Gesundheitsökonom Busse über die Coronakrise

"Wir haben uns in falscher Sicherheit gewogen"

29:47 Minuten
Drei Mitarbeiter vom Gesundheitsamt in Berlin Mitte stehen in Schutzkleidung, in der ambulanten Corona-Test- Einrichtung.
Bei den Gesundheitsämtern wurden ambulante Corona-Test-Einrichtungen installiert - hier im Gesundheitsamt Berlin Mitte. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen
Moderation: Gerhard Schröder |
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Deutschland meistert die Coronakrise besser als viele andere Länder: "Aber wir müssen mehr tun", sagt der Gesundheitsökonom Reinhard Busse. Gesundheitsämter müssten gestärkt, Krankenhäuser besser koordiniert und die Pflege aufgewertet werden.
Erst als die Infektionszahlen in Italien in die Höhe schnellten, hat auch Deutschland die Ausmaße der Coronapandemie erkannt. Und es wurde klar, dass unser Gesundheitssystem relativ schlecht vorbereitet war. Es fehlte an grundlegenden Dingen: Schutzkleidung, Atemmasken, Desinfektionsmittel.
"Wir brauchen eine bessere Steuerung und Koordination", sagt der Berliner Gesundheitsökonom Reinhard Busse auf Deutschlandfunk Kultur. Es werde den Krankenhäusern weitgehend selbst überlassen, für den Ernstfall vorzusorgen. Das müsse sich ändern, hier seien schärfere Regeln und Vorgaben nötig.

In Gesundheitsämter investieren

Eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der Pandemie spielten die Gesundheitsämter, nur seien die in den vergangenen Jahren personell und technologisch völlig vernachlässigt worden. Hier müsse mehr investiert werden, forderte Busse. Auch in der Pflege gebe es dringenden Handlungsbedarf. Die Arbeit müsse attraktiver werden, auch durch eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte in Pflegeheimen.
Angesichts der sich anbahnenden Wirtschaftskrise kämen auch auf das Gesundheitssystem schwierigere Zeiten zu. Alle Ausgaben müssten kritsch überprüft werden, ob sie notwendig seien, sagte Busse. Für Schwarzmalerei sieht er dennoch keinen Anlass. Deutschland gebe zwölf Prozent seiner Wirtschafsleistung für den Gesundheitssektor aus, soviel wie kaum ein anderes Land.

Reinhard Busse, geboren 1963 in Hameln, ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin. Er ist ausgebildeter Arzt und habilitierte ich für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Hochschule Hannover. Er arbeitet als Gutachter und Berater in zahlreichen Kommissionen und Beiräten unter anderen die Weltgesundheitsorganisation und das Bundesgesundheitsministerium.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Deutschland in der Coronakrise, die Zeit des Stillstands ist vorbei. Die Kontaktbeschränkungen werden jetzt schrittweise gelockert, Zeit also für eine Zwischenbilanz. – Wie gut haben wir die Coronakrise gemeistert? Wie gut war unser Gesundheitssystem darauf vorbereitet? Und welche Lehren können wir daraus für die Zukunft ziehen?
Darüber wollen wir jetzt reden mit dem Berliner Gesundheitsökonomen Reinhard Busse. Er ist Professor für Gesundheitsmanagement an der TU Berlin.
Die Infektionszahlen sinken allmählich. Hamburg meldet in dieser Woche sogar: Es gibt keine neuen Erkrankungen. Haben wir also das Gröbste überstanden?
Busse: Ja, fürs Erste zumindest. Also, wir sehen, dass es ja wie eine Welle sozusagen über uns gekommen ist, die immer steiler wurde und dann seit etwa Anfang April auch wieder abgeflacht ist. Jetzt weiß natürlich keiner, ob es das insgesamt war – oder ob es diese berühmte zweite Welle geben wird. Noch hat die kein Land heimgesucht. Insofern ist es eine Befürchtung, aber man weiß ja nie, was noch kommen wird.

