Gespräch mit einem Jugendpsychiater

Warum junge Menschen zu Mördern werden

09:23 Minuten
Ein junger Mann hält drohend ein Messer in der Hand.
Laut Psychater Helmut Remscheidt reicht manchmal sogar Langeweile aus, um das Gewaltpotential von Jugendliche zu wecken. © imago images/Photocase
Helmut Remschmidt im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
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Langeweile, sexuelle Empfindungen, Sensationslust: In seinem Buch "Wenn junge Menschen töten" erzählt der Jugendpsychiater Helmut Remschmidt von jungen Mördern, ihren Motiven und Biografien.
Stephan Karkowsky: Gewaltverbrechen üben eine morbide Faszination auf uns aus, sonst gäbe es nicht so viele Krimis, den "Tatort" am Sonntag und es würden nicht so viele Sachbücher über wahre Verbrechen zu Bestsellern werden. Der Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Professor Helmut Remschmidt nimmt sich in seinem neuen Buch einen besonders schaurigen Täterkreis: "Wenn junge Menschen töten" heißt es. Ist das denn eher die Ausnahme, dass Mörder unter zwanzig sind, oder ist das gar nicht so selten, wie man denkt?
Helmut Remschmidt: Ja, wenn Sie die Gesamtheit der Tötungsdelikte ansehen, ist das schon eher eine Ausnahme, also es ist kein häufiges, aber natürlich ein sehr gravierendes Phänomen. Unter jungen Menschen verstehen wir in diesen Buch insgesamt Menschen unter 25. Kinder sind bis zum 14. Lebensjahr definiert, 14 bis 18 sind Jugendliche und 18 bis 21 sind sogenannte Heranwachsende. Und die Heranwachsenden, das sind die 18- bis 21-Jährigen, sind in dieser Gruppe überrepräsentiert, es gibt aber sogar auch Kinder. Ich habe in meinem Buch einen Fall erwähnt, wo ein Unter-14-Jähriger, also ein 13-Jähriger, schon jemanden umgebracht hat, und mit 14 hat er dieselbe Tat oder eine ähnliche Tat noch einmal wiederholt.
Karkowsky: Was war das für ein Fall, was waren das für Fälle?
Remschmidt: Das war ein Fall, wo ein Kind aus sexuellen Motiven ein anderes Kind gewürgt hat und dabei sexuelle Empfindungen hatte, und es ist nicht entdeckt worden. Erst als er ein zweites Delikt ähnlicher Art begangen hat, wurde er entdeckt. Das ist auch was sehr Seltenes, aber es gibt eben sexuelle Motive, die zu Gewalthandlungen führen und die dann auch zum Tode führen können, damit der Täter nichts mehr aussagen kann.

Bloße Langeweile als Motiv

Karkowsky: Sie haben eine ganze Menge Fälle aus Ihrer Praxis im Buch, schaurige Geschichten: Da bringen Teenager ihre Eltern um oder töten wahllos Autofahrer mit Steinen, die sie von der Autobahnbrücke werfen. Gibt es eine Antwort auf die Frage, warum ein junger Mensch so etwas macht?
Remschmidt: Da gibt es nicht eine Antwort, sondern mehrere Antworten. Beispielsweise die Steinewerfer von der Autobahn: Das waren ganz normale Jugendliche, gut begabte Gymnasiasten, amerikanische Kinder amerikanischer Eltern, die im Getto lebten. In diesem Getto hatten sie alle möglichen Sportaktivitäten auszuführen, haben aber keinerlei Kontakt zu Deutschen gehabt, es ist also ein Gettobereich. Und in diesem Gettobereich war es ihnen langweilig, und sie haben dann kleine Steinchen genommen – in einer Autowaschanlage zunächst – und auf Autos geworfen, und dann wurden die Steine größer. Und dann haben sie bei dieser Tätigkeit etwas Prickelndes empfunden, es war eine Sensationsgier oder Sensationslust. Und dann wurden die Steine immer größer, und schließlich haben sie von einer Autobahnbrücke auf vorbeifahrende Autos diese Steine geworfen.
Karkowsky: Ich würde ja mal vermuten, es gibt in jedem Menschen so eine Hemmung, andere Menschen zu töten, und Langeweile als Motiv, kann das wirklich sein?
Remschmidt: Ja, die hatten nicht die Tötung im Auge, die hatten das Prickelnde im Auge und haben ganz unberücksichtigt gelassen, dass das zur Tötung führen kann. Das waren jetzt keine Kriminellen, die hatten vorher nichts getan und haben wahrscheinlich – ich hab sie aus den Augen verloren – auch nachher nichts getan, außer diese eine sehr, sehr schwere Tat.

