Wenn der Tic zum Symptom wird
Sie stoßen Laute aus, zucken mit dem ganzen Körper oder grimassieren unkontrolliert: Die Variabilität der Tics bei Menschen mit Tourette-Syndrom ist extrem groß. Oft wird die Krankheit deshalb gar nicht erkannt.
Dabei ist sie weiter verbreitet, als man gemeinhin denkt: Allein in Deutschland gehen die Fachleute von rund 800.000 Betroffenen aus. Und so stellt das Tourette-Syndrom die Forscher immer noch vor viele Rätsel.
"Im Grundschulalter habe ich angeblich Trippelschritte beim Laufen gemacht."
"Gehen Sie mit mir in eine Bücherei und Sie werden ihre Freude haben, ich werde da alles zusammenschreien. Oder auch in der Kirche. Die vokalen Tics kamen eigentlich erst relative spät, mit 23 so dazu, und - das muss ich sagen - war das Allerschlimmste für mich. Das heißt, beim Laufen vor- und zurückgegangen in heftigen Bewegungen und habe Grimassen geschnitten, und dann die stärkeren Tics, das heißt vokale Tics, kamen dann erst in der sechsten Klasse. Also immer da, wo ein Verbot besteht. Auf einer Party, wo die Musik laut ist, wird so gut wie kein Vokaltic von mir rauskommen, weil es ist ja uninteressant für Tourette, so stell ich mir das vor, als ob dieser Kobold mir gerade in den Momenten, wo ich jetzt denke, oh, jetzt muss ich ganz ruhig sein, jetzt muss ich mich konzentrieren, dass dann grad der Drang kommt ahh, irgendwas zu brüllen, und umgekehrt, wenn ich darf, keine Ahnung, wenn ich Squash spielen würde, wo es vielleicht gar nicht schlimm wäre, wenn man laut schreit, dann kommt gar nichts. Das ist auch das Stigmatisierendste ist, weil ich meine, diese körperlichen Dinge, mit dem habe ich selber noch besser umgehen können, als diese vokalen Tics dazu gekommen sind, mit dem hab ich persönlich überhaupt nicht umgehen können, das war ganz schlimm."
1885 veröffentlichte der französische Arzt Georges Gilles de la Tourette eine Studie in der angesehenen Fachzeitschrift Archives de Neurologie, mit dem Titel:
"Étude sur une affection nerveuse caracterisée par l'incoordiantion motrice accompagnée d'echolalie et de coprolalie". "Untersuchung über eine Nervenstörung, die durch Auffälligkeiten der motorischen Koordination gekennzeichnet und von Echolalie und Koprolalie begleitet ist."
Anhand von neun Fallbeispielen beschreibt er eine spezielle Form der Tic-Erkankung: die Kombination motorischer und vokaler Tics. Er dokumentiert auch das ungewöhnliche Verhalten der französischen Marquise de Dampierre, die mitten in Unterhaltungen unvermittelt bizarre Schreie und Worte ausstieß:
"Die Worte sind meistens grobschlächtig, die Aussagen obszön ..., die Ausdrucksweisen sind sehr grob, ungeschliffen und beinhalten wenig vorteilhafte Meinungen über einige der in der Gesellschaft anwesenden Personen." (zitiert nach Kirsten Müller-Vahl, Tourette-Syndrom und andere Tic-Erkrankungen, S. 6)
Seit dieser Studie hat die Erkrankung, die Wissenschaftlern bis heute noch viele Rätsel aufgibt, einen Namen: Tourette-Syndrom.
Müller-Vahl: "Man muss verschiedene Zuckungen haben, diese motorischen Tics und mindestens eine unwillkürliche Lautäußerung, häufig ist das gerade im Beginn eine leise Lautäußerung wie Räuspern, Schniefen, oder Hüsteln. Und diese Symptome müssen mindestens für ein Jahr bestehen, und sie müssen in der Kindheit oder Jugend beginnen."