Maßnahmen waren notwendig

Deutschlandfunk Kultur: Vielen geht jetzt die Rückkehr zur Normalität, die Lockerungen nicht schnell genug. Können Sie das verstehen?
Busse: Ich kann das einerseits verstehen, insbesondere, wenn jetzt das schöne Wetter kommt, und man natürlich sozusagen wieder sein normales Leben haben will. Und es ist ja auch ganz klar, das Virus ist eben nicht sichtbar. Die Zahlen gehen zurück. Und dabei geht auch die wahrgenommene Gefahr zurück. Aber natürlich sind noch Viren in Umlauf, weil es ja auch noch Infizierte gibt, vielleicht weniger bei uns, aber in anderen Ländern. Wenn wir uns die USA angucken, Brasilien, Türkei und so weiter, aber auch Großbritannien – doch noch relativ nah dran –, dann ist die Gefahr halt noch da. Aber natürlich, die ist uns nicht mehr so bewusst, weil sie ja im Fernsehen auch nicht mehr so übertragen wird wie etwa Anfang März mit den Bildern aus Italien.
Reinhard Busse in der ARD-Talkshow 'hart aber fair' im Studio Adlershof.
Die Gefahr von Corona sei nicht überschätzt worden, meint Reinhard Busse.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Thomas Bartilla
Deutschlandfunk Kultur: Einige sagen jetzt mit Blick auf die sinkenden Zahlen: Die Gefahr ist überschätzt worden. Die Maßnahmen waren völlig überzogen. Ist da was dran?
Busse: Nein. Weil, man weiß natürlich nie, was gewesen wäre, hätte man die Maßnahmen nicht gemacht. Wir können ja schlecht erst ein Experiment machen und sagen: Wir lassen mal einen Teil von Deutschland ohne Maßnahmen und im anderen Teil führen wir Maßnahmen durch und gucken dann, ob die wirklich notwendig sind. Also, es war notwendig, insbesondere angesichts der ja doch exponenziell steigenden Zahlen. Ich glaube, das Exponenzielle wird einfach unterschätzt, da man ja ruckzuck von zehn über hundert auf tausend, Millionen und so weiter geht. Also, wir mussten das machen, um die Gefahr einzudämmen.
Wir haben die, glaube ich, nicht überschätzt, die Gefahr, aber manche der Maßnahmen, auf die wir vielleicht gleich auch noch zu sprechen kommen, auch was das Gesundheitssystem angeht, etwa der Umbau einer Messehalle, waren andererseits auch übertrieben.

Wie gefährlich war Corona eigentlich?

Deutschlandfunk Kultur: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat gesagt: "Gesundheitsschutz ist nicht alles. Das muss ein Abwägungsprozess sein. Man muss auch die Nebenwirkungen zum Beispiel für die Wirtschaft bedenken." – Ist dieser Abwägungsprozess insgesamt gelungen?
Busse: Ich glaube, das war allen – auch Politikern – klar, dass das abgewogen sein muss. Aber in der Akutsituation war es notwendig, die doch steigende Zahl und auch die steigenden Todeszahlen ja einzudämmen.
Der wichtigste Faktor, die Diskussion war ja eigentlich auch: Wie gefährlich ist das Virus eigentlich? Und wir haben ja jetzt für die verschiedenen Länder, auch für uns die sogenannte "Übersterblichkeit". Also, wir sehen jetzt, wie viele Personen sind tatsächlich mehr gestorben als sonst zu dieser Jahreszeit versterben würden. Bei uns war es relativ wenig. Aber wenn wir uns etwa die Zahlen von New York angucken, sehen wir, dass da vier Mal so viele Personen gestorben sind, wie normalerweise zu dieser Jahreszeit. Da sieht man halt auch, wie groß die Gefahr war.

Maßnahmen der Situation des jeweiligen Landes anpassen

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben New York genannt. Es gibt aber auch Länder, die sind einen anderen Weg gegangen. Schweden zum Beispiel oder auch Taiwan. Dort sind Geschäften offen geblieben, Restaurants und Schulen auch. Und sie sind ganz gut durch die Krise gekommen. Was lernen wir daraus?
Busse: Naja, wir lernen daraus erstmal, dass es natürlich nicht die Standardantwort gab und dass die Wirksamkeit nicht von allen Maßnahmen gleich bekannt war.
Wenn wir uns die beiden genannten Länder angucken, dann ist Taiwan natürlich schon in einer Sonderrolle. Es ist eine Insel, ist relativ abgeschieden auch, was den Flugverkehr angeht, und konnte ganz andere Maßnahmen durchführen. Die haben allerdings auch, muss man sagen, eine bessere Dateninfrastruktur. Die haben einen sehr viel genaueren Überblick über die Gesundheit ihrer Bevölkerung auch zu Normalzeiten.
Und in Schweden, würde ich sagen, ist das letzte Urteil auch noch nicht gefällt. Wir sehen in Schweden, dass die Anzahl der Todesfälle – bezogen auf die Bevölkerung – ja doch deutlich höher ist als bei uns und wesentlich höher als in den skandinavischen Nachbarländern Norwegen und Dänemark. Bisher ist das ja ganz offen, ob das wirklich sinnvoll war, was Schweden gemacht hat.
Deutschlandfunk Kultur: Schauen wir mal zurück auf den Anfang der Krise, also auf die Monate Januar, Februar, auch März. Kritiker sagen da: Deutschland hat viel zu lange gezögert, hat zu spät reagiert auf den Ausbruch des Corona-Virus. Ist da was dran?
Busse: Ja und nein, muss man sagen. Der allererste Fall, den wir ja hatten damals bei diesem Autoteilehersteller Webasto, der war am gleichen Tag wie in Italien.
Deutschlandfunk Kultur: Ich glaube, es war der 27. Januar. Ja?
Busse: Genau, der 27. Januar. Und wenn man sich dann überlegt, wie kurz es gedauert hat, bis in Italien die Anzahl der Infizierten doch sehr, sehr stark nach oben gegangen ist, und wir schon Ende Februar, also nur einen Monat später, beunruhigt waren über die Zahlen aus Italien und die Bilder, die wir dann gesehen haben. Und was ist in der Zeit bei uns passiert?
Deutschlandfunk Kultur: Nicht viel.

