Gespür für den Augenblick
Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des ostdeutschen Fotorealismus - seine Arbeiterreportagen, Landschaftsaufnahmen und vor allem die schlichten Porträts von Künstlern machten Roger Melis bekannt. Jetzt widmet die Galerie C/O Berlin dem im vergangenen Herbst verstorbenen Fotografen eine Retrospektive.
Am Anfang der Ausstellung blickt man auf ein Trümmerfeld – dazwischen ragen Mauerreste einer Kirche gen Himmel – als letzte Steine, die von dem Gotteshaus nach dem Krieg noch übereinander liegen blieben. Davor steht noch aufrecht ein Ehrenmal, am Sockel lehnt ein Kranz als stilles Zeichen der Trauer.
"Das ist hier ein Foto aus Dresden. Mitte der 60er-Jahre. Das ist das älteste Reportage-Foto von Roger Melis, das ich kenn. Das war sein erster Auftrag, und den hat er damals vom Hamburger Magazin 'Merian' bekommen. Und da ist eine Serie von Fotografien entstanden","
erläutert Mathias Bertram. Der Stiefsohn von Roger Melis verwaltet den Nachlass des fotografischen Werks. Es ist eine frühe Fotografie von Roger Melis, die zeigt, was auch die späteren Arbeiten des 1940 in Berlin geborenen Künstlers ausmacht: ein genauer Blick für das, was er abbildet. Ein Gespür für den Ort, die Menschen die dort leben.
Melis verstand es, genau in dem einen, dem richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken, der weit über sich hinaus wirkte. Egal, ob er die kargen Weiten der Uckermärkischen Landschaft ablichtet und die dazu passenden, herben Gesichter der Bauern. Ob er zerfallende Hinterhöfe in Berlin-Prenzlauer Berg fotografiert und so cool wie erlebnishungrig dreinblickende Halbstarke auf dem Rummel. Es sind niemals spektakuläre oder gar inszenierte Bilder. Sondern einfach Aufnahmen vom Land und seinen Leuten, von den Städten und ihren Bewohnern.
""Er hatte eine Abneigung gegen Künstlichkeit und eigentlich auch einen Kunstwillen in der Fotografie. Ihm ging es immer vielmehr darum, Dinge wahrzunehmen und diese Wahrnehmung festzuhalten. Eine Ergründung des Alltags und des Normalen. Also von Poesie des Alltags hat er immer gesprochen. Das war ihm ganz wichtig. Natürlich war sein Fotografieren in der DDR, obwohl es oft entstanden ist, weil er Aufträge hatte von Zeitschriften, von Magazinen, von Verlagen hat er dabei auch immer versucht, Bilder zu machen, die die offizielle Propaganda unterwandern, die zeigen, wie es real im Land aussah."
Manchmal liegt Ironie in diesem Realismus. Und oft tiefer Ernst. So huscht einem ein Lächeln über die Lippen, wenn eine alte Dame, die Frisur vom Regenhäubchen geschützt, auf eine offiziellen Kundgebung in der DDR dem Klassenfeind recht zaghaft die Faust entgegen reckt. Doch das Lächeln verschwindet, wenn man in das müde Gesicht eines Parteifunktionärs in der Schwedter Provinz blickt.
Ton Roger hat mal gesagt, dass er alle Leute immer versucht hat zu porträtieren mit einer Ehrfurcht vor dem Individuum. Und das darauf jeder Anspruch hatte -auch der Volkspolizist, der Parteisekretär, der in seinen Überzeugungen lebt, und die auf jeden Fall erstmal ernst genommen werden sollen.
Das galt auch für die zahlreichen Porträts von Intellektuellen, die er im Auftrag der "FAZ", der "Zeit", aber auch der ostdeutscher Magazine ablichtete. Letztere sahen mit den zunächst auf Grund persönlicher Verbindungen im Westen publizierten Fotos eine Möglichkeit, sich positiv zu positionieren und ließen Roger Melis auch im Ausland arbeiten. Vielleicht, weil seine Fotos den Menschen zeigten, weniger den Oppositionellen. Persönlichkeiten – keine Posen. Oder wenn, dann zumindest eigenwillige. Man sieht Anna Seghers, nachdenklich den Kopf mit der Hand stützend, Günter Grass gestenreich mit Zigarette, Wolf Biermann als "Preußischen Ikarus" vor dem ins Geländer der Weidendammer Brücke geschmiedeten Adler. Dieses Foto entstand 1975 in Berlin - ein Jahr vor der Ausbürgerung des Liedermachers.
