Gestern Libyen, morgen Syrien?
So sprunghaft und aktionistisch die NATO in ihr libysches Abenteuer stolperte, so wenig ist ein spontaner Wiederholungsversuch auszuschließen. Doch ein militärisches Eingreifen in Syrien würde die dortige Opferbilanz stark verändern.
40.000 Menschenleben soll der Krieg in Libyen gefordert haben. Diese Zahl jedenfalls hat der Militärsprecher des Nationalen Übergangsrates in Tripolis kürzlich genannt.
Etwa zeitgleich mit der Erhebung gegen den libyschen Alleinherrscher Muammar al-Gaddafi begannen in Syrien die Demonstrationen gegen Präsident Baschar al-Assad. Dort schätzt das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte die Zahl der bisher Getöteten auf 3500 Personen.
Das ist ein Zehntel der libyschen Kriegstoten. Und Syrien hat drei Mal mehr Einwohner als Libyen. Was erklärt den auffälligen Unterschied in den Opferbilanzen der beiden Krisenschauplätze?
Die Antwort liegt auf der Hand: Binnen Wochen eskalierte in Libyen der Bürgerkrieg zum internationalen Krieg. Mit dem westlichen Bündnis trat eine weitere Konfliktpartei auf den Plan und eine mächtige dazu. Über 26.000 Einsätze alliierter Kampfjets, davon fast 10.000 Bomben- und Raketenangriffe, haben ihre Spuren hinterlassen.
Zwar lautete offiziell der Auftrag, durch Luftschläge die Zivilbevölkerung zu schützen. Doch de facto solidarisierte sich die NATO mit der Anti-Gaddafi-Opposition und unterstützte sie militärisch bis zur vollständigen Niederwerfung des alten Regimes. Ob sie am Ende mehr zivile Opfer verhütete als verursachte, steht dahin.
Von dieser Art Intervention ist Syrien bislang verschont geblieben. Weder in der Brüsseler Bündniszentrale noch in den wichtigsten Hauptstädten regt sich derzeit Begeisterung für einen erneuten Waffengang gegen ein arabisches Land. Auch ließe sich mit denselben gezinkten Karten vom UNO-Sicherheitsrat kaum wieder ein Mandat zum aktiven Eingreifen erlangen.
Dennoch, so sprunghaft und aktionistisch die NATO in ihr libysches Abenteuer stolperte, so wenig ist ein spontaner Wiederholungsversuch auszuschließen. Der Druck dazu wird wachsen, je stärker sich die syrische Protestbewegung radikalisiert. Schon fordert der selbsternannte Nationalrat - aus dem türkischen Exil heraus - die militärische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, und zwar nicht nur zum Schutz der Zivilbevölkerung, sondern ausdrücklich auch zum Sturz von Präsident Assad.
Den Spitzenplatz an Naivität im Umgang mit politischen Umbrüchen hält inzwischen jedoch eine andere Regionalorganisation. Die Arabische Liga legte einen Vier-Punkte-Plan zur Beendigung der Gewalt in Syrien vor. Danach soll die Regierung in Damaskus erstens ihr Militär von den Straßen abziehen, zweitens alle inhaftierten Regimegegner freilassen, drittens internationale Beobachter im Land akzeptieren und viertens den Dialog mit der Opposition aufnehmen.
Gegen keine dieser Auflagen ist etwas einzuwenden, außer dass sie als Paketlösung zum Scheitern verurteilt sind. Warum das so ist, illustriert als bekanntestes zeitgeschichtliches Beispiel das Waffenstillstandsabkommen, das während der Kosovokrise von 1998 zwischen dem serbischen Präsidenten Milošević und dem amerikanischen Unterhändler Holbrooke geschlossenen wurde. Es regelte den vollständigen Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte auf den Stand vor Ausbruch der Kämpfe. Deren Widersachern hingegen, den kosovo-albanischen Aufständischen, wurden keinerlei Pflichten auferlegt.
Wenig realistisch scheint, dass die syrische Führung zusehen wird, wenn ihre Gegner Soldaten, Polizisten und sonstiges Regierungspersonal unter Feuer nehmen oder in Taliban-Manier Sprengfallen legen. Die Arabische Liga nennt ihren Forderungskatalog einen Friedensplan. Frieden ist ein Beziehungsbegriff. Niemand kann für sich allein Frieden haben. Alle Leistungen dazu nur von einer Streitseite zu verlangen, führt allenfalls zur Kapitulation. Wenn das gemeint ist, muss man es sagen – wie im Fall Libyen.