Karneval und Urlaubsfahrten trotz Pandemie

Busse: Naja, wir haben die Infiziertenketten nachverfolgt. Wir haben bei Webasto die Fälle nachverfolgt. Die Gesundheitsämter waren aktiv, die ja die letzten Jahrzehnte eher heruntergewirtschaftet worden sind. Also, ich glaube, wir haben durch unsere Strategie, sozusagen dass wir gesagt haben, wir wollen das eindämmen, das ist uns besser gelungen als anderen Ländern.
Deutschlandfunk Kultur: Also, 27. Januar, erster Fall in Deutschland. Am 28. Januar hat der Chef-Virologe der Berliner Charité Christian Drosten gesagt: "Wir müssen uns Gedanken machen über ein Pandemieszenario." Dann gehen wir vier Wochen weiter. In Deutschland wird Karneval gefeiert. Die Menschen fahren in Urlaub. Die feiern in Bayern den politischen Aschermittwoch, also Ereignisse, Großveranstaltungen, die natürlich dazu beigetragen haben, dass das Virus sich so massiv ausweiten konnte. Hätte man das nicht vermeiden können?
Busse: Naja, sozusagen dadurch, dass wir die Infektionswege nachverfolgt haben, das war einerseits natürlich gut und wichtig und hat dazu geführt, dass wir Zeit gewonnen haben, bis dann tatsächlich die Fallzahlen nach oben gegangen sind. Andererseits, weil wir das hinauszögern konnten, hat uns das vielleicht auch in falscher Sicherheit gewogen, dass wir das doch auch ohne größere Maßnahmen hinbekommen. Uns ist das ja erst klargeworden mit den Bildern aus Italien.
Also, wir hätten mehr machen müssen, ganz klar. Und ja, wir erinnern uns, glaube ich, noch alle gut dran, dass dann Anfang März dann doch die Diskussion um die Großveranstaltungen angelaufen ist – etwas zu spät für den Karneval. Der war schon durch. Aber jeder weiß da noch, dass es nur eine Woche gedauert hat, bis man doch sozusagen erst Veranstaltungen über Tausend... Und dann ging es ruckzuck runter innerhalb von ein paar Tagen. Das hätte man, retrospektiv betrachtet, durchaus schon eine Woche oder zwei Wochen früher diskutieren müssen.

Nachher ist man immer schlauer

Deutschlandfunk Kultur: Jetzt kann man sagen: Nachher ist man immer schlauer. Aber hätte man die Gefahr nicht erkennen können? Ich erinnere mich an den Gesundheitsminister Jens Spahn, der Mitte Februar noch gesagt hat: "Eine Pandemie ist eine völlig irreale Vorstellung." – Also, es brauchte offenbar diese Bilder aus Italien von chaotischen Zuständen, damit hier auch die Verantwortlichen aufgewacht sind, weil wir tatsächlich zu wenig wussten über die realen Gefahren oder weil wir sie doch sträflich unterschätzt haben?
Busse: Also, ich glaube, wenn wir nur alle ehrlich zu uns selber sind, und das soll jetzt nichts entschuldigen, dann war das keinem klar, dass so eine Pandemie tatsächlich uns oder Europa mit dieser Wucht erreichen würde.
Weil, jeder hat dann doch gedacht: Na, bei dem letzten Mal, also, bei Sars-1, bei der Vogelgrippe und so weiter, das waren doch eher lokale Ereignisse. Und auch diesmal war es wieder so: Es war allen klar, dass einzelne Fälle natürlich aus China zu uns rüberschwappen würden. Bevor das in Italien passiert ist, war das eine Befürchtung, aber ich glaube, es hätte auch kein Politiker alle Schulen schließen können. Sozusagen, das wäre dann im Nachhinein wahrscheinlich tatsächlich sehr groß diskutiert worden. Also, die Gefahr musste auch erst sehr real sein, damit die Bevölkerung auch die Maßnahmen akzeptiert.

