Getrennte Familien von Geflüchteten

Zerrissenes Glück

Ein kleines Mädchen spielt am 29.03.2016 in Berlin in einer Notunterkunft für Flüchtlinge mit ihrem Teddy.
Auf die Kinder des syrischen Flüchtlings Ahmad warten Kuscheltiere in Berlin. © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Von Panajotis Gavrilis und Clara Anne Bünger |
Zwei Flüchtlinge aus Syrien und Irak eint der Wunsch, Frau und Kinder nach Deutschland zu holen. Doch die Bürokratie und das monatelange Warten zermürben alle Beteiligten. Die Geschichte einer gelungenen und einer bislang gescheiterten Familienzusammenführung.
"Welche Farbe soll das Flugzeug haben, mit dem du kommst?",
fragt Ahmad seine fünfjährige Tochter.
"Rot",
antwortet sie ihm.
Ahmad, der eigentlich anders heißt, spricht per Videoanruf mit seiner fünfjährigen Tochter. Sie lebt gemeinsam mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter 4.000 Kilometer entfernt, in Jordanien. Geflohen vor dem Krieg in Syrien, verbindet sie heute nur eine wackelige Internetverbindung über das Smartphone. Sie habe Sehnsucht nach ihm und fragt, wann er denn komme, um sie abzuholen. Nächste Woche, antwortet der Vater. Er solle aber jetzt kommen.
Ahmad: "Jetzt? Schwer, schwer."
Der Vater weiß: Er muss sie enttäuschen. Wie bei jedem Anruf.
Die Bundesregierung hat seit März 2016 den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt. Seitdem dürfen Menschen wie Ahmad ihre Familien nicht nach Deutschland holen. Denn er hat nur den eingeschränkten, den subsidiären Schutz bekommen. Dieser gilt nur für ein Jahr.
Für Ahmad ist es am wichtigsten, seine älteste Tochter schnell nach Deutschland zu holen. Sie sei schwer krank. Beim Gespräch wirkt sie lethargisch, verdreht ihre Augen, schaut nicht richtig in die Handy-Kamera, spricht langsam. Sie leide unter Zerebralparese, berichtet die Mutter. Ihr Gehirn bekomme nicht genug Sauerstoff und sie habe Bewusstseinsstörungen.
Ahmad telefoniert regelmäßig mit seiner Familie, die 4.000 Kilometer entfernt von ihm in Jordanien lebt.
Ahmad telefoniert regelmäßig mit seiner Familie, die 4.000 Kilometer entfernt von ihm in Jordanien lebt.© Deutschlandradio / Panajotis Gavrilis
Ehefrau (Arabisch): "In den letzten sechs Monaten schläft sie überhaupt nicht mehr. Weder nachts noch tags. Sie sagt immer nur, sie will ihren Papa wiederhaben. Das ist meine Tochter, die 18 Jahre alt ist. Das kann doch nicht so bleiben. Es geht ihr psychisch sehr schlecht. Seit sechs Monaten schläft sie nicht mehr. Heute geht es so einigermaßen, aber sonst geht es ihr sehr schlecht."
Ahmad: "Nimmt sie Tabletten?"
Ehefrau: "Ja, die ganze Zeit."
Der Videoanruf dauert nur ein paar Minuten. Ahmad muss sein Internetguthaben portionieren. Die fünf Gigabyte reichen gerade einmal für ein paar Wochen, für mehr hat er kein Geld.
Ahmad: "Immer wenn die Kinder am Telefon fragen, was kaufst du uns für Spielsachen, dann sage ich: Die sind schon da!"
In seinem kleinen Zimmer in einem Berliner Wohnheim für Geflüchtete starrt eine Stoff-Giraffe aus dem Fenster, ein Husky-Kuscheltier liegt auf seinem Bett.
Vor eineinhalb Jahren, am 25. August, war er das letzte Mal mit seiner Familie zusammen.
"Es war einfach traurig und wir haben alle geweint. Es war eine sehr belastende Situation und es war auch das erste Mal, dass ich meine Familie alleine gelassen habe. Ich war damals 40 und ich war vorher höchstens einmal zwei bis drei Tage von zu Hause weg gewesen. Das war natürlich eine schwierige Entscheidung für uns. Aber es war die einzige Möglichkeit, dass ich erst mal vorausfahre und die Familie dann nachhole und in der Zeit dann schon mal arbeite und lerne und für die Kinder alles vorbereite. Aber leider war es dann alles ganz anders und es hat nicht funktioniert. Ich bin in einer sehr schwierigen Situation."
Alles fing 2011 mit dem Kriegsausbruch in Syrien an. Die Armee von Präsident Assad hatte ihn und viele andere Männer einberufen, doch Ahmad wollte nicht töten, sagt er. Im Oktober 2012 floh Ahmad gemeinsam mit seiner Familie ins benachbarte Jordanien.
"Ich hätte in Jordanien jederzeit nach Syrien abgeschoben werden können. Wenn das passiert wäre, dann wäre es sehr schwierig geworden, denn in Syrien gab es ja überall Checkpoints des Regimes und Bombardierungen Tag und Nacht. Unsere Kinder hatten auch sehr große Angst vor den Bomben. Außerdem wurden wir gesucht, weil wir an Demonstrationen gegen die Repressionen und gegen das Regime teilgenommen hatten. Deswegen sind wir hierher gekommen, um ein besseres Leben zu finden, um in Sicherheit zu leben, um eine menschenwürdige Zukunft zu haben."
Mit "Wir" meint Ahmad sich und andere Syrer, aber vor allem seine Familie. Doch von seiner Familie sind in Deutschland bislang nur gerahmte Fotos angekommen.
"Meine Familie bedeutet mir alles. Aber leider sind es jetzt schon eineinhalb Jahre, die ich auf eine Familienzusammenführung warte. Doch die Situation und die Gesetze sind wohl so, dass das nicht geht und dass ich sie nicht wiedersehen werde."
Hätte das "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" über Ahmads Asylantrag noch im Jahr 2015 entschieden, hätte er seine Frau und seine Kinder wahrscheinlich nachholen können. Sein Antrag wurde entschieden, nachdem die Gesetze mit dem sogenannten Asylpaket II verschärft worden sind. Lag die Flüchtlingsanerkennung für Menschen aus Syrien im Jahr 2015 bei fast 100 Prozent, bekamen 2016 nur etwa 56 Prozent den vollen, dreijährigen Schutz – wie er in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehen ist. Parallel stieg der Anteil derer mit subsidiärem Status.

