Der weite Weg zu einem europäischen Geschichtsbild
Völkermord an den Armeniern? Lange konnte sich die Bundesregierung zu dieser Formulierung nicht durchringen - aus Rücksicht auf die Türkei. Auch der 70. Jahrestag des Kriegsendes bereitet diplomatische Probleme. Und das liegt nicht nur an Putins Krieg in der Ukraine, kommentiert Christoph von Marschall.
Geschichtsbilder sind eine mächtige Waffe. Mit ihnen wird seit jeher Politik betrieben – innen- wie außenpolitisch. Geschichtsbilder sind Teil der nationalen Identität. Sie interpretieren, wer die Täter und wer die Opfer waren. Geschichtsbilder benachbarter Völker liegen oft in Konflikt miteinander. Die meisten Nationen wollen sich als Helden sehen. Und wenn sich Missetaten weder verdrängen noch bestreiten lassen, sollen sie wenigstens als Reaktion auf erlittenes Unrecht entschuldigt werden.
Eines leistet eine politisch gelenkte Erinnerungskultur in den seltensten Fällen: zu zeigen, wie es tatsächlich gewesen ist. Oft diente sie der Abgrenzung. Früher wurde eine angebliche Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen bemüht. Neuerdings soll Erinnerung die Versöhnung vorantreiben – mit Gesten von Symbolkraft. Kanzler Kohl und Präsident Mitterrand reichten sich über den Gräbern von Verdun die Hände. Kanzler Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto drückte die Scham über den Massenmord an Polens Juden aus.
Gedächtnis der Völker versus Politik
Völker haben freilich ihr eigenes Gedächtnis. Wenn das verordnete Gedenken zu weit davon abweicht, löst es Abwehrreaktionen aus. Und kommt womöglich der Diplomatie in die Quere. Das erlebt die deutsche Außenpolitik in diesen Tagen: bei der Erinnerung an die Armenier-Verfolgung im Osmanischen Reich vor 100 Jahren und beim Blick auf den 70. Jahrestag des Kriegsendes.
Beide Anlässe sind heikel für die Deutschen – nicht, weil unbekannt wäre, welches Unrecht damals geschehen ist. Und auch nicht, weil die Deutschen ihre Schuld leugnen wollten. Vielmehr geraten die eingeübten Erinnerungsrituale anderer beteiligter Völker in Konflikt miteinander, und die aktuelle Zuspitzung zwingt dazu, Stellung zu beziehen. Die Deutschen tun sich in beiden Fällen schwer. Sie meinen zwar, einen Weg gefunden zu haben, wie sie mit der Last ihrer eigenen Geschichte in Europa umgehen: Die Regierung leugnet die Verbrechen nicht, und die meisten Bürger folgen ihr dabei. Jene, die noch immer die Vertreibung und das Bombardieren der Städte gegen deutsche Kriegsverbrechen aufrechnen wollen, sind eine kleine Minderheit. Den Deutschen steht es aber nicht zu, anderen Völkern eine ähnliche Geschichtsaufarbeitung aufzudrängen, schon gar nicht mit erhobenem moralischem Zeigefinger.
Im Fall der Armenier führte das zu peinlichen diplomatischen Verrenkungen. Die Regierung wollte sich zunächst nicht auf die Einordnung als Völkermord festlegen – aus Rücksicht auf die Türkei; aber auch aus Sorge, Böswillige könnten das als Versuch sehen, die deutsche Schuld an dem monströseren Völkermord, dem Holocaust, zu relativieren.
Rote Schreckensherrschaft nach Kriegsende
Heikler ist das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Wladimir Putins Krieg in der Ukraine ist nur der Auslöser dafür, dass die Deutschen dem Konflikt um die Geschichtsbilder in Mittel- und Osteuropa nicht ausweichen können. Sie haben den Krieg begonnen und ungeheure Verbrechen begangen, das ist unumstritten. Aber auch Stalins Sowjetunion war nicht nur Opfer, wie es das offizielle russische Geschichtsbild nahe legt. Sie war Opfer und Täter in einem. Die Völker, die zwischen Deutschen und Russen leben und unter beiden Aggressoren litten, wollen daran erinnern, dass der Krieg mit dem Hitler-Stalin-Pakt begann. Und dass auf die Niederlage der braunen Besatzer nicht Freiheit folgte, sondern eine rote Schreckensherrschaft. Für Polen, Balten und andere Mitteleuropäer endete die Unterdrückung nicht 1945, sondern erst gut 40 Jahre später.
Andere Regierungschefs können Putins Einladung, die Ruhmestaten der Roten Armee am 9. Mai in Moskau zu feiern, ausschlagen. Die Kanzlerin kann das nicht. Sie muss anerkennen, dass Russland zu den Opfern des deutschen Angriffskrieges gehörte – und ebenso zu den Siegermächten, die Deutschland von der Naziherrschaft befreiten. Ihr kluger Ausweg: Sie fährt nicht zur Siegesparade am 9. Mai, sondern ehrt die Kriegsopfer einen Tag später mit Putin bei einer Kranzniederlegung.
Das gespaltene Gedenken – mit Deutschland in einer Sonderrolle – zeigt, wie weit der Weg zu einem gemeinsamen Geschichtsbild in Europa ist, selbst 70 Jahre danach.