Gewagter Vergleich
In seinem Buch "Bloodlands" untersucht der US-Historiker Timothy Snyder die Verbrechen Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion - und bricht mit der seit dem Historikerstreit fest verankerten Überzeugung, dass man Stalins und Hitlers Regime nicht vergleichen dürfe.
Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Es handelt von Millionen toter Zivilisten, ihre Überreste verteilt über die größte Schädelstätte, die die Welt gesehen hat. Sie wurden erschlagen, dem Hungertod ausgeliefert, verbrannt, erschossen, vergast. Und die meisten von ihnen sind vergessen.
Etwa 14 Millionen Menschen kamen zwischen 1933 und 1945 zu Tode - in dem, was der amerikanische Historiker Timothy Snyder Bloodlands nennt. In der politischen Geografie der 30er- und frühen 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind das vor allem Polen sowie die baltischen Staaten, Weißrussland, die Ukraine und der Westrand Russlands.
"Stalins Verbrechen werden oft mit Russland assoziiert und die Hitlers mit Deutschland, aber der mörderischste Teil der UdSSR war ihre nichtrussische Peripherie, und die Nazis mordeten vor allem außerhalb Deutschlands. Die Lager gelten als Inbegriff der Schrecken des 20. Jahrhunderts, aber die meisten Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus starben nicht in Konzentrationslagern. Diese Missverständnisse über Orte und Methoden des Massenmords hindern uns daran, den Schrecken des 20. Jahrhunderts zu verstehen."
Der 1969 geborene Professor in Yale zwingt insbesondere die Leser hierzulande zu einer Revision der seit dem Historikerstreit 1986 fest verankerten Überzeugung, dass man Stalins und Hitlers Regime nicht vergleichen dürfe, da man sonst die Einzigartigkeit des Holocaust bestreite. Fortan wurde über den Stalinschen Terror geschwiegen. Das Thema schrumpfte auf den deutschen Schuldkomplex zusammen. Ein riesiges Territorium und unzählige Opfer gerieten aus dem Blickfeld. Wenn diese Toten vergessen bleiben, hätten Stalin und Hitler gesiegt, die ein Ziel teilten: für welche Sache auch immer Menschen zu vernichten und ihre Existenz zu tilgen.
"In der ersten Periode 1933 bis 1938 beging die Sowjetunion fast alle Massenmorde, in der zweiten während des Hitler-Stalin-Pakts 1939 bis 1941 war die Zahl der Morde auf beiden Seiten ausgeglichen. Zwischen 1941 und 1945 waren dann die Deutschen für fast alle politischen Morde verantwortlich. (…) Das Sowjetsystem war am mörderischsten, wenn die Sowjetunion sich nicht im Krieg befand. Die Nazis ermordeten dagegen nur wenige 1000 Menschen vor dem Krieg. Während ihres Eroberungskriegs töteten die Deutschen dann Millionen von Menschen schneller an jeder Staat vor ihnen."
Man darf nicht vergleichen? Nun, den Opfern in den Bloodlands blieb nichts anderes übrig. Und insbesondere in Polen kamen sie zum Ergebnis, dass keine der beiden Mordmaschinen besser war. Timothy Snyders Buch richtet den Blick insbesondere auf das vielfach geteilte und gebeutelte Polen. Erst die Beute von Hitler und Stalin gemeinsam, dann der Killing Ground Hitlers und schließlich, von den Westalliierten allein gelassen, Satellitenstaat und Pufferzone der Sowjetunion. Beide Diktatoren, Hitler und Stalin, verband ein gemeinsames Ziel: Polen seiner politischen, intellektuellen und sozialen Elite zu berauben. Insbesondere die Killermaschinerie des sowjetischen NKWD arbeitete hoch organisiert:
"NKWD-Offiziere trieben ihre Aufgabe ins logische Extrem, wenn sie das polnische Who's Who studierten, um ihre Opfer zu definieren. Dies war ein Angriff auf das Konzept der Modernität selbst oder auf die soziale Verkörperung der Aufklärung in diesem Teil der Welt. In Osteuropa war der Stolz der Gesellschaften die 'Intelligenz', die Bildungsschicht, die sich als Führung der Nation sah. Hitler befahl explizit, 'alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen'."