Staatssekretär: Möglicherweise Hunderttausende Nachzügler

Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenministerium: "Familie ist ein hohes Gut, nicht nur in unserem Grundgesetz. Auch in unserer Gesellschaft wird das zu recht hochgehalten. Aber es ist auch die Frage, welchen Status Menschen bekommen in einem Land. Das sind auch völkerrechtliche und europarechtliche Fragen, die durchaus differenzieren müssen. Ob wir, wie beim politisch Verfolgten, davon ausgehen, dass sie über eine sehr eine lange Zeit, manche sogar für immer bei uns bleiben. Oder ob wir Menschen temporär, in einem Bürgerkrieg, in der Zeit eines Bürgerkriegs Zuflucht geben und da hat natürlich Familienzusammenführung keine so hohe Priorität."
Günter Krings vertritt und berät den Bundesinnenminister Thomas De Maizière, nimmt Einfluss auf die politische Agenda des Ministeriums. Aus seinem Büro schaut der CDU-Politiker auf das benachbarte Bundeskanzleramt und den Bundestag. Hier, im obersten Stockwerk über den Dächern des Regierungsviertels, wurde die Entscheidung auf den Weg gebracht, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte auszusetzen.
"Wenn alle diejenigen ihre gesamte Familie hätten nachziehen können, gehen wir davon aus, dass wir weitere Hunderttausende dann im Jahr 2016 bereits und auch jetzt aktuell noch an Nachzüglern bekommen hätten. Und das hätte sicherlich auch die Aufnahmefähigkeit eines Landes auf eine harte Probe gestellt, auch in Deutschland, auch bei einem reichen Land, aber vor allem auch die Akzeptanz für Flüchtlinge auf eine harte Probe gestellt. Insofern war es richtig, diese Entscheidung zu treffen, so schwer sie auch war, sie zu treffen."
Hunderttausende, begrenzte Aufnahmefähigkeit, nachlassende Willkommensbereitschaft? Umstrittene Begriffe des politischen Diskurses um die aktuelle Asylpolitik Deutschlands.
Horst Seehofer: "Bei denen, die den Familiennachzug rechnen, da bin ich total auf der konservativen Seite. Da sind sie bei drei Millionen. Das ist ein anderes Land."
CSU-Chef Horst Seehofer entwirft ein Schreckensszenario. Eine Obergrenze bei der rhetorischen Eskalation? Gibt es nicht. Mal sind es drei, mal sieben, mal vier Millionen in den Medien.