Maßnahmen sind "sehr, sehr schnell" angelaufen

Deutschlandfunk Kultur: Ende Februar erst hat die Bundesregierung einen Krisenstab eingerichtet. Und es dauerte dann nochmal drei Wochen, bis dann die Bundeskanzlerin sich an die Öffentlichkeit gewandt hat und gesagt hat, nachdem die Weltgesundheitsorganisation dann auch offiziell den Pandemiefall ausgerufen hat: Ja, es ist ernst. Bitte nehmen Sie es ernst! Also, man kann nicht sagen, dass Deutschland da vorneweg gegangen ist.
Busse: Andere Länder waren ja eher noch langsamer beziehungsweise mussten noch schneller lernen dann, weil die Fallzahlen noch zügiger stiegen. Und der große Unterschied in anderen Ländern war ja, dass tatsächlich das Gesundheitssystem direkt betroffen war. Das lag daran, dass die sich halt weniger Gedanken gemacht hatten: Wohin gehen eigentlich Personen, die jetzt den Verdacht haben, dass sie an Covid-19 erkrankt sind, wo gehen die eigentlich hin? In den meisten Ländern sind die direkt in die Krankenhäuser gegangen. Während wir ja sehr früh der Bevölkerung vermitteln konnten, dass sie im Verdachtsfalle zum Hausarzt gehen sollte. Dann wurden diese Testzentren eingerichtet. Also, all das ist ja auch passiert.
Natürlich wird man jetzt im Nachhinein sagen: Man hätte das noch früher, noch besser organisieren müssen. Ich gehöre auch dazu, zu sagen, wir hätten das noch klarer kommunizieren müssen, auch: Wo geht man hin? Wo sind die Testzentren? Und wie teilen wir die Krankenhäuser auf? Also, welche Krankenhäuser konzentrieren sich auf Covid-Fälle? Welche Krankenhäuser bleiben davon frei? Das hätte man alles früher machen können. Aber es ist dann ja doch sehr, sehr schnell auch angelaufen, wenn wir uns die mittlere Märzdekade, also, so ab dem 10. März, nochmal in Erinnerung rufen.

Krankenhäuser entscheiden eigenverantwortlich

Deutschlandfunk Kultur: Herr Busse, Sie haben das angesprochen. Anfangs fehlte es an vielem, auch an Grundsätzlichem – an Schutzkleidung, an Masken, an Desinfektionsmitteln – in Krankenhäusern und in Pflegeheimen. Das spricht nicht für eine gute Krisenprävention.
Busse: Das liegt daran, dass wir in Deutschland ja kein sehr stark reguliertes Gesundheitssystem haben. Das mag dem einen oder der anderen jetzt merkwürdig vorkommen, weil man immer eher von Überregulierung hört. Aber das ist ja im Vergleich zu anderen Ländern nicht. Wir gehen davon aus, so heißt es auch im Gesetz, was die Krankenhäuser regelt, dass die Krankenhäuser etwa eigenständig wirtschaften, eigenverantwortlich handeln, sodass der Gesetzgeber und wir als Gesellschaft einen großen Vertrauensvorschuss den Akteuren geben und sagen: Na, die wissen schon, was sie tun.
In diesem Falle hat sich herausgestellt, dass das halt nicht so war. Die Krankenhäuser, die es betroffen hat, die haben das unterschätzt, dass irgendwann eben die Masken auch ausgehen können.