Eine Fehlfunktion der Regelkreise im Gehirn
Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Schon seit gut 20 Jahren beschäftigt sich die Neurologin mit dem Tourette-Syndrom und anderen Tic-Erkrankungen. Aus ganz Deutschland kommen Betroffene und Angehörige, um Rat bei ihr zu suchen. Doch selbst die Expertin kann nicht alle Fragen beantworten. Klar ist nur, die Tics sind unwillkürliche Handlungen, sie werden nicht bewusst ausgelöst. Eine Fehlfunktion der Regelkreise im Gehirn, die genaue Ursache ist unbekannt.
Müller-Vahl: "Man kann, glaube ich, ganz allgemein erst mal sagen, dass eine gute Hypothese ist, dass die Hemmmechanismen im Gehirn unzureichend sind. Und dass es sozusagen zu einem Ungleichgewicht zwischen den fördernden und hemmenden Mechanismen im Gehirn kommt. Ganz sicherlich ist es so, dass das Tourette-Syndrom nicht an einer Stelle im Gehirn entsteht, sondern wir gehen davon aus, dass es eine Störung in komplexen Regelkreisen zwischen verschiedenen Hirnzentren gibt. Da spielt das Stirnhirn eine Rolle, die sogenannten Basalganglien eine Rolle, da spielt das limbische System sicherlich eine Rolle, und wenn man dann noch eine Ebene tiefer, im Bereich der Hirnbotenstoffe schaut, dann gehen wir davon aus, dass es wahrscheinlich eine Überfunktion im Dopaminsystem gibt, möglicherweise aber auch noch in andern Hirnbotenstoffsystemen."
Topka: "Jetzt gehört zu unserem Erziehungsprogramm, dass wir auch in der Lage sind, Impulse zu unterdrücken, so wie man vielleicht in einem Geschäftsgespräch, wo man sich vielleicht über den Kommentar eines Geschäftspartners ärgert, nicht automatisch immer das sagt, was einem gerade durch den Kopf geht. Es gibt es also im Gehirn nicht nur eine Reihe von Schaltkreisen, die Verhalten fördern, sondern wir können auch Verhalten gezielt stoppen oder unterdrücken und es scheint so zu sein, als ob diese gezielte Unterdrückung eines Impulses nicht so gut funktioniert. Das ist im Grunde das Problem, es baut sich dieser Impuls so auf, dass man letztlich ihm nichts mehr entgegensetzen kann."
Helge Topka, Chefarzt der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie am Klinikum Bogenhausen in München.
Topka: "Also es gibt da eine Schwäche, eine Art Bremsversagen, das dazu führt, dass der Impuls bewertet wird und obwohl man eigentlich weiß, dass man ihm nicht nachgehen sollten, dass man ihm trotzdem freien Lauf lässt, da scheint das Problem zu sein."
Zucken, Blinzeln, Mund verziehen
Leichte Tics kann man bei vielen Kinder beobachten, etwa trippelnde Schrittkombinationen, ein wiederkehrendes Zucken, Blinzeln, Mundverziehen.
Topka: "Es gibt tatsächlich, sagen wir mal auch etwas wohlwollende Studien, die sagen, dass Acht- bis Vierzehnjährige bis zu 30 Prozent vorübergehende Tics haben, das ist aber keine dauerhafte Ticerkrankung und die meisten von diesen Betroffenen entwickeln auch kein Tourette-Syndrom."
Wenn die Tics nicht vergehen und sich als Tourette-Syndrom erweisen, kann das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen komplett aus den Fugen geraten. Bei Sebastian Görg begann die Erkrankung mit motorischen Tics, mit Trippelschritten und unmotivierten Griffen auf den Boden, später, in der sechsten Klasse, kamen vokale Äußerungen dazu. Das reichte von Lauten wie ah, oh, uh bis hin zu Beschimpfungen und Beleidigungen. Und damit begannen die Probleme, vor allem in der Schule: Der damals 13-Jährige ist unruhig, kann nicht still sitzen. Während Prüfungen gibt er Laute von sich, andere Schüler fühlen sich gestört, ihre Eltern beschweren sich.
