Hören Sie auch ein Interview mit dem polnischen Journalisten Henryk Jarczyk zur Fragilität des Rechtsstaates in Polen.
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Zwischen zwei Polen
Die polnische Gesellschaft ist gespalten: Die einen unterstützen die nationalkonservative Regierung der PiS und finden es gut, dass jemand mit den Kommunisten aufräumt. Die andere Seite sieht Polen auf dem Weg zu einem autoritären Staat. Versöhnliche, vermittelnde Töne sind selten.
Es ist schon nach 22 Uhr, die Temperaturen sind weit unter null gesunken. Das polnische Parlament auf der anderen Straßenseite liegt im Halbdunkeln, es ist von Bäumen verdeckt. Ihm mache die Kälte nichts aus, sagt Grzegorz Rogalski, er sei ja Bauingenieur. Der 34-Jährige ist seit über drei Wochen regelmäßig hier, seit jener Nacht vor Weihnachten, über die ganz Polen noch immer spricht:
"Da wurde es schon ziemlich heiß. Erst haben die Leute die Ausgänge des Sejms hier vorne blockiert, aber am schlimmsten war es an der Ausfahrt in der Na-skarpie-Allee. Die Polizei hat die Leute weggestoßen und überwältigt. Wir haben das Signal bekommen, dass sie dort Hilfe brauchen. Als eine ganze Menschenmenge dort angerückt ist, hat sich die Polizei auf das Sejm-Gelände zurückgezogen. Das Tränengas, über das Abgeordnete gesprochen haben, habe ich nicht bemerkt. Aber die Polizei hatte Schusswaffen dabei."
Seit jener Nacht harren die Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude aus. Sie unterstützen Oppositionsabgeordnete, die sich abwechselnd im Plenarsaal befinden, ebenfalls Tag und Nacht. Einige von ihnen haben dort auch Weihnachten und Silvester verbracht.
Dabei ist die Parlamentskrise nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die schon kurz nach der Amtsübernahme der rechtskonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" begann. Zunächst entwickelte sich ein Streit um das Verfassungsgericht. Die Regierung versuchte, dessen Arbeit zu blockieren und erließ dafür mehrere Gesetze. Schon im Januar, vor einem Jahr, leitete die EU-Kommission deshalb ein Verfahren gegen Polen ein, sie sieht den Rechtsstaat in Gefahr.
Verfassungsgericht kalt gestellt
Das Thema wird sich bald erledigt haben. Denn spätestens zur Jahreshälfte werden im Richterkollegium Juristen die Mehrheit haben, die vom amtierenden Parlament gewählt wurden. Einen Konflikt mit der Regierung dürfte es dann nicht mehr geben, meinen Beobachter, so der ehemalige Gerichtsvorsitzende Jerzy Stepien:
"Das Gericht ist so gut wie kalt gestellt. Ich hoffe, dass es wenigstens bis Juni noch einige Lebenszeichen gibt - so lange sein gegenwärtiger Vizepräsident Biernat noch im Amt ist."
Trotzdem hat der Streit um das Verfassungsgericht schon Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal seit der demokratischen Wende kam es zu Massenprotesten, einmal waren in Warschau über 100.000 Menschen auf der Straße. Auch Grzegorz Rogalski, der Bauingenieur, war dabei. Denn für ihn strebe die rechtskonservative Regierungspartei PiS eine Diktatur an, vor allem ihr Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski.
"Er ist zu allem bereit, um an der Macht zu bleiben. In einem Interview hat er gesagt, dass er sogar Abstriche beim Wirtschaftswachstum in Kauf nimmt, seine Vision vom polnischen Staat ist ihm wichtiger. Das kann man schon mit Pinochet, Hitler und Stalin vergleichen. Die PiS ist das Schlimmste, was Polen passieren konnte."
Der Bauingenieur versteht die Menschen, die wegen ihrer Arbeit nicht am Protest teilnehmen. Trotzdem ist er ein bisschen enttäuscht, dass nicht mehr kommen. Im Moment sind es etwa 30 Personen, die rund um das Protestzelt stehen.
Grzegorz Rogalski trägt zwar eine Hose in Tarnfarbe - aber eine Revolution wolle er hier nicht anzetteln, sagt er, nicht einmal Neuwahlen erzwingen:
"Neuwahlen würde die PiS im Moment wieder gewinnen. Denn sie hat das Programm 500-plus eingeführt, ein neues Kindergeld. Da sagen sich viele: Die geben uns wenigstens etwas, die vorherige Regierung unter der 'Bürgerplattform' hat uns nichts gegeben. Ich will keine Neuwahlen, sondern nur, dass die PiS im Einklang mit der Verfassung regiert."
Mit seinen 34 Jahren ist Grzegorz Rogalski der jüngste unter den Demonstranten vor dem Parlament. Die Jungen bräuchten ja nicht zu protestieren, so eine landläufige Meinung - sie könnten heute einfach auswandern.