Forscher plädiert für nüchterne Betrachtung

Professor Herbert Brücker: "Wenn jetzt in der Bildzeitung steht: Es kommen vier Millionen Menschen über den Familiennachzug – so eine Schlagzeile hat es gegeben – dann ist es fast schon ein politisches Faktum. Ob das nun stimmt oder nicht."
Professor Herbert Brücker arbeitet am "Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung" der Humboldt-Universität.
Brücker: "Wir reden nicht davon, wenn wir jetzt hier eine Million Geflüchtete in Deutschland etwa haben, dass dann das Potenzial bei vier Millionen liegt. Man muss ja auch dazu sehen, dass vor der Änderung dieses Asylpakets sowieso nur anspruchsberechtigt war, wer einen Schutzstatus hat. Und das sind nur 60 Prozent der Geflüchteten. Also wir reden sowieso nur bei einer Grundgesamtheit von 600.000. Von denen sind es vielleicht 10 oder 20 Prozent. Das heißt, wir reden über ein Potenzial von 100.000 bis 120.000 Menschen."
Viele der hier lebenden Geflüchteten seien bereits mit ihren Familien gekommen. Und nicht alle, die Anspruch auf Familiennachzug hätten, haben tatsächlich auch Kinder oder sind verheiratet, sagt Professor Herbert Brücker.
"Wenn man das dann nüchtern betrachtet sind die Zahlen dann auf einmal nicht Faktor vier, also nicht 400 Prozent kommen nach, sondern auf einmal nur noch 20 Prozent, ja. Dann verändern sich auf einmal die Proportionen. Dann – wenn man sich das näher anguckt, sehen wir, dass wir die Menschen besser integrieren, wenn sie ihre Familien mitbringen, dass viele soziale Probleme gar nicht erst entstehen können, wenn sie ihre Familien hier haben. Und dann sieht die Welt auf einmal ein bisschen anders aus. Wenn man das nüchtern betrachtet. Aber das entspricht gegenwärtig nicht der gesellschaftlichen Stimmung."
Professor Brücker arbeitet mit eigenen Berechnungen, anhand von repräsentativen Befragungen von Geflüchteten und der amtlichen Statistik. Das Problem: Geflüchtete werden darin nicht gesondert erfasst. Aussagekräftige Zahlen zu finden, ist also schwierig. Das gibt auch Staatssekretär Günter Krings zu:
"Es ist in der Tat nicht klar abschätzbar, wie groß der Familiennachzug sein wird. Vor allem, wie viele Fälle betroffen sein können, auch von einer Aussetzung, weil wir natürlich keine verlässliche Angaben über die Größe der Familie haben an der Stelle."