Görg: "Man hat teilweise eine Ausrede gehabt, wenn man eine schlechte Note geschrieben hat, das heißt, wenn ein Mitschüler eine fünf geschrieben hat, dann hieß es, ja, es lag am Sebastian oder an den Tics, die er hat. Das wurde ausgenutzt, das hat sich bei mir eingefressen, dadurch wurden die Tics selbstverständlich stärker. Und was auch schwerwiegend hinzukommt, war, dass ich starke Echolalie hatte, das Nachahmen von Geräuschen oder Bewegungen, die andere vormachen. Und das hat sich eben dann dahingehend verschlechtert, dass viele Schüler gekommen sind und haben irgendwelche Wörter oder sonstiges mir vorgesagt und ich musste es dann nachsagen, natürlich nicht in normaler Lautstärke, sondern schreiend. Und ja, dadurch hat sich der Stresspegel erhöht und das mit dem Unterdrücken war noch schwieriger."
Sebastian Görg wird schließlich von der Schule verwiesen. Der Direktor erklärt ihn für nicht beschulbar, erinnert sich sein Vater Werner Görg:
"Und noch zwei Monate vorher war Elternabend gewesen und da haben wir noch an die Fachlehrer appelliert, dass er halt hier insbesondere gehandicapt ist durch einen Handrucktic, sprich, wenn er schreiben sollte, hat er den Stift mehr oder weniger abgebrochen, weil er mit viel zu viel Kraft drauf gedrückt hat und dann auch so Kritzelbewegungen gemacht hat, also regelrecht Blätter oder Hefte zerfetzt hat. Und ich hab halt eben appelliert, dass er wenigsten einen Laptop nehmen kann, hier und da mal rausgehen kann, damit er sich austicken kann. Und da war eigentlich mehr oder weniger Zustimmung, Wohlwollen will ich mal nicht sagen, aber Bereitschaft, das zu unterstützen."
Für die Familie beginnt eine Odyssee: Die Eltern wollen, dass ihr Kind weiter aufs Gymnasium geht, schlagen Maßnahmen vor, die in besonderen Fällen auch ganz offiziell von den Schulbehörden empfohlen werden, wie Einzelunterricht in bestimmten Fächern oder dass er bei Prüfungen mit dem Laptop schreiben darf. Am Ende der Bemühungen steht dann ein Wechsel auf die Realschule - wo Sebastian Görg zumindest am Anfang von seinen Mitschülern akzeptiert wird, trotz seiner Tics - bis sich die Zusammensetzung der Klasse ändert. Er verlässt die Realschule. Heute bereitet sich der mittlerweile 23-Jährige auf sein Abitur an einer Fernschule vor.
Görg: "Was die sonstige Umwelt betraf, klar, wenn einer seine Krankheit nicht kannte, und er hat nehmen wir mal einen Schwarzen, dunkelhäutigen, und er hat dann Nigger! gerufen, was von ihm ja nicht zu kontrollieren war, dann hat der natürlich zunächst einmal entsprechend reagiert. Aber er ist dann sofort hingegangen, hat sich entschuldigt und erklärt, dass er nichts dafür kann, dass das eine Krankheit ist, und eine Situation in einer Restauration, wo er hingegangen ist: Ich gebe dir dafür einen aus! Also das hat auch komische Momente, wenn so eine Krankheit dann im Tagesgeschehen zu Tage tritt."
Müller-Vahl: "Ich kenne auch sehr, sehr traurige, sehr bittere Geschichten von Menschen mit Tourette-Syndrom, die in Zugabteilen eingesperrt und dann von der Polizei abgeholt wurden. Oder die auf dem Kinderspielplatz als Kinderschänder beschimpft wurden, das ist schon für die Betroffenen sehr belastend."
Noch ist unklar, wie viele Menschen überhaupt erkrankt sind. Genaue Erhebungen gibt es nicht.
Topka: "Was man sicher sagen kann ist, dass Jungs deutlich häufiger betroffen sind als Mädchen, drei bis vier mal so häufig."
Auch Kirsten Müller-Vahl kann nur auf Untersuchungen verweisen, nach denen schätzungsweise 0,7 bis 1 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. In Deutschland wären das also bis zu 800.000 Menschen. Wobei die Krankheit verschiedene Ausprägungen hat, nicht alle Betroffenen fluchen, wie in dem Film "Vincent will meer", der mit dazu beigetragen hat, dass die Krankheit in der Öffentlichkeit bekannter wurde.