Breiter Protest gegen verschärftes Abtreibungsrecht
Und doch: Spätestens im Oktober des vergangenen Jahres schloss sich auch die Generation der 20-Jährigen den Protesten an. Auslöser war der sogenannte "schwarze Protest". Frauen gingen auf die Straße, um ein noch restriktiveres Abtreibungsgesetz zu verhindern. Eine Bürgerinitiative hatte es eingebracht und verlangte, dass selbst vergewaltigte Frauen ihr Kind austragen müssen. Obwohl die katholische Kirche das Gesetz unterstützte, verwarf es die PiS-Mehrheit, die sich sonst betont katholisch gibt.
Manche sahen die PiS deshalb schon in der Defensive, nicht so Joanna Piotrowska von der Stiftung für Frauenrechte "Feminoteka":
"Vergessen wir nicht, dass es um einen Protest gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts ging, das in Polen ohnehin sehr, sehr scharf ist. Es ist eines der restriktivsten in der EU. Deshalb gelang es, Frauen aus verschiedenen politischen Milieus dafür zu gewinnen. Wir hatten gewissermaßen schon das Messer an der Kehle."
Experten meinen: Beim PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski hätten die Alarmglocken geläutet, als plötzlich und zum ersten Mal auch in kleineren Städten Frauen für ihre Rechte demonstrierten.
Die Polen, von denen 2015 nur jeder zweite Wahlberechtigte seine Stimme abgab, werden wieder politischer. Tadeusz Jakrzewski kann das an sich selbst beobachten. Er lebt in Breslau und kommt trotzdem regelmäßig zum Protest vor dem Parlamentsgebäude, um hier einige Schichten zu übernehmen. Es sei lange her, dass er sich politisch engagiert habe, sagt der 54-jährige Dolmetscher, das letzte Mal sei das vor der demokratischen Wende gewesen:
"Wir haben 27 Jahre lang in einem demokratischen Staat gelebt. Leider nimmt man bestimmte Freiheiten nicht wahr, solange man sie genießt. Deshalb bildet sich jetzt erst eine Zivilgesellschaft heraus, direkt auf der Straße. Das erinnert mich an die 1980er-Jahre. Da gab es auch einen Ruck - und plötzlich haben wir gespürt, dass jeder die Geschichte mitgestalten kann."
Tadeusz Jakrzewski hat sich an eines der elektrischen Wärmegeräte gestellt. Am Anfang hätten sie Metallkübel hierher gebracht, in denen sie Kohle zum Glühen brachten, erzählt er. Bis die Feuerwehr kam und alle löschte. Sonst hätten die Behörden nichts gegen sie unternommen, die Veranstaltung sei ja angemeldet.
"Lauter kleine Faschisten"
Noch gälten solche demokratischen Spielregeln in Polen, meint der Dolmetscher. "Noch" - denn wie alle hier ist er überzeugt, dass die Regierungspartei PiS einen autoritären, nationalistischen Staat anstrebe. Das zeige sich selbst in der Bildungsreform:
"Wenn wir uns das Programm für die Schulen anschauen, dann sehen wir, dass das in Richtung einer katholischen Bildung geht, mit nationalen Elementen. Die Schule soll die Kinder zu kleinen Patrioten formen - Leute wie die, die sich jeden Monat in der Warschauer Innenstadt um den PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski scharen. Ich fürchte, kurz gesagt, wir werden lauter kleine Faschisten bekommen."
So drastische Formulierungen benutzen hier viele. Tadeusz Jakrzewski stützt sich auf die programmatischen Grundlagen, die das Bildungsministerium für Grundschulen vorgeschlagen hat. Darin heißt es: Die Schüler sollen in die Welt der Werte eingeführt werden, darunter Werte wie Opferbereitschaft, Solidarität, Altruismus, Patriotismus und Tradition. Die Schule soll nicht nur die individuelle, sondern auch die nationale und ethnische Identität der Kinder stärken.
Ein paar Schritte weiter, an einem Tisch, schenkt sich ein älterer Herr gerade eine Tasse Tee aus einer Thermoskanne ein. Unterstützer aus Warschau versorgten die Demonstranten hier, erzählt er, auch mit warmer Suppe. Krzysztof Sikora ist 70 Jahre alt, ein Informatiker. Er glaubt nicht, dass die PiS lange regieren wird:
"In einem halben Jahr, oder spätestens in anderthalb Jahren, wird das Geld fehlen, um die Wähler zu kaufen. Da werden auch die einfachen, die weniger Gebildeten hierher kommen, aber mit Äxten und Heugabeln. Vielleicht gehen sie zuerst auf uns los, auf die Feinde der Regierung, weil wir die guten Reformen angeblich bremsen. Aber dann werden sie sich an die Regierenden halten. Denn irgendwann geht das Geld aus, jede Kasse hat einen Boden."
Tatsächlich gibt die Regierung viel Geld aus, nicht nur für das neue Kindergeld. Sie will das Renteneintrittsalter wieder senken und den sozialen Wohnungsbau ankurbeln. Zur Finanzierung heißt es: Das Finanzministerium schließe Steuerlücken. Tatsächlich hat die PiS die Steuereinnahmen gesteigert. Doch Experten bezweifeln, dass dies die Mehrausgaben auf Dauer kompensieren wird.