Gesetzliche Reglung des Familiennachzugs

Geflüchtete können über zwei Wege ihre Familien nach Deutschland holen. Über die EU-weit geltende Dublin III-Verordnung, wenn sich das Familienmitglied in einem anderen EU-Land aufhält, oder mit einem Visum über das deutsche Aufenthaltsgesetz. Mit Familie ist hier die sogenannte Kern-Familie gemeint. Darunter fallen beispielsweise Eltern von minderjährigen Kindern, Ehepartnerin und -Partner oder minderjährige Kinder. Im Jahr 2016 erteilte das Auswärtige Amt etwa 50.000 Visa – für Familiennachzug zu Angehörigen von geflüchteten Syrern und Irakern. Sie machen die größte Gruppe aus. Über die Dublin-III-Regelung sind knapp über 1.000 Personen zu ihren Familien nach Deutschland gekommen.
Das klingt überschaubar. Aber warum sprechen Politiker von Hunderttausenden, von Millionen? Der Wirtschaftswissenschaftler Professor Brücker:
"Wir leben eben in einer Zeit, wo diese Stimmungen mitentscheidend sind. Und alleine das Risiko, dass es so sein könnte, wird Politiker zum Handeln zwingen. Und dann hat man sich gedacht: Okay, jede Person, die nicht hierher kommt, ist ein Problem weniger und dann wird man das verhindern."
Oder wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Januar 2016 sagte:
"Das Asylpaket 2 hat jetzt endlich das Thema Familiennachzug geklärt. Diese Betroffenen bekommen ja auch nur einen Schutz auf Zeit, und da ist es auch schon vertretbar, dass man ihnen sagt: Eure Familien können jetzt nicht kommen."
Geflüchtete mit subsidiärem Schutz dürfen ihre Familien nicht nachholen aufgrund der Gesetzesverschärfung. Aber selbst denen, die kommen dürfen, wird es schwer gemacht.

Deutsche Bürokratie baut hohe Hürden

Nea Kavala. Ein kleiner Ort in der Nähe der griechisch-mazedonischen Grenze. Hier befindet sich ein offizielles Flüchtlingslager. Besucherinnen und Journalisten dürfen nicht hinein. Es sind große Zelte zu sehen, Dixi-Klos, die auslaufen, Kinder, die im dreckigen Wasser spielen. Am Zaun steht Maha aus dem Nordirak. Mit ihren zwei Kindern Alind und Ayman wartet die Jesidin darauf, endlich ihren Mann Baker wiederzusehen. Eineinhalb Jahre sind sie schon voneinander getrennt:
"Unsere Sache ist sehr kompliziert geworden. Wir warten hier schon so lange ... unsere Situation ... Es ist schwierig. Ich habe Angst, hier noch länger zu bleiben. Einen Monat oder ein Jahr oder länger."
Ihre zwei Söhne verstecken sich hinter ihrer Mutter, wirken verängstigt. Ihr Ehemann hat es vor ihnen nach Deutschland geschafft, ist mittlerweile anerkannter Flüchtling, darf sie nachholen, aber es dauert.
"Ich habe keine richtigen Papiere mitnehmen können. Alle Papiere sind beim Vater. Sie sagten, sie geben keinen Aufenthalt wenn du keine Originaldokumente hast. Und wir warten jetzt schon seit einem Jahr auf unsere Heiratsurkunde. Wir haben sie nicht mitgenommen damals."
Erst nachdem der sogenannte "Islamische Staat" zurückgedrängt wurde, konnte sie die Urkunde bekommen. Maha ist seit mehreren Monaten in Griechenland und hofft nun auf die langersehnte Familienzusammenführung.
Fristwahrende Anzeige, Reisepass plus zwei Kopien, Antrag – zweifach, plus biometrische Passfotos. Die deutsche Bürokratie baut hohe Hürden. Zwei Kopien des Passes des Familienangehörigen in Deutschland, zwei Kopien des Anerkennungsbescheids, Heiratsurkunde mit Legalisierung. Originaldokumente vorlegen – reicht dabei nicht. Bei Kindern: Geburtsurkunde mit Legalisierung. Die Dokumente müssen "legalisiert" werden.
Das heißt: Die Originale werden in den Botschaften auf ihre Echtheit hin überprüft. Und das kann Monate dauern. Genauso wie das Warten auf einen Termin bei der deutschen Botschaft. Trotz Personalaufstockung: In den deutschen Auslandsvertretungen Beirut, Istanbul oder Ankara warten die Menschen beispielsweise bis zu 15 Monate auf einen Termin. Viel Bürokratie, es ist kompliziert. Das weiß auch die griechische Anwältin Giota Masouridou:
"Leider funktioniert der Familiennachzug momentan nur sehr schleppend. Eine große Anzahl Geflüchteter, die in Griechenland ankommen, haben bereits Angehörige in anderen EU-Ländern. Rein rechtlich dürften sie zusammengeführt werden. Aber leider ist der Prozess sehr langwierig. Bis der Antrag bei der griechischen Asylbehörde eingeht, zur zuständigen Dublin-Abteilung weitergeleitet wird, bis das Aufnahmeland kontaktiert wird, der Angehörige gefunden wird ... All das dauert so lange, dass die Menschen gezwungen werden, sich illegal auf den Weg zu machen, ihr Leben wieder aufs Spiel zu setzen, um wieder bei ihrer Familie zu sein."