Müller-Vahl: "Dieses Ausrufen obszöner Worte, das besteht bei vielleicht 20, maximal 30 Prozent aller Betroffenen, wobei die Zahl scheint schon relativ hoch, bei nur sehr wenigen kommt es zu permanenten lauten Ausrufen von Schimpfwörtern, viele Patienten, die ich in der Sprechstunde befrage, sagen ja, ich hab das gelegentlich, aber das weiß kaum jemand."
Die Ursachen sind bislang weitgehend unklar
Tourette ist genetisch veranlagt, soviel scheint sicher. Aber nicht in jedem Fall bricht die Krankheit aus, dazu bedarf es weiterer Faktoren - und auch hier wird noch geforscht.
Müller-Vahl: "Da gibt es zahlreiche Spekulationen, also zum Beispiel gibt es Hinweise, dass Komplikationen während der Geburt eine Rolle spielen könnten, Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft könnte eventuell einen Rolle spielen, Stress wird immer wieder diskutiert, weiß man aber nicht genau. Und eine weitere Hypothese, die zurzeit sehr intensiv diskutiert wird, ist die Frage, ob Infekte eine Rolle spielen könnten, insbesondere Infekte mit Streptokokken, dass sich dann im Körper eine Autoimmunreaktion bildet und das Gehirn fälschlicherweise als fremd erkannt wird und dann eine Immunreaktion abläuft und die Krankheit auslöst."
Meist beginnen die Tics im Alter von sieben oder acht Jahren und steigern sich bis zur Pubertät - um danach wieder nachzulassen.
Topka: "Wir wissen aus verschiedenen Untersuchungen, dass die Reifung des Gehirns zwar rasant in den ersten Jahren stattfindet, es aber durchaus Bahnsysteme existieren, deren Reifungsprozesse bis in die Pubertät hineinreichen, nicht nur jetzt irgendwelche kognitiven oder psychischen Verhaltensweisen beeinflussende Systeme, sondern beispielsweise auch motorische Bahnen, mit denen wir Kraft entwickeln, auch die zeigen durchaus, natürlich nicht in dem Maße, aber auch mit 10, 12, 13 ,14 immer noch eine Entwicklung. Und es könnte sein, dass dieses Missverhältnis, das zu der verminderten Blockade führt, in dieser Phase besonders ausgeprägt ist, und während es nachreift, könnte es sein, dass es sich ein bisschen bessert, das wäre eine denkbare Überlegung."
Auch bei Daniela Janitzek wurden die Tics während der Pubertät immer stärker.
Janitzek: "Und da hat man immer gemeint, das sind jetzt so Mucken, wie man in Bayern sagt, so Angewohnheiten, die sich wieder geben, weil ich hab zu dem Zeitpunkt auch den Realschulabschluss gemacht. Und da hat man gedacht okay, das ist quasi wegen der Belastung, wegen den Prüfungen und so weiter. Und ja, dann hat man aber im Laufe der Zeit festgesellt, das gibt sich nicht von selbst, also das ist dann quasi auch nach den Prüfungen, es war dann zwar etwas besser, aber ich hab gemerkt, das kann ich jetzt nicht so einfach abstellen."
Schimpfwörter, die "man gar nicht sagen will"
Daniela Janitzek wächst in einem Dorf auf, jeder kennt jeden - anders als Sebastian Görg wird sie nicht gehänselt, sondern findet Rückhalt bei ihren Freundinnen und Freunden. Dennoch werden die Tics stärker, besonders schlimm auch für sie sind die vokalen Tics, die Schimpfwörter:
"Arschloch oder so was, diverse Schimpfwörter, die man in dem Augenblick gar nicht sagen will und gar nicht denkt, aber das kommt in den Kopf reingeschossen, man sagt dann einfach Sachen über andere, wenn jemand dickes vorbeiläuft, dann sagt man halt da was, das ist ganz, ganz schlimm."
