Gespräche unter Toten
Auf dem Invalidenfriedhof in Berlin liegen zahlreiche Berühmtheiten begraben. In Uwe Timms Roman "Halbschatten" kommen diese historischen Figuren miteinander ins Gespräch.
"An diesem Ort liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben", heißt es in Uwe Timms neuem Roman, dessen Inspirationsquelle der Invalidenfriedhof in Berlin ist, der sogenannte "Heldenfriedhof", wo preußische Minister und Militärs wie Scharnhorst, Jagdflieger des Ersten Weltkriegs wie Udet oder Richthofen, Verschwörer des 20. Juli und Nazi-Größen wie Heydrich begraben liegen. Dieser symbolstarke Ort für preußische, deutsche und NS-Geschichte ist Timms eigentlicher Romanheld.
"Halbschatten" ist eine akustische Inszenierung, eine Art Hörroman. Ein Stimmengewirr dringt aus den Gräbern – Totengespräche über die Epochen hinweg entspinnen sich. Der "Halbschatten" des Titels meint die Grauzone, das Zwischenreich von Toten, die noch nicht gänzlich ins Schattenreich eingegangen sind. Als Friedhofs-Guide dient "Der Graue", eine symbolisch aufgeladene Figur in Feldgrau, ein grauer Totenengel.
Eine tollkühne Frau liegt inmitten all der gefallenen Heerführer und Militärs: Marga von Etzdorf (1907–1933), eine Fliegerin, die in den 1920er Jahren mit verwegenen Alleinflügen bis nach Japan berühmt wurde und sich mit 25 Jahren das Leben nahm – aus Scham über drei Bruchlandungen, die ihr den Spottnamen "Bruchmarie" eingetragen haben. Aus unglücklicher Liebe? Aus Verzweiflung über ihren ökonomischen Ruin oder darüber, von den Nazis als Spionin instrumentalisiert worden zu sein?
Uwe Timm macht Marga zu seiner Zentralgestalt, dekliniert alle möglichen Gründe für ihren Selbstmord durch und stellt der historischen Marga eine fiktive Kontra-Figur vis-á-vis: den Kampfflieger, Diplomaten, Weltenbummler und Waffenhändler Christian von Dahlem. Die beiden verbringen eine keusche Nacht in Hiroshima miteinander, in der sie einander ihr Leben erzählen.
Mit dieser raffinierten Montage aus Dokumentation und Fiktion, in der historische und erfundene Gestalten miteinander ins Gespräch kommen, setzt Uwe Timm seine dokumentarisch-literarischen Versuchsanordnungen zur deutschen Mentalitätsgeschichte fort, zu der schon seine SS-Studie "Am Beispiel meines Bruders" und sein Benno-Ohnesorg-Roman "Der Freund und der Fremde" gehörten. "Halbschatten" treibt nun historische Spurensuche am zugleich prekärsten und plausibelsten Ort – dort, wo die deutsche Geschichte begraben liegt.
Rezensiert von Sigrid Löffler
Uwe Timm: Halbschatten
Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
270 Seiten, 18,99 Euro
"Halbschatten" ist eine akustische Inszenierung, eine Art Hörroman. Ein Stimmengewirr dringt aus den Gräbern – Totengespräche über die Epochen hinweg entspinnen sich. Der "Halbschatten" des Titels meint die Grauzone, das Zwischenreich von Toten, die noch nicht gänzlich ins Schattenreich eingegangen sind. Als Friedhofs-Guide dient "Der Graue", eine symbolisch aufgeladene Figur in Feldgrau, ein grauer Totenengel.
Eine tollkühne Frau liegt inmitten all der gefallenen Heerführer und Militärs: Marga von Etzdorf (1907–1933), eine Fliegerin, die in den 1920er Jahren mit verwegenen Alleinflügen bis nach Japan berühmt wurde und sich mit 25 Jahren das Leben nahm – aus Scham über drei Bruchlandungen, die ihr den Spottnamen "Bruchmarie" eingetragen haben. Aus unglücklicher Liebe? Aus Verzweiflung über ihren ökonomischen Ruin oder darüber, von den Nazis als Spionin instrumentalisiert worden zu sein?
Uwe Timm macht Marga zu seiner Zentralgestalt, dekliniert alle möglichen Gründe für ihren Selbstmord durch und stellt der historischen Marga eine fiktive Kontra-Figur vis-á-vis: den Kampfflieger, Diplomaten, Weltenbummler und Waffenhändler Christian von Dahlem. Die beiden verbringen eine keusche Nacht in Hiroshima miteinander, in der sie einander ihr Leben erzählen.
Mit dieser raffinierten Montage aus Dokumentation und Fiktion, in der historische und erfundene Gestalten miteinander ins Gespräch kommen, setzt Uwe Timm seine dokumentarisch-literarischen Versuchsanordnungen zur deutschen Mentalitätsgeschichte fort, zu der schon seine SS-Studie "Am Beispiel meines Bruders" und sein Benno-Ohnesorg-Roman "Der Freund und der Fremde" gehörten. "Halbschatten" treibt nun historische Spurensuche am zugleich prekärsten und plausibelsten Ort – dort, wo die deutsche Geschichte begraben liegt.
Rezensiert von Sigrid Löffler
Uwe Timm: Halbschatten
Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
270 Seiten, 18,99 Euro