Viele kennen ihre Rechte nicht

Hinzu kommt: Maha kennt wie viele Schutzsuchende ihre Rechte nicht. Die Informationslage in den griechischen Camps ist nach wie vor katastrophal, es gibt kaum Zugang zu juristischer Beratung. Das verzweifelte Warten, die Hoffnung, die bürokratische Realität machen sie müde. Auch ihren Mann in Deutschland:
"Ich heiße Baker. Ich komme aus dem Irak, ich wohne in Freistatt, ich bin 20 Jahre alt, (Lachen), 30 Jahre alt. Meine Familie, ich muss ihr helfen – bitte."
Niedersachsen. Ein kleines Dorf namens Freistatt. Nur drei Flugstunden von Mahas Aufenthaltsort in Griechenland entfernt. Hier wohnt ihr Ehemann und wartet und verzweifelt. Ein Freund von Baker übersetzt für ihn und erinnert sich.
"Er wollte sich umbringen, hier drin. Wegen seiner Familie und Kinder und wir haben es nicht [zu]gelassen."
Baker und Maha denken mittlerweile sogar darüber nach, wieder zurückzugehen – in den unsicheren Irak. Da seien sie wenigstens wieder vereint. Baker holt ein Fotoalbum mit Bildern von Maha und den Kindern hervor. Seine Hände fangen beim Blättern an zu zittern, als er auf seine zwei Söhne zeigt:
"Alind, Ayman..." (schluchzt)
Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenministerium:
"Trotz allem bleibt es dabei, dass natürlich die Entscheidung Familien zu trennen, nicht der deutsche Staat getroffen hat, sondern die Menschen vor Ort. Vielleicht aus nachvollziehbaren Gründen, aber sie haben diese Entscheidung getroffen. Und wir können in bestimmten Fällen auch nach Völkerrecht, nach deutschem Recht dann etwas dafür tun, dass diese Familien wieder zusammenkommen, aber nicht eben in allen Fällen."
Der Familiennachzug diente schon immer als Instrument der Einwanderungspolitik.
Vor allem seit den 1980er-Jahren – als Reaktion auf die nachziehenden Angehörigen der sogenannten "Gastarbeiter". Unter Altkanzler Helmut Schmidt standen damals die Beschränkung des Ehegattennachzugs und Senkung des Nachzugsalters von Kindern auf der Agenda. Genauso wie bei seinem Nachfolger Helmut Kohl.
Aus einer Regierungserklärung von Helmut Kohl: "Integration ist nur möglich, wenn die Zahl der bei uns lebenden Ausländer nicht weiter steigt. Vor allem gilt es hier, eine unbegrenzte und unkontrollierte Einwanderung zu verhindern. (Applaus) Die Bundesregierung wird den Anwerbestopp beibehalten, den Familiennachzug begrenzen."
Familiennachzug begrenzen, Migration steuern – so die Hoffnung. Die Motivation für Gesetzesverschärfungen – damals wie heute – gleich.
Brücker: "Ich würde sagen, es vollzieht sich in Wellen. Also wir haben immer nach einer starken Zuwanderungswelle sehr häufig eine Welle der Abschottung erlebt. Und natürlich ist die ganze politische Entwicklung getrieben von Angst. Also es sind sehr viele Menschen 2015 gekommen, und das hat eigentlich in allen politischen Lagern zu großer Angst geführt, zu Verunsicherung geführt, unsere Infrastruktur war nicht darauf eingestellt. Wie man jetzt damit umgeht, vor allem jetzt natürlich die Angst, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt. Man muss ja sehen, dass es gar nicht so sehr die politischen Akteure sind, sondern die politischen Akteure sind getrieben von Stimmungen in der Bevölkerung."
Professor Brücker vom "Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung" der Humboldt-Universität warnt davor, Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen:
"Wir müssen uns darauf einstellen, dass gerade aus diesen Krisenstaaten erhebliche Teile in Deutschland bleiben werden. Und wir sollten nicht den Fehler machen, wie bei der Gastarbeiterzuwanderung, dass wir sagen: 'Naja, die bleiben ein paar Jahre und dann gehen die schon wieder zurück.' Das wird nicht der Fall sein. Also wir sind sehr sehr gut beraten, in Integration zu investieren und uns systematische Gedanken über Integration zu machen. Weil davon profitieren beide Seiten. Also die Geflüchteten natürlich zu allererst selbst. Aber auch diese Gesellschaft: Wir haben dann weniger finanzielle Aufwendungen, wir haben weniger soziale Konflikte, wir haben weniger Kriminalität, wenn wir vernünftige Integrationsstrategie hier vollziehen."
Vor allem für den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft seien Familien wichtig, so Brücker. Deswegen sei der Nachzug für Geflüchtete dringend nötig, damit sie sich integrieren und hier richtig ankommen können, so der Forscher. Die Bundesregierung hält jedoch weiter an der Aussetzung des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten fest. Trotz Kritik.
