Unterwegs mit einem Pflege-Gutachter
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat angekündigt, dass Demenzkranke stärker von der Pflegeversicherung profitieren sollen. Doch was brauchen sie? Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen besuchen derzeit 4000 pflegebedürftige Menschen, um das herauszufinden.
"Ah, da isser. Hallo"
"Guten Tag."
"Hallo, Tach."
"Hallo Guten Tag, Keller ist mein Name."
Gutachter Sebastian Keller wird von Rudi Rühr bereits erwartet und freundlich in dem engen Flur der kleinen Etagenwohnung in Berlin Mitte begrüßt. Der 78-Jährige geleitet den Gutachter ins Wohnzimmer, in dem seine Frau Rita zusammengesunken auf dem Sofa sitzt. Keller packt seinen Laptop aus, tippt alles sofort mit, was an Schilderungen und neuen Fakten aus dem alten Mann nur so heraussprudelt. Sebastian Keller war bereits vor ein paar Monaten bei der Familie, seitdem sind Ritas Gesundheit und vor allem ihr geistiger Zustand rapide schlechter geworden.
Rühr: "Innerhalb von drei Tagen ist es so schlecht geworden. Vorhin liefen die Tränen, weil sie dastand und weiß nicht, was sie anziehen sollte. Also habe ich ihr das rausgesucht und habe sie angezogen, ja. Ich bin schon schusselig, aber sie hat mich jetzt weit überholt."
Intime Fragen gehören zur Begutachtung
Zwischendurch stellt der Gutachter immer wieder Fragen, auch sehr persönliche und intime. Das muss sein, schließlich hat Keller nur eine Stunde Zeit, um sich ein umfassendes Bild zu machen.
"Wir kommen um das Thema nicht drum herum, Thema Toilettengänge, Wasserlassen, Stuhlgang."
Rudi Rühr ist am Ende seiner Kraft. Auch Rita Rühr ist erschöpft, fängt zwischendurch immer wieder an zu weinen. Die beiden Alten hoffen, dass Sebastian Keller für Rita heute eine Pflegestufe feststellt und beide möglichst schnell Hilfe bekommen. Das Dilemma: Rita Rühr ist körperlich durchaus aktiv, aber eindeutig demenzkrank. Die Reform soll solchen Patienten zu Gute kommen. Familie Rühr ist der erste Fall, den Sebastian Keller heute für eine Studie beurteilt, um herauszufinden, ob sich für den konkreten Fall durch die Reform etwas verbessern würde.
Keller: "Mit der normalen Begutachtung hat das jetzt nichts zu tun, damit sind wir jetzt abgeschlossen. Diese Fragen dienen eben dieser Studie, wo das vorbereitet wird. Ja?"
Sebastian Keller bittet Rita Rühr darum, ihre Arme zu heben, die Finger einzeln zusammenzubringen und mit der Hand ihre Füße zu berühren. Er will sehen, was die alte Frau motorisch noch kann und was nicht mehr geht.
"Einen etwas ganzheitlicheren Blick auf den Menschen"
Keller: "Ich verspreche mir davon einen etwas ganzheitlicheren Blick auf den Menschen. Einfach, dass es weg geht von dem relativ strikten Blick auf Waschen, Anziehen, Toilettengänge hin zu: Was ist erforderlich? Wo sind die Hilfen nötig, um dem Menschen wieder zu einer größeren Selbstständigkeit zu verhelfen, zu mehr Teilhabe auch im öffentlichen Leben?"
Bisher soll Sebastian Keller nur feststellen, ob Rita Rühr stehen, gehen, aus dem Bett aufstehen, Treppen steigen, die Wohnung verlassen und sich alleine an- und ausziehen kann. Nach der Reform gibt es dafür Abstufungen. Beispiel: Treppensteigen. Keller muss notieren, ob Rita Rühr das problemlos kann – mit Gehhilfe, mit Hilfe eines anderen Menschen oder eventuell gar nicht mehr. Auch spielen viel mehr Faktoren als bislang eine Rolle. Braucht die alte Frau Hilfe, um ihre Medikamente einzunehmen, kann sie ihre Freundinnen selbstständig besuchen, schafft sie es alleine zum Arzt? Nach einer Stunde klappt Sebastian Keller seinen Laptop zu, verabschiedet sich von Familie Rühr.
Skepsis bei Pflegern
70 Prozent aller alten Menschen werden Zuhause gepflegt, die meisten von ihren Angehörigen. Knapp 750.000 Männer und Frauen leben derzeit in Pflegeheimen wie dem Haus Bethanien. Laut Reformplan von Gesundheitsminister Gröhe soll auch hier 2017 ein anderer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden. Burkhardt Bachnick ist für das Pflegemanagement im Bethanien zuständig und ausgesprochen skeptisch:
"Also ich glaube nicht, dass ich die Pflegereform in meiner berufstätigen Zeit noch erleben werde. Es ist am Ende nicht klar, wie es finanziert werden soll. Die Gesellschaft hat auch gar keine Lust, das zu finanzieren."
Dass der Sozialverband VdK Deutschland jetzt in Karlsruhe die Bundesregierung verklagt, verfolgt Burkhardt Bachnick deshalb gespannt.
"Das halte ich für sehr sinnvoll, dass auch klar gemacht wird, was ist Mindeststandard in der Pflege, was müssen wir leisten? Um das zu vergleichen dann, was letztendlich geleistet wird. Und dann kann man darüber nachdenken: Wenn ihr mehr wollt, was kostet das?"