Gespaltenes Verhältnis zu Lebensmitteln

Bei uns wird aufgegessen!

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Graphische Darstellung von "Die Geschichte vom Suppen-Kaspar" aus dem "Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann.
Essen wegwerfen ist unmoralisch, aufessen ist Bürgerpflicht! - "Der Suppen-Kaspar" aus "Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann. Nachdruck von 1847. © picture alliance/dpa/akg
Ein Standpunkt von Ralph Bollmann · 13.03.2019
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Die Verschwendung von Lebensmitteln zu geißeln, ist eine deutsche Tradition. Von Generation zu Generation wird sie weitergegeben und von Kanzeln und Rednerpulten verkündet. Warum eigentlich, fragt sich der Wirtschaftsjournalist Ralph Bollmann.
Regelmäßig kehrt die Kampagne wieder, und sie bleibt verlässlich populär. Die frühere Agrarministerin Ilse Aigner hat dazu aufgerufen, ihre Nachfolgerin Julia Klöckner fordert es jetzt auch: Wir alle sollen keine Lebensmittel mehr wegwerfen. Das hilft angeblich den Armen auf der Welt, es soll das Weltklima retten, und christlich klingt es sowieso. Schließlich sprach schon Jesus, als er das Brot bei der Speisung der Fünftausend auf wundersame Art vermehrte: Sammelt die übrig gebliebenen Stücke ein, damit nichts verschwendet wird.

Denk’ an die hungernden Kinder!

Das alles erinnert an die Zeit, als wir noch klein waren. Wenn wir den Spinat nicht aufessen wollten, den man damals für besonders gesund hielt, dann sagten die Eltern: Denk’ an die hungernden Kinder in Afrika! Natürlich war das schon damals reinster Kitsch, und das wussten wir auch: Wie sollte, bitte schön, das Gemüse in unserem Bauch die Altersgenossen südlich der Sahara nähren?
Ähnlich schlicht ist leider auch die Logik, die hinter den Kampagnen der Ministerinnen steckt. Wenn wir unseren Joghurt noch essen, obwohl das Verfallsdatum längst abgelaufen ist, dann hilft das niemandem. Dass es trotz wachsenden Wohlstands und schrumpfender globaler Ungleichheit noch immer Hungernde auf dem Planeten gibt, hat wenig mit Produktionsengpässen zu tun.

Hunger entsteht nicht, weil es zu wenig Nahrung gibt

Die Fachleute sagen: Hunger entsteht heute selten dadurch, dass es rein mengenmäßig zu wenig Nahrung gibt. Sondern durch Kriege und Krisen, durch schlechte Regierungsführung, durch die mangelhafte Einbindung der Länder ins kapitalistische Wirtschaftssystem. Viele Bauern sind dort noch Selbstversorger, die kein Geld haben, um bei lokalen Missernten auswärts einzukaufen. Leider neigt die klassische Entwicklungshilfe oft dazu, diese ineffizienten Strukturen festzuschreiben.
Eine hundertprozentige Ausnutzung vorhandener Ressourcen gibt es fast nirgendwo im Wirtschaftskreislauf, auch modernste Kohle- oder Windkraftwerke kommen nur auf einen Wirkungsgrad von ungefähr 50 Prozent. Merkwürdigerweise regt das niemanden auf, außer bei Lebensmitteln. Sie werden romantisch verklärt.

Ein Hauch von Verschwendung gehört zum guten Leben

Das steht gerade bei den Deutschen in einem skurrilen Widerspruch zu dem geringen Stellenwert, den wir dem Essen generell beimessen. Abgelaufenen Joghurt zu konsumieren, das zeugt nicht von Moral, sondern von schlechtem Geschmack. In fast allen Hochkulturen gilt es als Ausdruck zivilisierten Verhaltens, beim Essen einen Rest übrig zu lassen. Den Teller leer zu machen, das empfindet man außerhalb Deutschlands als barbarisch. Ein Hauch von Verschwendung gehört zum guten Leben dazu.
Seien wir ehrlich: Ohne das Wegwerfen von Lebensmitteln würde unsere moderne, freiheitliche Gesellschaft gar nicht funktionieren. Nehmen wir nur den klassischen Doppelverdiener-Haushalt in der Großstadt, in dem beide Partner oft unterwegs sind. Sollen sie ihre Lebensplanung darauf ausrichten, dass im Kühlschrank nichts vergammelt? Ein Meeting absagen mit der Begründung, daheim würde sonst das Gemüse schimmeln? Oder wollen die Lebensmittel-Romantiker allen Ernstes die Rückkehr zur klassischen Hausfrau und Mutter, die aus dem Kühlschrankinhalt ein Reste-Essen zaubert?

Dosenravioli verderben nicht – frisches Gemüse schon

Es bringt nichts, das Problem auf Handel und Industrie zu schieben. Sie reagieren an diesem Punkt auf unsere Bedürfnisse, und die sind eine Folge unserer Lebens- und Arbeitswelt: Wer abends um sieben abgehetzt aus dem Büro kommt, der möchte beim Bäcker keine leeren Regale sehen. Auch wenn er weiß, dass sich der Rest des Sortiments bis Ladenschluss nicht mehr verkauft.
Das gewachsene Gesundheitsbewusstsein spielt ebenfalls eine Rolle. Als Dosen-Ravioli noch kulinarisch akzeptiert waren, konnte nichts verderben. Wenn aber frisches (und unverpacktes!) Gemüse auf den Tisch kommen soll, dann sieht die Sache anders aus. Die verschrumpelten Äpfel des Vorjahres, die unsere Vorfahren im Frühjahr aus dem Vorratskeller zogen, will heute keiner mehr essen.
Schon das Wegwerfen selbst kann übrigens sehr gesundheitsfördernd sein. Nicht alles aufzuessen, was man vorgesetzt bekommt: Das ist die einfachste Strategie gegen Übergewicht. Für eine gesunde Ernährung kommt es weniger darauf an, was man isst. Wichtiger bleibt, was man nicht isst. Auch in dieser Hinsicht lagen unsere Eltern falsch, als sie uns den Spinat hineinzwangen.

Ralph Bollmann, geboren 1969, ist wirtschaftspolitischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin. Der studierte Historiker absolvierte die Münchener Journalistenschule und arbeitete viele Jahre für die taz. Jüngste Buchveröffentlichung: "Walküre in Detmold – Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz" (2017).

Der Journalist Ralph Bollmann
© picture alliance / Frank May
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