Adriana Kessler: "Menschenrechtsverletzend ist es, dass das Recht auf Familie verletzt wird. Und das führt aktuell dazu, dass Menschen, die sich in Deutschland aufhalten, die eigentlich ein Recht darauf haben, dass ihre Familien nach Deutschland kommen können, dass das im Moment nicht möglich ist."
Adriana Kessler hat mit zwei weiteren Juristinnen den Verein Jumen gegründet. "Jumen" steht für "Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland". Sie betreuen Geflüchtete, die von der Einschränkung des Familiennachzugs betroffen sind, und vertreten sie vor Gericht. Für sie verstößt die Aussetzung gegen das Grundgesetz, EU-Recht und gegen die UN-Kinderrechtskonvention.
"Rein rechtlich gilt das Recht auf Familie unabhängig von der Nationalität für jeden Menschen, der sich in Deutschland aufhält. Zu sagen: Wir behandeln die Menschen unterschiedlich, das geht nicht. Das muss tatsächlich so gehandhabt werden, dass diese Rechte, egal ob deutsch oder nicht-deutsch, eingehalten werden. Und wenn das nicht passiert, ist das eine Rechtsverletzung und dann leben wir in einem Land, in dem wir uns dafür einsetzen können und leider auch müssen, dass sie eingehalten werden."
Besonders stark betroffen von der Aussetzung des Familiennachzugs seien unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die ihre Eltern seit Langem nicht mehr gesehen haben. Minderjährige Kinder ohne ihre Eltern? Eltern ohne ihre minderjährigen Kinder?
Günter Krings vom BMI verteidigt die Gesetzesverschärfung: "Also, dass eine Familie – vielleicht aus der Not heraus erklärlich, aber für mich nicht wirklich nachvollziehbar – sagt: Wir schicken ein minderjähriges Kind auf die Reise, damit das nachher seine Geschwister und uns Eltern nachholen kann – das wäre eine ganz furchtbare Anreizwirkung, die wir in der Vergangenheit wahrscheinlich teilweise geschaffen haben. Weil wir haben einige Tausend Minderjährige in Deutschland und wenn das sozusagen der Schlüssel ist, die ganze Familie nachzuziehen, war die große Sorge, auch bei mir, dass durch diese Weiterauslegung des Familiennachzugs wir eher den Anreiz bekommen, Kinder alleine auf die Flucht zu schicken, und da war es wichtig, dass wir sagen: Das kann nicht sein, das geht nicht, da kann kein Familiennachzug stattfinden."
Der Syrer Ahmad wollte zuerst nach Deutschland gehen, um seinen Kindern diese lebensgefährliche Flucht nicht zuzumuten. Und weil das Geld – wie bei vielen anderen auch – nicht für die ganze Familie reichte.
Günter Krings: "Also wenn man mich fragt: Habe ich schon – ohne mich da zum Richter über Menschen aufspielen zu wollen – schon Schwierigkeiten gehabt, zu verstehen, dass da beispielsweise Männer alleine kommen, ihre Frauen und Kinder zurücklassen. Wir sind in einer Kultur in Europa, wo wir eigentlich mal gelernt haben: Frauen und Kinder zuerst und nicht die Männer zuerst und dann in der Hoffnung vielleicht, die Frauen nachziehen zu können. Also ich kann das vielleicht irgendwo noch nachvollziehen, dass man sich genötigt sieht, es so zu tun. Aber so richtig verstehen kann ich es wirklich nicht."
Dabei ist der Familiennachzug eine der wenigen legalen Möglichkeiten, sein Schicksal nicht in die Hände von Schleppern zu geben.
Günter Krings: "Wir haben es hier natürlich auch mit gebrechlichen Menschen zu tun, aber in einem Regelfall sind es noch durchaus Menschen, auch als Eltern, als Eltern von Kindern – wer ein 16-jähriges Kind hat, der wird im Zweifelsfalle nicht 70 oder 80 Jahre alt sein, sondern auch in einem Alter sein, wo er normalerweise die Flucht auch noch selbst mitmachen kann. Und insofern muss man auf die Einzelschicksale hier sicherlich schauen. Aber noch einmal: Wir sind nicht dafür verantwortlich, in allen Fällen, auch Familien, die entschieden haben sich zu trennen, wieder zusammenzuführen."
Bundeskanzlerin Merkel sprach im September 2016 bei der sogenannten Westbalkan-Konferenz davon, "Illegalität zu bekämpfen und Legalität zu stärken". Aber wenn Familiennachzug eine legale Einreisemöglichkeit ist, warum schränkt die Bundesregierung diese ein und stärkt sie nicht, wie Merkel selbst sagte?
Maha ist mit ihren Kindern in Deutschland bei ihrem Mann Baker angekommen.
Maha ist mit ihren Kindern in Deutschland bei ihrem Mann Baker angekommen.© Deutschlandradio / Panajotis Gavrilis