Danach dokumentierte Roger Melis den Bruch mit dem DDR-Regime, den dieses Ereignis für Viele bedeutete. Er fotografierte Sarah Kirsch auf gepackten Kisten sitzend, Bettina Wegener in ihrer Wohnung vor leeren, schon bilderlosen Wänden. Freunde, Weggefährten gingen, wurden gegangen. Roger Melis blieb.
So wie er 1961 geblieben war. Da war er gerade zurückgekommen von einem halben Jahr als Schiffsjunge auf See und wollte gleich wieder weg aus dem nun eingemauerten Ost-Berlin. Er blieb auf Bitten seines Stiefvaters, des Dichters Peter Huchel, der Repressalien fürchtete und eroberte sich als Fotograf Freiräume. Aber er stieß auch an Grenzen. So durfte Roger Melis wegen eines Beitrages für das Magazin "GEO" ab 1981 nicht mehr für die DDR-Presse arbeiten und konzentrierte sich danach auf seine Buchprojekte – etwa den Bildband "Paris zu Fuß". Nochmals der Publizist und Buchgestalter Mathias Bertram:
"Ihm war ja völlig bewusst als er nach Paris fuhr 1982, dass es eigentlich eine 'tot fotografierte' Stadt ist. Und es war sicher auch ein großer Druck für ihn, da noch mal was Neues zu fotografieren. Und er hat sich gewiss nicht dahin geflüchtet – na ja in der DDR gibt es das ja noch nicht, sondern er hat sich gemessen an der Internationalen Fotografie. Ich glaube nicht, dass er ein Selbstbild hatte, dass er sich als DDR-Fotograf verstanden hat. Sondern er hat sich als Fotograf verstanden, der in der DDR lebt."
In der Tat war Roger Melis Blick international geprägt. Beeinflusst vom sachlichen Realismus eines August Sanders oder Robert Franks machte er seine akribischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht nur in Paris, auch in London, in Polen, in Moskau. Diese Fotos, die auf seinen Reisen gen Osten entstanden, werden zum Teil erstmals in der Ausstellung bei C/O-Berlin gezeigt. Es sind typische Bilder von Roger Melis – unaufgeregt und doch mit Gespür für den Augenblick lichtet er etwa den beinamputierten Mann ab, der auf einem Brett zwischen den Autos auf Moskaus Straßen umherrollt.
Als stiller Beobachter dokumentiert er die Klage der Hinterbliebenen bei einer orthodoxen Trauerfeier. "Roger Melis - Chronist und Flaneur" lautet der Titel der Berliner Ausstellung passenderweise. Denn der im vergangenen Herbst verstorbene Fotograf war beides. Und egal, ob er in seinen Porträts und Reportagen die Gesellschaft, in der er lebte, dokumentierte oder auf seinen Reisen durch die Straßen ging – er tat es immer mit dem Blick für die Menschen und ihr wahres Leben.
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"Das ist hier ein Foto aus Dresden. Mitte der 60er-Jahre. Das ist das älteste Reportage-Foto von Roger Melis, das ich kenn. Das war sein erster Auftrag, und den hat er damals vom Hamburger Magazin 'Merian' bekommen. Und da ist eine Serie von Fotografien entstanden","
erläutert Mathias Bertram. Der Stiefsohn von Roger Melis verwaltet den Nachlass des fotografischen Werks. Es ist eine frühe Fotografie von Roger Melis, die zeigt, was auch die späteren Arbeiten des 1940 in Berlin geborenen Künstlers ausmacht: ein genauer Blick für das, was er abbildet. Ein Gespür für den Ort, die Menschen die dort leben.
Melis verstand es, genau in dem einen, dem richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken, der weit über sich hinaus wirkte. Egal, ob er die kargen Weiten der Uckermärkischen Landschaft ablichtet und die dazu passenden, herben Gesichter der Bauern. Ob er zerfallende Hinterhöfe in Berlin-Prenzlauer Berg fotografiert und so cool wie erlebnishungrig dreinblickende Halbstarke auf dem Rummel. Es sind niemals spektakuläre oder gar inszenierte Bilder. Sondern einfach Aufnahmen vom Land und seinen Leuten, von den Städten und ihren Bewohnern.
""Er hatte eine Abneigung gegen Künstlichkeit und eigentlich auch einen Kunstwillen in der Fotografie. Ihm ging es immer vielmehr darum, Dinge wahrzunehmen und diese Wahrnehmung festzuhalten. Eine Ergründung des Alltags und des Normalen. Also von Poesie des Alltags hat er immer gesprochen. Das war ihm ganz wichtig. Natürlich war sein Fotografieren in der DDR, obwohl es oft entstanden ist, weil er Aufträge hatte von Zeitschriften, von Magazinen, von Verlagen hat er dabei auch immer versucht, Bilder zu machen, die die offizielle Propaganda unterwandern, die zeigen, wie es real im Land aussah."