Schutzausstattung wurde nicht kontrolliert

Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ja nationale Pandemiepläne schon seit vielen Jahren, seit über 15 Jahren. Steht da nirgendwo, ausreichend Schutzkleidung, Beatmungsgeräte, Masken müssen vorrätig gehalten werden?
Busse: Ja. Also, wer den Pandemieplan anguckt, der stellt als erstes fest, dass es tatsächlich mehr um die frühe Phase geht, also die Eindämmung. Was erzählt man der Bevölkerung mit den Hustenregeln, Abstandsregeln und so weiter? Es gibt in den hinteren Teilen auch Ausführungen zum Gesundheitssystem. Da steht genau drin, was ich gerade gesagt habe, dass die Akteure selber, also die Arztpraxen, die Krankenhäuser, genügend Schutzausstattung vorrätig halten müssen.
Aber es ist nicht irgendwie angedacht, dass die etwa das melden müssen. Das haben wir ja jetzt gemerkt, dass wir noch nicht mal wussten in Deutschland, wie viele Beatmungsbetten gibt es eigentlich. Also, wie viele Intensivplätze haben eigentlich Beatmungsgeräte? Das wusste bei uns überhaupt keiner.
Das Gleiche gilt halt für viele andere Dinge, dass wir den Krankenhäusern sagen, macht das mal schön. Und wir haben nie abgefragt, ob die das eigentlich auch machen und wie viele das eigentlich machen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber das spricht doch dafür, auch die Lehren aus dieser Krise, dass wir das den Krankenhäusern nicht mehr allein selbst überlassen können. – Also, brauchen wir da so einen zentralen Koordinator, der dann auch nachguckt, habt ihr Schutzkleidung, habt ihr Beatmungsgerät? – Und das sind ja nur die einfachsten Dinge. Eigentlich müsste man auch verteilen, welches Krankenhaus darf welche Patienten aufnimmt.
Busse: Ganz klar. Also, wir müssen jetzt sagen, wir haben gelernt, die Krankenhäuser haben das Vertrauen, das wir in sie gesetzt haben, dass sie das alles eigenständig machen, das haben sie zum Teil verspielt. Und jetzt heißt es: Okay, das können wir ihnen nicht so überlassen. Wir müssen für Normalzeiten besser gerüstet sein. Also, Patienten, die mit Schlaganfall kommen, nur in Krankenhäuser, die eine Schlaganfalleinheit haben, Patienten, die mit Krebs kommen, nur in Krankenhäuser, die ein Krebszentrum haben. Aber für so einen Pandemieplan, für den Pandemiefall gilt genau das Gleiche. Auch da müssen wir das besser steuern.

Bessere Regulierungen aller Krankenhäuser

Aber man muss ja auch sehen, dass die Patienten, die mit Verdachtsfall von Covid oder im tatsächlichen Fall in ein normales Krankenhaus gehen, was gar nicht darauf vorbereitet ist. Das ist ja hoch gefährlich für die anderen Patienten in dem Krankenhaus.
Also, wir haben jetzt auch gesehen, ich habe mir die Zahl angeguckt von den allgemeinen Ortskrankenkassen, extrem viele Covidpatienten mussten verlegt werden, weil die initial im falschen Krankenhaus waren, also einem Krankenhaus, was keine Beatmungsplätze hat. Die mussten dann weiter verlegt werden, was auch nicht gut ist. Eigentlich wäre es besser, die Patienten würden am Anfang gleich gesteuert.
Also: Ja, wir müssen die Regulierungen gegenüber den Krankenhäusern, was die Verteilung, was die Mindestausstattung mit Technik, mit Personal, mit Schutzausstattung angeht, die müssen deutlich verschärft werden.

Patientenströme lenken

Deutschlandfunk Kultur: Mittlerweile wissen wir ja auch, dass in vielen Krankenhäusern das Virus erst übertragen wurde, also, dass viele Patienten auch infiziert wurden über das Pflegepersonal, dass es dort besonders viele Infektionen gab. Was sagt uns das über Hygiene und Vorsichtsmaßnahmen in den Kliniken?
Busse: Deswegen wäre es wichtig gewesen, die Krankenhäuser zu teilen, zu sagen: Wir haben ein paar Krankenhäuser, die spezialisieren sich auf die Covidfälle. Und die anderen Krankenhäuser versuchen wir so weit wie möglich frei zu halten.
Deutschlandfunk Kultur: Aber da müsste man in die Hoheit der Krankenhäuser eingreifen, und das wird schwierig, oder?
Busse: Ich glaube, das müssen wir aber. Wir müssen diesen Artikel 1 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, wo wir sagen, dass die Krankenhäuser eigenverantwortlich handelnde Institutionen sind, da müssen wir ran. Ja, das hat dann für das einzelne Krankenhaus die Konsequenz, dass die nicht mehr alle die Patienten vielleicht behandeln dürfen, die sie eigentlich behandeln wollen, weil wir halt wissen, dass die in einem anderen Krankenhaus besser aufgehoben sind. Dann müssen wir die Patientenströme entsprechend lenken.