Eine gelungene Zusammenführung

Flughafen Bremen. Baker wartet mit einem Freund.
Übersetzer am Flughafen: "Baker sagt: Wann kommt sie jetzt endlich raus? Ich sage ihm: Sie kommt, sie kommt. Er hat einen Puls von 500, bestimmt, das rast hier! (...) Er kann nicht still stehen, er möchte da rein am liebsten."
Maha und ihre zwei kleinen Kinder haben nach fast einem halben Jahr in Griechenland ein Visum erhalten.
"Krass, da kommt sie." (Baker umarmt sie)
Maha auf Kurmancî: "Ich freue mich sehr und bin sehr zufrieden. Ich habe es nicht geglaubt, dass ich es so schnell schaffen kann, aber als wir am Telefon hörten, dass wir das Visum abholen können, haben wir uns so gefreut. Unsere Situation war so schwer und die Situation im Camp war schlecht. Sie haben uns in ein anderes Camp gebracht, wo die Situation noch schlechter war. Wir hatten manchmal nur drei Tage richtiges Essen. Damals hatte ich die Hoffnung verloren."
Maha, Baker und die Kinder Alind und Ayman sind wieder vereint. Jetzt beginnt ein neues Leben für sie, gemeinsam in Sicherheit.
"Also das Wichtigste ist, dass wir zusammengefunden haben und dass wir wieder vereint sind. Es war so schwer. Und hier ist ja kein Krieg. Wir waren in einer sehr schlimmen Lage. Ich und die zwei Kinder. Es ist so gut, wieder mit meinem Mann und ihrem Vater zusammenzusein."
Als die Familie bei jesidischen Freunden und Verwandten in Niedersachsen ankommt, blühen die Kinder richtig auf. Sie lachen, spielen herum. Keine Spur mehr von verängstigten Kindern im heruntergekommenen Lager in Griechenland.
Übersetzer übersetzt den Sohn: "Er war gerade schaukeln draußen."

