Roger Clarke: Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme
Matthes & Seitz, Berlin 2015
320 Seiten, 38 Euro
Reiseführer durch die Geisterwelt
Der britische Journalist Roger Clarke glaubt seit seiner Kindheit an Gespenster. Jetzt hat er deren "Naturgeschichte" aufgeschrieben. Ein übersinnlicher, großartiger Lese-Spaß.
"Auf die Gefahr hin, Ihre Geduld zu überstrapazieren: Es ist leider noch nicht erschienen", schreibt mir letzte Woche die Pressevertreterin des Verlags Matthes & Seitz. Seit Februar korrespondieren wir wegen des Buchs des britischen Geisterjägers Roger Clarke mit dem vielsagenden Titel "Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme". Sollte dieses Werk wie das betreffende Sujet selbst am Ende gar nicht existieren? Sich vor den neugierigen Augen der Kritikerin nicht materialisieren können?
Doch, es existiert. Ich halte einen Vorabdruck der "Naturgeschichte" in der Hand. Es wurde persönlich an die Haustür gebracht, damit die Übergabe nicht durch einen Poststreik verhindert werden konnte. Der Spuk ist vorbei, der Bann gebrochen. Gespannt schlage ich die erste graumelierte Seite auf, bei der sich schemenhaft die Rückseite einer Fotografie abzeichnet, die auf der folgenden Doppelseite abgedruckt ist. Ein umwerfend gespenstisches Detail, das für die letzte Verzögerung der Buchveröffentlichung verantwortlich ist: Derzeit wartet der Verlag auf die Lieferung dieses dünnen, grauen Papiers aus dem Ausland. Alles an diesem Buch ist ein Kunstwerk.
Der Autor wuchs in einem Pfarrhaus aus dem 17. Jahrhundert auf
Der britische Journalist und Filmkritiker Roger Clarke wuchs in einem Pfarrhaus aus dem 17. Jahrhundert auf der Isle of Wight auf. Am Ende des dunklen Hausflurs war eine tote Frau – davon war Clarke genau so überzeugt wie seine Mutter. Sein leidenschaftliches Forscherinteresse führte Roger Clarke mit 14 Jahren als jüngstes Mitglied in die britische "Gesellschaft für parapsychologische Forschung" und animierte ihn zu nächtlichen Exkursionen durch Englands meist bespukte Gemächer.
Doch allen Anstrengungen zum Trotz gelang es ihm nie, auch nur ein einziges Gespenst mit eigenen Augen zu sehen. So stellt Roger Clarke heute, rund 50 Jahre nach den ersten Nachforschungen im elterlichen Hausflur, eine neue Prämisse für seine Geisterjagd auf: "Grundsätzlich gilt, dass es Geister gibt, weil die Menschen ständig berichten, dass sie sie sehen. In diesem Buch geht es also nicht um die Frage, ob es Geister gibt oder nicht, sondern darum, was wir sehen, wenn wir einen Geist sehen, und um die Geschichte, die wir uns darüber erzählen."
Das Buch ist reich an Schauermomenten
So erzählt Roger Clarke in seinem an Schauermomenten von der Antike bis heute überbordenden Buch die faszinierende Geschichte der Geisterbegegnungen. Überbrachten bis ins Mittelalter überwiegend männliche Geister eine moralische Botschaft aus dem Jenseits, kamen im 17. Jahrhundert furchterregende Poltergeister in Mode, die bevorzugt mit jungen Frauen per Klopfzeichen kommunizierten. Nachdem im Zeitalter der Aufklärung Geister temporär vom Aussterben bedroht waren, macht zur Jahrhundertwende der deutsche Philosoph Friedrich Nicolai für seine Begegnung mit einem Geist medizinische Gründe geltend.
Damit war der Weg für eine wissenschaftliche Erforschung von Gespenstern als Wahrnehmungsstörung oder Produkt unseres Gehirns geebnet, die seitdem von Wissenschaftlern unter Laborbedingungen und von Hobby-Geisterjägern in Séancen leidenschaftlich betrieben wird. Bis heute gibt es Forschungen im Bereich der Parapsychologie, außerdem könnte die Quantentheorie laut Roger Clarke neue Erklärung für das jahrhundertealte Phänomen des Geistersehens bereithalten.
Wer schon heute nicht an Gespenster glaubt, aber Angst vor ihnen hat – dem sei dieser wunderbare Reiseführer durch die Welt der Geister (samt "Taxonomie" der Gattungen) wärmstens ans Herz gelegt. Ein großartiger Lese-Spaß, der durch den ironisch-distanzierten Unterton des Autors auch für Skeptiker ein außergewöhnlicher Genuss ist.