PiS würde die Wahlen wieder gewinnen
Der Zweifel der Experten, die vernichtende Kritik der Demonstranten, das alles zählt politisch im Moment wenig. Denn, wenn heute Wahlen wären, würde die rechtskonservative PiS wieder gewinnen. Das zeigen alle Umfragen. Auch Pola und Bartek würden die Partei wieder wählen, ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern.
"In Polen gab es noch nie so eine Situation, dass eine Partei alleine regieren kann und noch dazu den Präsidenten auf ihrer Seite hat. Die PiS kann ihr Programm zu 100 Prozent umsetzen und fragt dabei andere nicht nach deren Meinung. Viele bei uns sind offenbar nicht bereit, sich damit abzufinden."
Für Pola sind es schlicht die Verlierer der Parlamentswahl, die protestieren. Sorge um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien nur vorgeschoben, meint sie. Ihr Argument, das auch aus der PiS immer wieder zu hören ist: Auch frühere polnische Regierungen besetzten Ämter und Managerposten mit ihren Günstlingen, auch sie nahmen es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht so genau. Aber da habe keiner protestiert, meint Pola.
Doch anders als die liberale Vorgängerregierung tue die PiS dem Land gut:
"Wir bekommen das Kindergeld, ja. Für uns ist es nicht unbedingt notwendig, aber für viele andere schon. Jetzt kommen noch das Wohnungsprogramm und eine Unterstützung für Schwangere, deren Kind krank ist. Ich finde schon: In einem Land, aus dem Leute mit Studienabschluss emigrieren, um im Ausland körperliche Arbeiten zu erledigen, in einem solchen Land sind 500 Zloty, 120 Euro monatlich keine Kleinigkeit. Das ist ein echter Anreiz, um die Familie zu vergrößern."
Pola und Bartek möchten ihren Nachnamen lieber nicht preisgeben. Sie arbeiten in Berufen, wo die meisten kein gutes Haar an der PiS lassen. Über Politik sprechen sie deshalb im Kollegenkreis lieber gar nicht.
Auch das lastet Pola der Opposition an. Sie habe die Regierung von Anfang an radikal bekämpft und damit die Gesellschaft weiter gespalten. Wer die Regierung unterstütze, gelte gleich als hinterwäldlerisch. Die junge Frau empfindet das als unfair:
"Es gibt Polen, die sich für etwas Besseres halten, weil sie immer das tun und denken, was als modern gilt, die um jeden Preis westlich, europäisch sein wollen. Sie akzeptieren die Regierung einfach nicht, und das frustriert uns. Die PiS hat ein Mandat, sie hat ein Recht zu regieren."
Politische Gegner werden pauschal verunglimpft
Doch die Aggression geht keineswegs nur von den PiS-Gegnern aus. Das konnte beobachten, wer sich bei der jüngsten Kundgebung der Partei umsah, Mitte Dezember war das. Anlass war ein trauriger Jahrestag, 35 Jahre zuvor hatte der Staatschef im kommunistischen Polen, Wojciech Jaruzelski, das Kriegsrecht verhängt. Deshalb klang getragene, patriotische Musik aus den Lautsprechern.
Die Plakate jedoch, die Menschen auf dem Drei-Kreuz-Platz in Warschau hochhielten, waren vor allem gegen die heutigen politischen Widersacher gerichtet. Der Ex-Ministerpräsident Donald Tusk wurde als das, so wörtlich, "fleischgewordene Böse" dargestellt. Andere verunglimpften die politischen Gegner pauschal als Kommunisten oder deren Helfershelfer.
Pola geht nicht so weit. Aber auch für sie war die Abrechnung mit der kommunistischen Zeit ein wichtiger Grund, die PiS zu wählen.
"Ich bin sehr zufrieden, dass der Präsident das Gesetz unterschrieben hat, das den ehemaligen kommunistischen Funktionären die Renten kürzt. Das war einfach ungerecht: Diejenigen, die für Repressionen verantwortlich waren, haben viel mehr bekommen als jene, die im Gefängnis gesessen haben. Das war auch ein schlechtes Beispiel für die jüngeren Generationen. So haben sie doch den Eindruck bekommen, dass es sich nicht auszahlt, für Demokratie zu kämpfen. Wenn der Held hungern muss und der Ex-Stasi-Funktionär in der Villa lebt."
Wie die Demonstranten vor dem Parlament wünscht sich auch Pola mehr Einigkeit unter den Polen, eine friedlichere politische Kultur. Aber vielleicht sei das einfach nicht möglich, meint sie.
"Die Polen waren schon immer aufbrausend und hitzig. Wir hatten einen Abgeordneten, der Rauschgift nahm und im Sejm getanzt hat. Bei uns gab es diese Emotionen immer. Vielleicht lässt sich das eher mit der italienischen politischen Kultur vergleichen. Jedes Land hat seine eigene demokratische Tradition und seinen Stil."