Ahmad aus Syrien fürchtet, dass er seine Kinder nicht wiedersieht

Auch Ahmad aus Syrien wünscht sich, dass seine Kinder auf einem Spielplatz bei ihm in Berlin schaukeln. Doch er fühlt sich zurückgestoßen, alleine gelassen. Für ihn steht fest: Vernünftig Ankommen ist politisch nicht gewollt. Aus Verzweiflung und Sorge um seine kranke Tochter versucht er, ein Visum über die sogenannte Härtefallregelung gemäß § 22 des Aufenthaltsgesetzes zu bekommen:
"Kommen her, besser. Für meine Tochter. Krankenhaus, Tableta, Arzt. Besser."
Ein Visum wird in diesen Fällen nur aus dringenden humanitären Gründen erteilt. Diese liegen dann vor, wenn eine akute Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen besteht, so das Auswärtige Amt.
"Die konkrete Situation der aufzunehmenden Person muss sich dabei als 'singuläres Einzelschicksal' darstellen.", heißt es in einer standardisierten Absage-Email des Auswärtigen Amtes, die auch Ahmad bekommt. Ein solches Schicksal läge bei seiner Familie und kranken Tochter nicht vor. Ein Jahr nach der Gesetzesänderung hat noch kein Familienangehöriger eines Geflüchteten so ein Visum erhalten.
Anwältinnen wie Sigrun Krause vom Menschenrechtsverein "Jumen" kritisieren diese Praxis als intransparent:
"Es ist tatsächlich sehr schwierig für die Leute gegen die Entscheidung dann vorzugehen und ihre Grund- und Menschenrechte einzuklagen. Und was das Auswärtige Amt eben bei dieser Härtefallabwägung auch nicht tut, ist, dass insbesondere Kinderrechte aus der UN-Kinderrechtskonvention zu berücksichtigen, sondern nur singuläre Einzelschicksale, die unserer Meinung nach für das Recht auf Familie, aber überhaupt nicht notwendig sind."
Ahmad selbst bleibt nur noch, vor das Gericht zu ziehen, um gegen seinen subsidiären Status zu klagen. Er will als Flüchtling nach der Genfer Konvention anerkannt werden oder er wartet bis zum 16. März 2018. Wenn die Aussetzung nicht verlängert wird, kann er erst dann einen Antrag auf Familiennachzug stellen. Dann hätte er schon drei Jahre seine Familie nicht mehr gesehen. Und seine kranke Tochter dürfte er dann ohnehin nicht nachholen, weil sie nicht mehr minderjährig ist.
Autor: "Wie lange soll das so weiter gehen?"
Ahmad: "Ich weiß nicht. Gesetz ist ... nicht gut. Ich bin alleine im Zimmer ein Jahr und sechs Monate. Schlecht. Immer, immer jeden Tag ich bin ... traurig. Immer immer im Zimmer. Ich bin krank. Ich glaube, wenn ich sterbe, wird es immer noch keine Entscheidung gegeben haben, ob meine Familie nachkommen kann oder nicht. Ich weiß nicht, Europa, Amerika und Russland. Wenn die den Krieg in Syrien beenden wollten, dann hätten sie es längst getan. Sie könnten den Krieg beenden und dann könnten wir auch wieder zurück und dann könnte ich bei meiner Familie leben. Aber ich weiß nicht, ich glaube, bei der jetzigen Gesetzeslage werde ich meine Kinder nie mehr wiedersehen und der Krieg wird auch nicht enden."
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