Zu den Schimpfworten und Flüchen kommen Heil-Hitler-Rufe - die sie, ohne es zu wollen, von einem anderen Tourette-Betroffenen übernimmt:
"Da habe ich einen Tourette-Patienten im Fernsehen irgendwo gesehen, der das gemacht hat und schon war es jetzt bei mir. Dann habe ich das als Tic übernommen und das war wirklich, wirklich sehr schlimm, das ist ja was, was man nicht sagt, was man auch nicht sagen will, und ja, und das was halt überall auch anstößt, ist ja klar."
Bei Daniela Janitzek lassen die Tics nach der Pubertät nicht nach, im Gegenteil. Die junge Frau zieht sich zurück, vermeidet es, unter Menschen zu gehen. Kauft übers Internet ein. Fährt mit den Hunden, um mit ihnen spazieren zu gehen raus aus dem Dorf, um nicht zufällig jemanden zu begegnen - und ihn dann zu beschimpfen. Eine schwere Zeit für sie.
"Vor allem weil man nicht gewusst hat, geht das jemals wieder vorbei. Ich mein, ich war damals Mitte 20, da hat man eigentlich mit dem Leben noch nicht abgeschlossen, und ja, da kommen mir jetzt noch so bisserl die Ding, weil ich zu dem Zeitpunkt echt nicht gewusst hab, wie geht es mit mir weiter."
Nicht heilbar
Tourette ist bis heute nicht heilbar, allerdings können die Tics im Erwachsenenalter abnehmen und an Stärke verlieren.
Müller Vahl: "Ich würde mal schätzen, dass es bei 90, 95 Prozent der Patienten nachlässt, und nur bei einigen wenigen Prozenten nicht, und das sind dann eben häufig und leider die Personen, wo es so extrem ausgeprägt ist. Das sind aber auch Personen, wo es schon relativ früh einen Beginn in der Kindheit gab und in der Pubertät so stark ausgeprägt war und da lässt es dann eben oft auch nicht deutlich nach. Warum das so ist, wissen wir überhaupt nicht. Und was auch ein Problem im klinischen Alltag ist: Wir haben keinen Vorhersagewert, das ist natürlich immer die erste Frage von Eltern, wenn wir bei einem Kind von sieben, acht Jahren die Diagnose Tourette-Syndrom stellen, was wird daraus? Und wie viele Tics hat mein Kind, wenn es 15 oder 20 ist, und das können wir im frühen Beginn eigentlich kaum sagen."
Für die Eltern kann es aber auch erleichternd sein, wenn sie nach langer Ärzteodyssee endlich eine Erklärung für das Verhalten ihres Kindes haben. Beim Vater von Sebastian Görg kam noch ein weiteres Gefühl dazu.
Görg: "Also im ersten Moment ist es, man darf es ja eigentlich gar nicht sagen, aber es ist Mitleid, vor allen Dingen, weil man auch weiß, dass man in der Vergangenheit bei manchen Verhaltensweisen appelliert hat an das Kind, dass es sich ganz einfach mal ein bisschen zusammenreißt und das tut einem natürlich in dem Moment unendlich leid, was man dem Kind angetan hat."
Bei der Mehrzahl der Menschen, die an Tourette leiden, kommen neben den Tics noch weitere Erkrankungen hinzu, viele haben ADS oder ADHS, werden von Zwangsgedanken geplagt oder müssen Zwangshandlungen ausführen - beißen sich beispielsweise auf die Zunge oder die Backeninnenseite - oder sie leiden unter Angststörungen und Depressionen.
Mit den Tics umgehen lernen
Auch wenn Tourette als nicht heilbar gilt, gibt es dennoch Behandlungsmöglichkeiten. Etwa eine Verhaltenstherapie. Die Betroffenen können lernen, mit den Tics umzugehen, sie herauszuzögern, wenn sie das Vorgefühl in sich spüren. Oder sie führen ganz gezielt eine Alternativbewegung aus, die mit dem Tic nicht vereinbar ist.
Müller-Vahl: "Wenn man zum Beispiel einen Tic hat mit einem heftigen Kopfrucken nach hinten, dann könnte die Alternativbewegung sein, ein Anspannen der Muskeln mit einer leichten Kopfbewegung nah vorne und beides gleichzeitig geht dann eben nicht."