Gewaltvolle Kindheit, gewaltbereiter Erwachsener

Karkowsky: Früher sagte man, wenn einer selbst eine schwere Kindheit gehabt hatte, steigen die Chancen, dass auch er zum Gewaltverbrecher wird. Ist das noch so?
Remschmidt: Ja, es gibt mehrere Faktoren, aber eine schwere Kindheit allein sicherlich nicht. Aber es gibt eine Reihe von Faktoren, die in der frühen Kindheit Gewalt begünstigen. Dazu gehören: Schule schwänzen, Straftaten bereits vor dem zehnten Lebensjahr, Tiere quälen, Neigung zu körperlichen Auseinandersetzungen - die frühzeitig auftreten - dann auch ein Milieu, das gewaltbereit ist, das Erlebnis der Gewalt, Drogen- und Alkoholkonsum. Also es gibt viele Faktoren, die so zusammenkommen, und die Tötungsdelikte sind bei jungen Menschen in aller Regel – es gibt Ausnahmen – nicht geplant, sondern sie ergeben sich oft aus der Situation heraus.
Karkowsky: Manche Faktoren davon halte ich zumindest für ganz normal für eine Kindheit: Schule schwänzen, Drogen und Alkohol, das machen Kinder schon mal. Das Übermaß ist es, richtig?
Remschmidt: Es ist die Häufung. Es gibt eine Studie des holländischen Psychologen und Kriminologen Lobe, der gezeigt hat, dass die Kumulierung dieser Faktoren zur Gewaltausübung führt, wobei Gewaltausübung ja nicht immer Mord oder Totschlag heißt.

Vernachlässigung kann zum Mord motivieren

Karkowsky: Sie haben eine Geschichte im Buch – ich scheue mich mit dem Wort Geschichte, weil es alles wahre Begebenheiten sind –, da fühlte sich ein junger Mann nicht geliebt von den Eltern und hatte den Eindruck, die Mutter mag den Hund mehr als ihn. Was ist da passiert?
Remschmidt: Dieser junge Mann fühlte sich von den Eltern total vernachlässigt und, um es auf einen Punkt zu bringen, dass der Hund für die Mutter wichtiger war als er selbst. Dieser junge Mann hat dann auch noch ein anderes Motiv gehabt: Er wollte eigentlich – völlig unrealistisch natürlich – die Firma der Familie übernehmen. Er hat gemeint, wenn er die Eltern umbringen lässt, dann kann er schließlich diese Firma übernehmen und keiner wird es herausbringen. Und dann hat er einen Täter ausfindig gemacht, und der hat dann die Tat ausgeführt, und er fühlte sich danach erleichtert. Das muss man so sehen, das ist ein völlig falsches, natürlich auch ein subjektives Gefühl der extremen Vernachlässigung, des Liebesentzugs durch die Eltern, und das hat dann schließlich gemeinsam mit dem anderen Motiv, Habgier, zu dieser schweren Tat geführt. Interessant ist, dass derselbe – ich hatte ja die Gelegenheit, in das Strafregister Einblick zu nehmen –, dass derselbe Mann dann, als er größer war, eine Bande entwickelt hat, indem sie Medikamente gefälscht haben. Er wurde dann wegen Medikamentenfälschung vor einigen Jahren zu einer weiteren Haftstrafe verurteilt.
Karkowsky: Weitere Haftstrafe, das heißt, er war, nachdem er den Mord an den Eltern beauftragt hatte, wieder auf freiem Fuß. Da sagen viele, wie kann das sein, und fordern härtere Strafen. Was meinen Sie?
Remschmidt: Er war wieder auf freiem Fuß, die Haftstrafen sind ja begrenzt, und bei solchen Fällen kann man nicht immer Sicherungsverwahrung als Urteil aussprechen. Härtere Strafen würde ich nicht befürworten, ich würde aber sagen, dass das Strafrecht nicht immer ausgeschöpft wird. Es gibt bei jungen Menschen häufig eine Entwicklung, die dazu führt, dass sie immer wieder Bewährung bekommen, und Bewährung wird von manchen Jugendlichen so empfunden, als wäre das keine Strafe. Mir hat ein Messerstecher, der durch einen Messerstich einen anderen getötet hat, gesagt – der hatte vorher schon über 20 Taten begangen, anderer Art, auch Gewalttaten: Wäre ich doch früher ergriffen worden und hätte man das unterbunden, dann wäre diese Tat nicht passiert.
Karkowsky: Am Schluss noch mal die heikle Frage: Warum sind wir Menschen so fasziniert von den Tätern, wo uns doch eigentlich die bedauernswerten Opfer und ihre Angehörigen viel mehr interessieren müssten?
Remschmidt: Wissen Sie, das hat damit zu tun, dass das Böse insgesamt eine große Faszination ausübt. Es gibt im Fernsehen manche Abende, da sehen Sie nur noch Krimis. Besonders in einer Zeit, wo wir selbst nicht so sehr bedroht sind, jedenfalls in Deutschland, hier nicht so viel Schlimmes passiert wie Kriege, da ist die Faszination des Bösen besonders ausgedrückt. Es gibt verschiedene Publikationen darüber, die zeigen, dass über Generationen hinweg die Faszination des Bösen eine große Rolle spielt. Das ist das Prickelnde, was der Zuschauer im Lehnstuhl erleben will, weil er demselben Gott sei Dank nicht selbst ausgesetzt ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Helmut Remschmidt "Wenn junge Menschen töten. Ein Kinder- und Jugendpsychiater berichtet"
C.H. Beck, München 2019
287 Seiten, 18 Euro

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