kommune für sich entscheiden – "und unter pragmatischen Gesichtspunkten kann man gut dagegen argumentieren." Grundsätzlich aber unterstreicht er die Notwendigkeit einer politischen Regulierung:
"In Berlin und vielen anderen Städten können sich die Menschen wegen 30 Euro Mieterhöhung die Wohnung nicht mehr leisten – und auf der anderen Seite Milliardengewinne. Und da wird man mal fragen dürfen – gerade auch im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft –, wo ist die Grenze? Irgendwo muss sie gezogen werden, es gibt kein Recht auf unbegrenzte Gewinnmaximierung zulasten des Gemeinwohls."
Umverteilung oder Identitätspolitik? Beides!
Traditionell gelten die Grünen als Partei der Umwelt- und Gleichstellungspolitik, während die SPD der sozialen Gerechtigkeit den Vorrang gibt. Habeck und Schwan hingegen legen im Gespräch beide Wert darauf, dass Umwelt- und Sozialpolitik einerseits und Kämpfe um Anerkennung andererseits zusammengedacht werden müssen.
So sieht Schwan die größte politische Herausforderung darin – etwa mit Blick auf den Kohleausstieg in der Lausitz –, "die soziale Gerechtigkeit mit der ökologischen Zukunft überzeugend zusammenzubringen" und dabei "auch die identitätspolitischen Fragen mit einzubeziehen: Wie ist das Selbstwertgefühl von Lausitzern neu zu beleben in der Transformation?" Die verschiedenen Schwerpunkte von Grünen und SPD ergänzten sich dabei, so Schwan.
Wie gelingt der gesellschaftliche Wandel?
Sozial-ökologischer Wandel könne nur erfolgreich und langlebig sein, wenn niemand in seinem Selbstwert herabgesetzt würde. Im klugen Umgang mit dieser Anerkennungs-Dimension von Politik sieht Schwan sogar den "Motor" für eine soziale, ökologische und identitätspolitische Wende.
Schwan fügt hinzu: "Ich baue darauf, dass Veränderungen dann nachhaltig sind, wenn Menschen sie überlegt und freiwillig – in dem möglichen Maße – vollziehen. Und das heißt, dass sie teilhaben. Deshalb glaube ich, dass demokratische Politik, wenn die Transformationen Erfolg haben sollen, stärker als bisher partizipatorisch geschehen muss. Und zwar wenn es irgend geht, dezentral im Lebensumfeld. Denn da ist es überschaubar, da merkt man auch, was man hingekriegt hat."
Anerkennung durch positive Teilhabe
Auch Habeck setzt auf die Ermunterung zum Mitmachen: "Wie cool wär es denn, wenn wir die Generation wären, die es schaffen, eine Industriegesellschaft bei all ihrem Wohlstand umzubauen, ohne das Klima zu zerstören? Also da mitzumachen, was ist denn das für eine großartige Einladung?" Statt der allgegenwärtigen Schwarzmalerei – "die Welt geht unter und es ist nur noch die Frage, reitet ihr mit der SPD, den Grünen oder den Schwarzen in den Untergang" – brauche es einen positiven Gegenentwurf: "Wir bauen was, worauf wir stolz sind und was nachhaltiger und friedfertiger ist."
Uns fehle es weniger an klugen Interpretationen, als an entschiedenen Schritten: "Wir haben nun wahrhaft kein Erkenntnisdefizit", so Habeck. "Wir sind eine unglaublich reiche Gesellschaft. Wenn Europa jemals in einem Zustand war, sich zu einen, zu teilen und soziale Gerechtigkeit einigermaßen hinzukriegen, dann doch jetzt!"