Gerade bei stärkeren Tics werden auch Medikamente verschrieben, meist Neuroleptika, die das Dopaminsystem herunter regulieren:
Müller Vahl: "Das ist im Einklang mit dieser Hypothese, dass es eben eine Überfunktion in diesem System gibt. Das Problem an den Medikamenten ist a) dass die Tics davon nicht weggehen, sondern nur gemildert werden können. Und was das viel größere Problem noch ist, das Dopaminsystem wird relativ diffus gebremst, und das führt relativ oft zu Nebenwirkungen."
Wie Müdigkeit, Depressionen, Gewichtszunahme. Helge Topka, Chefarzt am Klinikum München/Bogenhausen rät gerade bei Kindern wegen der Nebenwirkungen deshalb zur Vorsicht.
Topka: "Wenn Sie Kinder sehen, sehr lebhafte Kinder, sehr interessierte Kinder, vielleicht sind sie auch mal ein bisschen zu lebhaft, wenn man an das ADHS denkt, aber die sind sehr lebhaft, interessieren sich für alles, sie sind sehr spontan, sie merken, dass die Denkvorgänge sehr schnell stattfinden. Und man kann schon erleben, dass da manche auch selbst das Gefühl gewinnen, dass sie nicht ganz so spritzig sind, wie sie es eigentlich gewohnt waren und das auch als unangenehm empfinden, das kann passieren."
Diese Erfahrung machte auch Jean-Marc Lorber, als er versuchte, seine motorischen und vokalen Tics in den Griff zu bekommen.
Lorber: "Das sind Medikamente, die in erster Linie ein Stück weit ruhig stellen oder einfach die Gesichtsmuskulatur entspannen, stark sedieren, das hab ich alles probiert. Resultat, ich bin entweder gleich am Anfang dabei eingeschlafen oder aber später als man das runter dosiert hatte, fühlte mich einfach ein Stück weit nicht Herr meiner Sinne, deprimiert, also es ist unheimlich auf die Stimmung gegangen, und ich hab immer so gedacht, ich bin ab geschalten, die Tics waren weg, aber ein Teil von mir auch."
Neue Studien zeigen, dass Medikamente auf Cannabisbasis hilfreich sein können.
Müller-Vahl: "Da haben wir selber in Hannover Untersuchungen durchgeführt und ich habe auch eine kleine Gruppe von Patienten, wo wir alle anderen üblichen etablierten Medikamente versucht haben, keinen richtigen Behandlungserfolg hatten, und mit diesen Medikamenten auf Cannabisbasis eine ganz erhebliche Symptomverbesserung erreichen konnten, so dass die Betroffenen zum Teil wieder zur Schule gehen konnten oder ein Studium aufnehmen konnten, was früher undenkbar war."
Jean-Marc Lorber lebt heute ohne Medikamente, er hat sich mit seinen Tics arrangiert, sie als Teil seiner Persönlichkeit angenommen. Schon vor Jahren hat er die Musik für sich entdeckt, als Weg durch die Krankheit.
Mit der Krankheit arrangieren
Lorber: "Ab 19, 20 war das für mich schon so, dass ich ohne Musik zu produzieren, zu komponieren und selber zu singen nicht mehr leben konnte. Das war so toll für mich und auch dieses Gefühl zu haben, dass die Tics während dem Singen weg gehen. Das wurde mir auch immer wieder gesagt, ich hab das stellenweise gar nicht gemerkt, ich sing da, und dann sagen die: du hast jetzt während der drei Lieder gar nicht gezuckt. Echt? Da war ich wie in so einem Rausch, und das würde ich nicht mehr missen wollen, es ist echt toll."
Sebastian Görg plant, nach dem Abitur zu studieren. Auch er hat sich mit seiner Krankheit arrangiert, die Tics sind inzwischen nicht mehr so ausgeprägt. Die Hoffnung, dass sie vollständig verschwinden, hat er aber aufgegeben.
Görg: "Es gibt Phasen, wo man schon sehr niedergeschlagen sein kann, aber wenn man versucht sich damit auseinander zu setzen und es zu akzeptieren, dann nehmen diese Phasen ab. Klar, irgendwann denkt man sich schon mal: Warum ich?"