Weniger, aber besser ausgestattete Krankenhäuser

Deutschlandfunk Kultur: Sie gehören zu den Ökonomen, zu den Gesundheitsökonomen, die sagen: Wbrauchen ohnehin eine grundlegende Reform des Krankenhauswesens. Viele Kliniken sind überflüssig. Es gibt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Jede zweite Klinik in Deutschland könnte man eigentlich schließen, ohne große qualitative Verluste. Lässt sich das nach der Coronakise auch noch so aufrechterhalten, wo es ja doch ein Vorteil war, dass wir so ein flächendeckendes System von Krankenhäusern hatten?
Busse: Das bezweifle ich eben, sondern viele der kleinen Krankenhäuser, die schon in normalen Zeiten es schwer haben zu belegen, wofür sie eigentlich gut sind, da war es ja diesmal auch so. Das gilt gerade jetzt. Gerade jetzt müssen wir sagen: Wir brauchen weniger Krankenhäuser, aber die sind besser ausgestattet.
Der Bürger muss wissen: Wenn ich in ein Gebäude gehe, wo draußen Krankenhaus drauf steht, dass drin erstens rund um die Uhr Fachärzte sind, zweitens, dass – wenn ich einen Herzinfarkt habe – die mich auch adäquat behandeln können, wenn ich einen Schlaganfall habe. Deswegen brauchen wir weniger Krankenhäuser, damit jeder einzelne Patient gut behandelt wird.
Deutschlandfunk Kultur: Aber das Problem ist dann: Die Bevölkerung auf dem Land, dort, wo die Besiedlung nicht so dicht ist, die muss dann weite Wege gehen, um medizinisch versorgt zu werden.
Busse: Herr Schröder, zurzeit gehen die zwar mit kurzem Weg, landen aber in einem Krankenhaus, wo dann kein Herzkatheter ist. Und damit ist ihnen auch nicht geholfen. Also sozusagen, wir geben uns doch der Illusion hin, dass wir so viele Krankenhäuser haben, dass wir schnell im Krankenhaus sind und dass uns da schnell und adäquat geholfen wird. Wir sehen, dass von den Patienten mit Herzinfarkt in Deutschland, von denen, die ins Krankenhaus kommen, mehr als doppelt so viele versterben wie in Dänemark. Ja, in Dänemark sind die Wege zum Krankenhaus ein bisschen weiter, aber dann ist sofort der Facharzt am Bett. Es wird sofort der Herzkatheter gemacht. Und die Ergebnisse sind viel besser.
Ja, das führt dazu, dass wir uns sozusagen verabschieden müssen, dass das nächste Krankenhaus 15 Minuten weg ist. Bei uns ist es ja so: Innerhalb von zwanzig Minuten erreichen 95 Prozent der Bevölkerung ein Krankenhaus. Die Fahrwege werden etwas weiter werden, aber nur in ganz ländlichen Gegenden. Da muss man dann reden, wie weit Fahrwege noch sein können, damit es sozusagen angemessen bleibt. Aber das sind die Ausnahmen von der Regel. Wir haben ganz, ganz viele, auch kleine Krankenhäuser in Ballungszentren wie Berlin und in Ruhrgebiet und so weiter.

Arbeit im Gesundheitsamt ist eher unattraktiv

Deutschlandfunk Kultur: Herr Busse, ich würde gerne noch auf das Thema Gesundheitsämter kommen. Die spielen in der Corona-Krise eine herausragende Rolle, aber sie sind wichtig, um eben zu koordinieren und Infektionswellen zu verfolgen. Dort wird registriert: Wer wurde getestet? Wer wurde positiv getestet? – Sind die Gesundheitsämter in der Lage, diese Aufgabe in so einer Krisensituation tatsächlich auch auszufüllen?
Busse: Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Ausstattung sind die Gesundheitsämter ja zurückgefahren worden in ihrer Bedeutung. Die Gesundheitsämter haben des Weiteren noch die Schwierigkeit, dass sie ihre Ärzte nach anderen Tarifen bezahlen, als Ärzte im Krankenhaus verdienen, dass im Krankenhaus sehr gut verdient wird. In den Gesundheitsämtern werden die Normaltarife des Öffentlichen Dienstes bezahlt. Das hat auch dazu geführt, dass das nicht mehr so attraktiv ist.
Die Gesundheitsämter hatten einen schweren Stand in der jetzigen Krise. Aber, wie Sie richtig sagen, die sind total wichtig. Weil, was wir ja lernen können im Vergleich zu anderen Ländern, ist: Wir haben die Leute aus dem Krankenhaus rausgehalten. Bei uns ist nur jeder sechste Coronapatient überhaupt ins Krankenhaus gekommen. Wenn man sich das in Frankreich anguckt, da waren es zwei von drei Patienten. Und das verdanken wir den Gesundheitsämtern und natürlich den niedergelassenen Ärzten, dass sie da erfolgreiche Arbeit gemacht haben.