Manchmal liegt Ironie in diesem Realismus. Und oft tiefer Ernst. So huscht einem ein Lächeln über die Lippen, wenn eine alte Dame, die Frisur vom Regenhäubchen geschützt, auf eine offiziellen Kundgebung in der DDR dem Klassenfeind recht zaghaft die Faust entgegen reckt. Doch das Lächeln verschwindet, wenn man in das müde Gesicht eines Parteifunktionärs in der Schwedter Provinz blickt.
Ton Roger hat mal gesagt, dass er alle Leute immer versucht hat zu porträtieren mit einer Ehrfurcht vor dem Individuum. Und das darauf jeder Anspruch hatte -auch der Volkspolizist, der Parteisekretär, der in seinen Überzeugungen lebt, und die auf jeden Fall erstmal ernst genommen werden sollen.
Das galt auch für die zahlreichen Porträts von Intellektuellen, die er im Auftrag der "FAZ", der "Zeit", aber auch der ostdeutscher Magazine ablichtete. Letztere sahen mit den zunächst auf Grund persönlicher Verbindungen im Westen publizierten Fotos eine Möglichkeit, sich positiv zu positionieren und ließen Roger Melis auch im Ausland arbeiten. Vielleicht, weil seine Fotos den Menschen zeigten, weniger den Oppositionellen. Persönlichkeiten – keine Posen. Oder wenn, dann zumindest eigenwillige. Man sieht Anna Seghers, nachdenklich den Kopf mit der Hand stützend, Günter Grass gestenreich mit Zigarette, Wolf Biermann als "Preußischen Ikarus" vor dem ins Geländer der Weidendammer Brücke geschmiedeten Adler. Dieses Foto entstand 1975 in Berlin - ein Jahr vor der Ausbürgerung des Liedermachers.
Danach dokumentierte Roger Melis den Bruch mit dem DDR-Regime, den dieses Ereignis für Viele bedeutete. Er fotografierte Sarah Kirsch auf gepackten Kisten sitzend, Bettina Wegener in ihrer Wohnung vor leeren, schon bilderlosen Wänden. Freunde, Weggefährten gingen, wurden gegangen. Roger Melis blieb.
So wie er 1961 geblieben war. Da war er gerade zurückgekommen von einem halben Jahr als Schiffsjunge auf See und wollte gleich wieder weg aus dem nun eingemauerten Ost-Berlin. Er blieb auf Bitten seines Stiefvaters, des Dichters Peter Huchel, der Repressalien fürchtete und eroberte sich als Fotograf Freiräume. Aber er stieß auch an Grenzen. So durfte Roger Melis wegen eines Beitrages für das Magazin "GEO" ab 1981 nicht mehr für die DDR-Presse arbeiten und konzentrierte sich danach auf seine Buchprojekte – etwa den Bildband "Paris zu Fuß". Nochmals der Publizist und Buchgestalter Mathias Bertram:
"Ihm war ja völlig bewusst als er nach Paris fuhr 1982, dass es eigentlich eine 'tot fotografierte' Stadt ist. Und es war sicher auch ein großer Druck für ihn, da noch mal was Neues zu fotografieren. Und er hat sich gewiss nicht dahin geflüchtet – na ja in der DDR gibt es das ja noch nicht, sondern er hat sich gemessen an der Internationalen Fotografie. Ich glaube nicht, dass er ein Selbstbild hatte, dass er sich als DDR-Fotograf verstanden hat. Sondern er hat sich als Fotograf verstanden, der in der DDR lebt."
In der Tat war Roger Melis Blick international geprägt. Beeinflusst vom sachlichen Realismus eines August Sanders oder Robert Franks machte er seine akribischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht nur in Paris, auch in London, in Polen, in Moskau. Diese Fotos, die auf seinen Reisen gen Osten entstanden, werden zum Teil erstmals in der Ausstellung bei C/O-Berlin gezeigt. Es sind typische Bilder von Roger Melis – unaufgeregt und doch mit Gespür für den Augenblick lichtet er etwa den beinamputierten Mann ab, der auf einem Brett zwischen den Autos auf Moskaus Straßen umherrollt.
Als stiller Beobachter dokumentiert er die Klage der Hinterbliebenen bei einer orthodoxen Trauerfeier. "Roger Melis - Chronist und Flaneur" lautet der Titel der Berliner Ausstellung passenderweise. Denn der im vergangenen Herbst verstorbene Fotograf war beides. Und egal, ob er in seinen Porträts und Reportagen die Gesellschaft, in der er lebte, dokumentierte oder auf seinen Reisen durch die Straßen ging – er tat es immer mit dem Blick für die Menschen und ihr wahres Leben.
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