Daniela Janitzek ist einen anderen Weg gegangen. Auch sie hat verschiedene Medikamente ausprobiert, die bei ihr aber immer nur eine Zeitlang wirkten. Die Nebenwirkungen waren deutlich sichtbar: Sie nahm 20 Kilo zu.
Janitzek: "Ich habe von den Tabletten Dosen genommen, da wo es mich heute wahrscheinlich umhauen würde, aber die habe ich jeden Tag genommen, und habe es wirklich über zehn Jahre lang diese Tabletten, bis zur OP. So ab 18 bis 28, da war ja dann die OP, da habe ich dann die ganze Palette genommen, es gibt nichts, glaube ich, was ich nicht kenne."
Hilfe durch Gehirnschrittmacher
Ihre Mutter las schließlich im Internet von einer neuen Behandlungsmethode, der tiefen Hirnstimulation. Gehirnschrittmacher werden bei Krankheiten wie Parkinson schon seit Jahren erfolgreich implantiert. Bei Tourette ist diese Methode noch in der Phase von Studien, weltweit gibt es vielleicht rund 120 publizierte Fälle.
Janitzek: "Ich habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen und von dem her habe ich nicht großartig drüber nach gedacht, ob das gefährlich ist oder nicht, das macht man dann auch nicht, weil ich war so verzweifelt zu dem Zeitpunkt."
Neun Tourette-Erkrankte wurden bisher in Großhadern, dem Klinikum der Universität München (LMU) operiert. Die Klinik ist neben Hannover und Köln führend in diesem Bereich. Jan Mehrkens leitet den Bereich funktionelle Neurochirurgie.
Mehrkens: "Von den neun Patienten haben sechs Patienten einen sehr, sehr guten Erfolg und bei drei Patienten hat unser Verfahren oder unser Zielpunkt, das ist auch wichtig, nicht funktioniert. Wobei man nicht weiß, ob nicht ein anderer Zielpunkt bei diesen Patienten geholfen hätte."
Seit Ende der 90er-Jahre gehört die tiefe Hirnstimulation zu den Routineverfahren, vor allem bei Morbus-Parkinson. Diese Erfahrungen fließen nun in die Behandlung der Tourette-Patienten mit ein. Man nimmt an, dass ähnliche Bereiche von einer Funktionsstörung betroffen sind. Die Operation erfolgt unter Vollnarkose: Dabei werden zwei Löcher in die Oberseite des Schädels gebohrt, durch die dann zwei Elektroden eingeführt werden. Etwa 14 Zentimeter unterhalb der Schädeldecke liegt der Zielpunkt, im Bereich jener Zentren, die unbewusst unsere Bewegungen steuern.
Mehrkens: "Während der Operation verfolgt man den Verlauf der Elektrode mit einem Röntgengerät. Ich sehe die Elektrode, ich sehe mein Rahmensystem, sehe den Schädelknochen, aber ich sehe das Gehirn selber nicht, sondern das Gehirn sehe ich nur indirekt, auf einem Kernspintomogramm, was vor der OP gemacht worden ist, was dann sozusagen navigiert wird. Die OP läuft dann selber, wenn sie so wollen, blind ab, ich muss mich drauf verlassen, dass meine Bildgebung vor der OP gut genug war, dass mein System perfekt eingestellt ist, dass ich dann wirklich auf den Millimeter genau da ankomme, wo ich hin kommen möchte."
Die Elektroden werden mit einem Kabel, das unter der Haut an Kopf und Hals entlang verlegt wird, mit einem Kästchen in der Größe einer Zigarettenschachtel verbunden, dem Stimulator. Er wird meist auf Höhe des Brustmuskels ebenfalls unter die Haut implantiert. Von dort aus werden die Elektroden mit Strom versorgt. Was die leichten Stromstöße im Gehirn letztlich auslösen, ist noch nicht vollständig erforscht.
