Gesundheit zwischen Hightech und Zuwendung – Welche Medizin wollen wir?
Welche Medizin wollen wir?
Deutschland leistet sich eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt: Rund 300 Milliarden Euro jährlich, das sind etwa elf Prozent des Bruttosozialproduktes: Aber ist teuer auch immer gut? Wo bleiben die Patienten und die Ärzte angesichts der Hightech-Medizin?
"Es ist ein Sündenfall der modernen Medizin, dass sie den Kranken von seiner Krankheit getrennt hat", sagt der Mediziner Michael de Ridder. "Der Leidende ist irgendwie vorhanden, aber nicht wichtig." Wichtig sei die "Prozessoptimierung".
Der streitbare Internist kennt den Medizinbetrieb seit über 35 Jahren: Bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2014 war er Chefarzt und Leiter der Rettungsstelle des Berliner Vivantes-Klinikums Am Urban und Gründer eines Hospizes.
2010 sorgte er für Diskussionen mit seinem Buch "Wie wollen wir sterben?", in dem er sich für eine neue Sterbekultur und die ärztliche Sterbehilfe aussprach.
Ökonomen bestimmen über den Klinikalltag
In seinem neuen Buch "Welche Medizin wollen wir?" beschreibt er nun seine Erfahrungen als Arzt und auch persönlich als Patient – und analysiert, was falsch läuft in einem Gesundheitsbetrieb, der immer mehr wirtschaftlichen Kriterien unterworfen wird.
Seine Erfahrung: "Wir haben nicht mehr Ärzte in der Klinikleitung, sondern Ökonomen und Manager."
Die Folge dieser Ökonomisierung: Kliniken müssten mehr und mehr um Patienten buhlen, von den mehr als 500.000 Krankenhausbetten in Deutschland stünde regelmäßig ein Viertel leer. Und leere Betten bedeuteten leere Kassen. Also bedürfe es der "Cash-Cows" – jener Patienten, die Geld einbringen, weil sie mit teuren Geräten untersucht werden.
Es werde zudem zu viel Geld im System verschwendet: zweistellige Milliardenbeträge. Es werde viel zu viel und unnötig geröntgt. Es gebe zu viele Knie-und Hüft-OPs, eine Rekordzahl an Herzkathetern: 880.000 im Jahr – 70 Prozent mehr als in Österreich, 98 Prozent mehr als in der Schweiz. Gerade alte Kranke würden auf den Intensivstationen meist überbehandelt, dies laufe oft auf ein leidvolles und langes Sterben hinaus – aber auch damit werde eine Menge Geld gemacht. Denn Deutschland verfüge über mehr Intensivbetten als jedes andere Land.
Nur fünf Prozent der Arbeitszeit für die Behandlung von Patienten
Einer seiner Hauptkritikpunkte: Der Zeitdruck – und dadurch auch ein Mangel an persönlicher Zuwendung. "Es gibt Richtlinien für Führungskräfte seitens der Klinikleitungen, wie viel Zeit ein leitender Arzt hat. Ich hatte fünf Prozent für die eigentliche Behandlung der Patienten, 80 Prozent meiner Arbeit waren reine wirtschaftliche Arbeit, Prozessoptimierung – weit weg von den Patienten."
Dafür sei er kein Arzt geworden.
Seine Mahnung: "Das Vertrauen zwischen Arzt und Patient geht durch die Ökonomisierung verloren."
Seine Hoffnung: Dass der demographische Wandel eine Richtungsänderung bewirken wird. "Dass wir mehr an personaler Zuwendung bekommen: Wir haben mehr chronisch Kranke, Demente. Der Tsunami kommt ja noch auf uns zu – die eigentlichen Auswirkungen spüren wir ja auch erst in 10, 20,30 Jahren. Aber Patienten sind ja auch Wähler – und dieses Thema wird mehr und mehr wichtig: die Versorgung von Menschen. Diese Ressourcen werden wir brauchen."
Darüber diskutiert Klaus Pokatzky heute von 9:05 bis 11:00 Uhr mit Michael de Ridder. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de sowie über Facebook und Twitter.
Literaturhinweise:
- Michael de Ridder: "Welche Medizin wollen wir?", Deutsche Verlags-Anstalt, 2015
- Michael de Ridder: "Wie wollen wir sterben?", Deutsche Verlags-Anstalt, 2010
- Michael de Ridder: "Wie wollen wir sterben?", Deutsche Verlags-Anstalt, 2010