Gesundheitsämter besser ausstatten

Ich glaube, dass es überhaupt Gesundheitsämter gibt, dass sie noch existieren, sage ich mal, ist vielen Politikern erst in der jetzigen Krise wieder aufgefallen. Dass die natürlich personell und technisch verbessert werden müssen, ist jetzt auch klar.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Busse, die Coronakrise hat auch die Defizite, die es in den Pflegeheimen gibt, deutlich vor Augen geführt. Zu wenig Personal, schwierige Arbeitsbedingungen, niedrige Bezahlung. Was muss da jetzt geschehen, damit es besser wird.
Busse: Vielleicht muss man die zwei Pflegesektoren erstmal auseinander halten. Wir haben ja die Pflege in den akuten Krankenhäusern. Und wir haben die Pflege in den Pflegeheimen. Was bei uns bislang durch das Berufsbild der Altenpfleger erledigt wird. Die beiden Berufe werden jetzt zusammen geführt. Das ist sicher eine wichtige Maßnahme, weil wir wissen, dass es nicht nur ums Geld geht, sondern auch um die Anerkennung des Personals. Und dass ist schon im Krankenhaus schwierig, da geht es weniger ums Geld. Dagegen in den Pflegeheimen geht es um die Anerkennung und ums Geld, da muss an beiden Stellschrauben gedreht werden.

Pflegeberufe attraktiver machen

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, die Löhne müssen steigen, damit der Beruf attraktiver wird, und sich mehr Jugendliche für die Pflege entscheiden.
Busse: Wir haben große Umfragen gemacht zum Personal in den Krankenhäusern, da wissen wir, es ist nicht primär das Geld, es ist die Anerkennung für die Arbeit, es ist die Autonomie, also nicht nur als Hilfskräfte von den Ärzten betrachtet zu werden. Und es ist natürlich die Anzahl der zu pflegenden Patienten. Das würde ich sagen, kann man vieles auch auf die Pflegeheime übertragen, wo zusätzlich das Geld noch dazu kommt. Ja, es muss mehr Geld geben, aber man muss auch über das Berufsbild nachdenken, das muss ja attraktiv sein. Jemand, der Abitur macht, der soll sich überlegen, gehe ich lieber zu einer Versicherung oder gehe ich ins Pflegeheim. Und da ist das Geld das eine, aber eben auch das, was ich an Möglichkeiten habe, auf meinen Berufsalltag einzuwirken. Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt.
Deutschlandfunk Kultur: Schon jetzt sind viele Tausende Stellen nicht besetzt in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Wie schaffen wir das denn, dass diese Stellen besetzt werden.
Busse: Auch da würde ich die beiden Sektoren unterscheiden wollen. In den Krankenhäusern ist es so, dass wir auch im internationalen Vergleich genug Pflegepersonal haben. Es ist nicht so, dass wir wenig Pflegepersonal haben. Wir haben in Deutschland mehr aktives Pflegepersonal pro Kopf der Bevölkerung als in allen EU-Ländern, die zu versorgen ist. Es kommt zu einem schlechten Pfleger-Patienten-Verhältnis, also dass zu viele Patienten da sind, weil wir so viele Patienten im Krankenhaus haben. Wir sagen immer nur, auch die Politik, dass wir mehr Pflegepersonal brauchen.
Das quantitative Verhältnis, also weniger Patienten pro Pflegekraft, hat man auch dann, wenn Patienten, die nicht notwendigerweise im Krankenhaus behandelt werden müssen, eben nicht im Krankenhaus behandelt werden. Dann bleibt mehr Pflegekraft übrig. In den Pflegeheimen ist es anders, weil da auch der Bedarf steigen wird. Da hat man nicht die Möglichkeit, dass da weniger hingehen sollen. Auch da muss man perspektivisch gucken, welche Tätigkeiten können an Roboter übertragen werden. Essen ausfahren, da sind sich Hilfestellungen möglich.
Aber der Pflegeberuf bleibt natürlich ein Beruf, der überwiegend von Personen erledigt werden muss. Und da brauchen wir perspektivisch mehr Pflegepersonal. Und das gelingt nur, wenn der Beruf attraktiv ist. Geld ist wichtig, aber wahrscheinlich nicht der erste Punkt, den man da angehen sollte.
Deutschlandfunk Kultur: Viele Pflegekräfte sagen: Bei einer einmaligen Extraprämie, wie sie jetzt geplant wird, darf es nicht bleiben. Wir brauchen auch höhere Löhne, würden Sie da zustimmen?
Busse: Ja, klar. Im Krankenhaussektor wissen wir, da ist es nicht primär ein Geldproblem. Pflegepersonal verdient da im Schnitt aller Beschäftigten in Deutschland. Aber in den Pflegeheimen ist es deutlich weniger. Und da muss natürlich was passieren. Und für die die Einzelnen ist es oft noch weniger, weil viele in Teilzeit arbeiten. Aber da muss es natürlich zu einem deutlichen Anstieg kommen. Aber das ist ja jetzt auch schon erfolgt. Schon vor der Coronakrise ist erreicht worden, dass das Fachpersonal mehr bekommt. Denn die waren ja nur knapp über dem Mindestlohn. Und das ist natürlich ein Unding für einen vollqualifizierten Beruf.