Mehrkens: "Man weiß seit vielen Jahren, dass die tiefe Hirnstimulation bei vielen Patienten sehr gut hilft, man weiß aber noch nicht 100 Prozent, was sie genau macht und was sie vermag, warum es zur Besserung kommt. Es gibt Hypothesen und eine ist vor allen Dingen, dass man Zentren, die überaktiv sind durch den Strom, den man lokal einbringt, wieder runterfährt. Andererseits werden Zentren, die zu wenig aktiv sind, werden stimuliert, und werden enthemmt und können wieder aktiv werden, das heißt man versucht mit einem, ich sag mal, freundlichen Störfeuer, die Patienten wieder zu normalisieren, von ihren Strömen, die fließen, auch von den Botenstoffen, die fließen, in diesen Regelkreisläufen."
Das "freundliche Störfeuer" wird an unterschiedlichen Zielpunkten im Gehirn freigesetzt. In Hannover implantieren die Ärzte vier Elektroden. Welcher Zielpunkt der Beste ist, muss sich erst noch zeigen, möglicherweise gibt es mehrere.
Mehrkens: "Es gibt noch keinen klaren Konsens über Zielpunkt, Art der Stimulation und Patientenauswahl, denn beim Tourette-Syndrom habe ich eben ein sehr heterogenes, verschiedenartiges Krankheitsbild mit Untergruppen. Nicht alle schreien die Kraftausdrücke, nicht alle hüpfen und schlagen sich, und da gilt es eben die Patienten auszuwählen, die eventuell auf verschiedene Zielpunkte ansprechen können, auf dieses Verfahren, das wir einsetzen."
Bei Daniela Janitzek hat sich das Leben durch die Operation grundlegend zum Positiven verändert. Sie muss keine Medikamente mehr nehmen und hat abgenommen. Die motorischen und vokalen Tics sind weitgehend verschwunden, in Stresssituationen tauchen sie manchmal noch auf. Aber, und das ist ihr wichtig, das Fluchen und Schimpfen, ist Vergangenheit. Und sie ist Mutter von zwei Kindern geworden. Dass bei ihr eine Technik eingesetzt wurde, die noch gar nicht vollständig erforscht ist, macht der 33-Jährigen keine Sorgen.
Janitzek: "Ehrlich gesagt, ich mach mir da jetzt auch nicht großartig Gedanken, was mal sein könnte oder was das dann für Spätfolgen haben könnte, wenn so ein Hirn Tag und Nacht unter Strom gesetzt wird. Ich bin so froh, dass es mir so geht, wie es ist, selbst wenn das Gerät nur begrenzt halten sollte, gibt es vielleicht wieder was anderes. Und wenn nicht, für mich hat es sich auf alle Fälle rentiert, schon allein aufgrund der Tatsache, dass ich ohne dieses Gerät nie mich getraut hätte schwanger zu werden, also schon allein das ist mir mehr wert als alles andere."
Auch Kirsten Müller-Vahl hält die Operation bei schweren Fällen für sinnvoll. Derzeit wird unter Wissenschaftlern sogar darüber diskutiert, auch schon bei Kindern mit starken Tics einen Hirnschrittmacher zu implantieren.
Müller-Vahl: "Meine persönliche Meinung dazu ist, dass wenn ein Kind wirklich extrem schwer betroffen ist, extrem schwer und beispielsweise nicht mehr die Schule besuchen kann, so heftige Tics hat, dass es sich auch selber verletzt, es gibt ja manche Kinder, die ich kenne, Patienten, die sich ein Auge ausgestochen haben, die sich ein Stück von der Zunge abgebissen haben. Neulich hatten wir einen Jungen, der hat sich die Zähne aus dem Mund rausgezogen, wo wir mit Medikamenten wenig bis gar nichts erreichen konnten. Ich glaube, das sind Patienten, wo wir in der Tat gemeinsam mit den Eltern überlegen sollten, ob eine tiefe Hirnstimulation eventuell eine Alternative ist, das muss man natürlich mit den Eltern alle Vor- und Nachteile diskutieren, aber das Risiko der Operation ist relativ gering, und deswegen glaube ich, ist es durchaus zulässig, darüber nachzudenken."
Hirnschrittmacher werden aber wohl fürs erste das letzte Mittel der Wahl bleiben. So komplex und vielfältig wie das Tourette-Syndrom ist, wird es in absehbarer Zeit keine Behandlung geben, die für alle Betroffenen gleich hilfreich ist. Noch gibt diese Krankheit zu viele Rätsel auf.