Reinhard Mutz, Jahrgang 1938, studierte nach dem Militärdienst Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte, promovierte über Probleme der Analyse, Kritik und Kontrolle militärischer Macht und habilitierte sich über Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa. 1966 bis 1984 arbeitete er am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin, zuletzt als Assistenzprofessor. Von 1984 bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik. Seine Arbeitsgebiete sind Friedensforschung, Rüstungskontrolle, internationale Sicherheitspolitik.
Etwa zeitgleich mit der Erhebung gegen den libyschen Alleinherrscher Muammar al-Gaddafi begannen in Syrien die Demonstrationen gegen Präsident Baschar al-Assad. Dort schätzt das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte die Zahl der bisher Getöteten auf 3500 Personen.
Das ist ein Zehntel der libyschen Kriegstoten. Und Syrien hat drei Mal mehr Einwohner als Libyen. Was erklärt den auffälligen Unterschied in den Opferbilanzen der beiden Krisenschauplätze?
Die Antwort liegt auf der Hand: Binnen Wochen eskalierte in Libyen der Bürgerkrieg zum internationalen Krieg. Mit dem westlichen Bündnis trat eine weitere Konfliktpartei auf den Plan und eine mächtige dazu. Über 26.000 Einsätze alliierter Kampfjets, davon fast 10.000 Bomben- und Raketenangriffe, haben ihre Spuren hinterlassen.
Zwar lautete offiziell der Auftrag, durch Luftschläge die Zivilbevölkerung zu schützen. Doch de facto solidarisierte sich die NATO mit der Anti-Gaddafi-Opposition und unterstützte sie militärisch bis zur vollständigen Niederwerfung des alten Regimes. Ob sie am Ende mehr zivile Opfer verhütete als verursachte, steht dahin.
Von dieser Art Intervention ist Syrien bislang verschont geblieben. Weder in der Brüsseler Bündniszentrale noch in den wichtigsten Hauptstädten regt sich derzeit Begeisterung für einen erneuten Waffengang gegen ein arabisches Land. Auch ließe sich mit denselben gezinkten Karten vom UNO-Sicherheitsrat kaum wieder ein Mandat zum aktiven Eingreifen erlangen.
Dennoch, so sprunghaft und aktionistisch die NATO in ihr libysches Abenteuer stolperte, so wenig ist ein spontaner Wiederholungsversuch auszuschließen. Der Druck dazu wird wachsen, je stärker sich die syrische Protestbewegung radikalisiert. Schon fordert der selbsternannte Nationalrat - aus dem türkischen Exil heraus - die militärische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, und zwar nicht nur zum Schutz der Zivilbevölkerung, sondern ausdrücklich auch zum Sturz von Präsident Assad.
Den Spitzenplatz an Naivität im Umgang mit politischen Umbrüchen hält inzwischen jedoch eine andere Regionalorganisation. Die Arabische Liga legte einen Vier-Punkte-Plan zur Beendigung der Gewalt in Syrien vor. Danach soll die Regierung in Damaskus erstens ihr Militär von den Straßen abziehen, zweitens alle inhaftierten Regimegegner freilassen, drittens internationale Beobachter im Land akzeptieren und viertens den Dialog mit der Opposition aufnehmen.
Gegen keine dieser Auflagen ist etwas einzuwenden, außer dass sie als Paketlösung zum Scheitern verurteilt sind. Warum das so ist, illustriert als bekanntestes zeitgeschichtliches Beispiel das Waffenstillstandsabkommen, das während der Kosovokrise von 1998 zwischen dem serbischen Präsidenten Milošević und dem amerikanischen Unterhändler Holbrooke geschlossenen wurde. Es regelte den vollständigen Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte auf den Stand vor Ausbruch der Kämpfe. Deren Widersachern hingegen, den kosovo-albanischen Aufständischen, wurden keinerlei Pflichten auferlegt.
Wenig realistisch scheint, dass die syrische Führung zusehen wird, wenn ihre Gegner Soldaten, Polizisten und sonstiges Regierungspersonal unter Feuer nehmen oder in Taliban-Manier Sprengfallen legen. Die Arabische Liga nennt ihren Forderungskatalog einen Friedensplan. Frieden ist ein Beziehungsbegriff. Niemand kann für sich allein Frieden haben. Alle Leistungen dazu nur von einer Streitseite zu verlangen, führt allenfalls zur Kapitulation. Wenn das gemeint ist, muss man es sagen – wie im Fall Libyen.
Reinhard Mutz, Jahrgang 1938, studierte nach dem Militärdienst Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte, promovierte über Probleme der Analyse, Kritik und Kontrolle militärischer Macht und habilitierte sich über Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa. 1966 bis 1984 arbeitete er am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin, zuletzt als Assistenzprofessor. Von 1984 bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik. Seine Arbeitsgebiete sind Friedensforschung, Rüstungskontrolle, internationale Sicherheitspolitik.