Schneller auf Gesundheitsdaten zugreifen

Deutschlandfunk Kultur: Herr Busse, jetzt zum Abschluss des Gesprächs – wir haben über die Krankenhäuser, wir haben über Frühwarnsysteme gesprochen, über mangelnde Koordination: Was muss denn jetzt vordringlich getan werden, auch mit Blick auf vielleicht eine mögliche zweite Welle oder künftige Pandemien, die kommen könnten? Was muss getan werden, um da besser gerüstet zu sein?
Busse: Ich glaube, was ganz klar ist, wir brauchen einerseits bessere Informationen. Das fängt an, dass die Gesundheitsämter das natürlich noch besser, noch elektronischer erfassen, nicht ihre Testergebnisse irgendwie ins Faxgerät stopfen müssen, damit wir noch zeitnäher, in Echtzeit die Daten wissen aus allen Regionen. Und das zieht sich durch das gesamte Gesundheitssystem. Also wir brauchen so ein übergreifendes Informationssystem und aus dem abgeleitet müssen wir zwei Dinge machen. Wir müssen dann besser steuern, die Steuerung zwischen den Akteuren, also vom ambulanten Sektor in den stationären Sektor zu gehen, vom stationären Sektor in den Intensivsektor.
Aber natürlich, auch die Regeln müssen verschärft werden, dass man sagt: Okay, wir haben jetzt gelernt, dass es bestimmte Mindestausstattungen geben muss. Da müssen wir fürs nächste Mal besser vorbereitet sein.

Genau gucken, wofür Geld ausgegeben wird

Deutschlandfunk Kultur: Jetzt haben wir ein Problem. Durch die Coronakrise rutsch die Wirtschaft in die Rezession und dadurch steht auch für das Gesundheitssystem weniger Geld zur Verfügung. Die Krankenkassen sagen, in diesem Jahr werden wir ein zweistelliges Milliardendefizit. Das heißt, wir haben nicht mehr Geld, sondern weniger Geld zur Verfügung. Wie kann man das denn vernünftig regeln?
Busse: Da müssen wieder erstmal die beiden Sektoren auseinander halten. Die Pflegeheime werden über die Pflegeversicherung finanziert, und da ist ganz klar, da muss mehr Geld rein. In dem Gesundheitswesen an sich ist es ja so, dass wir schon extrem viel Geld ausgeben. Und da ist es ganz wichtig, das nicht gelten darf: Wir brauchen immer mehr Geld. Sondern dass da geguckt wird, wofür geben wir das Geld aus. Im Pflegebereich ist aber ganz klar, da wird mehr Geld benötigt werden.
Deutschlandfunk Kultur: Über höhere Beiträge, also die Versicherten müssen mehr bezahlen, oder muss da, wie viele jetzt auch fordern, mehr Steuergeld reinfließen?
Busse: Wahrscheinlich sind Steuerzuschüsse gerechter, weil da auch die Besserverdienenden, die sonst begrenzte Beträge in ihre private Pflegeversicherung einzahlen, stärker beitragen. Also ich persönlich würde sagen, es spricht viel dafür, auch die Steuergelder zu erhöhen, die in die Pflege fließen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber grundsätzlich gilt für die nächsten Jahre, wir müssen sparen, auch in der Gesundheit, weil weniger Geld da ist?
Busse: Im Gesundheitswesen ganz klar. Aber vor der Krise, mit dem alten Bruttoinlandsproduktniveau, waren wir schon bei zwölf Prozent. Also ich würde dringend sagen, wir müssen überlegen, wieviel Geld können wir ausgeben und zwölf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt ist ein Betrag, den wir nicht deutlich überschreiten wollen, auch in Zukunft nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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