"Befreit" wurde Polen 1945 nicht, es geriet vom Regen in die Traufe. Die Westalliierten hatten das Land und seine Exilregierung verraten. England hatte Nazideutschland den Krieg erklärt, um die Unabhängigkeit Polens zu schützen. Aber noch während des Kriegs dachte man nicht daran, Polen vor den sowjetischen Verbündeten zu schützen.
"Die amerikanischen und britischen Soldaten, die sterbende Häftlinge aus Lagern in Deutschland befreiten, glaubten die Schrecken des Nazismus entdeckt zu haben. Die Bilder ihrer Fotografen und Kameraleute von den Leichen und lebenden Skeletten in Bergen-Belsen und Buchenwald schienen die schlimmsten Verbrechen Hitlers zu zeigen. Aber wie die Juden und Polen von Warschau und die Rotarmisten wussten, stimmte das nicht. Das Schlimmste lag in den Ruinen von Warschau, in den Sümpfen von Weißrussland oder den Massengräbern von Babi Jar. Die Rote Armee befreite all diese Orte und die gesamten Bloodlands. Über alle Hinrichtungsorte und toten Städte senkte sich ein eiserner Vorhang in einem Europa, das Stalin sich unterwarf, während er es von Hitler befreite."
Natürlich zielt Snyders Buch nicht nur auf die aus Rechtschaffenheit geborene Kurzsichtigkeit, die man sich in Deutschland angewöhnt hat. Der Historikerstreit hat auch in den USA eine Rolle gespielt, etwa zehn Jahre später als hier. Und er trifft einen wunden Punkt. Haben die USA im Zweiten Weltkrieg nicht nur einen gerechten, sondern auch einen guten Krieg geführt? Oder haben sie die Hälfte Europas befreit, um die andere von Stalin versklaven zu lassen?
Nun, es geht in der Diskussion um die Vergleichbarkeit der Verbrechen Hitlers und Stalins am wenigsten um die Relativierung der Ermordung der Juden, auch wenn Deutungen aus der rechten Ecke das gerne so hätten. Es geht um Geschichtspolitik, in der lange Zeit, vor allem in Deutschland, der Blickwinkel der Sowjetunion dominierte, an deren "Antifaschismus" man glaubte. Und es geht um das Ende einer Illusion, die die These von der Alleinschuld der Deutschen erlaubte: dass auf der anderen Seite das unzweifelhaft Gute angesiedelt gewesen wäre. Das schmerzliche Ende dieser Illusion führt ins graue Reich der Ambiguität, in der es keinen "guten Krieg" gibt, höchstens eine Realpolitik, die sich mit konkurrierenden Übeln abfinden muss.
Snyders Buch ist schwere Kost und die Meinung vieler Rezensenten, dass es brillant geschrieben sei, nicht immer nachvollziehbar. Auch der zeitliche Rahmen, den Snyder absteckt, leuchtet nicht ganz ein, denn bereits im Ersten Weltkrieg und im russischen Bürgerkrieg wurde der Boden bereitet für das folgende Blutbad. Schließlich fehlt nicht selten das verbindende Glied zwischen Zahlen und Daten, der Sprung vom Vergleichen zum Verbinden.
Das aber schmälert das Verdienst des Buchs nicht und ist ein weiterer Grund für eine Neuauflage des Historikerstreits mit einer fälligen Korrektur. Denn die Geschichtsklitterer, die noch die Berliner Mauer für verdienstvoll halten, sind längst wieder unterwegs.
Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin
Aus dem Englischen von Martin Richter
Verlag C.H.Beck, München 2011
Etwa 14 Millionen Menschen kamen zwischen 1933 und 1945 zu Tode - in dem, was der amerikanische Historiker Timothy Snyder Bloodlands nennt. In der politischen Geografie der 30er- und frühen 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind das vor allem Polen sowie die baltischen Staaten, Weißrussland, die Ukraine und der Westrand Russlands.
"Stalins Verbrechen werden oft mit Russland assoziiert und die Hitlers mit Deutschland, aber der mörderischste Teil der UdSSR war ihre nichtrussische Peripherie, und die Nazis mordeten vor allem außerhalb Deutschlands. Die Lager gelten als Inbegriff der Schrecken des 20. Jahrhunderts, aber die meisten Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus starben nicht in Konzentrationslagern. Diese Missverständnisse über Orte und Methoden des Massenmords hindern uns daran, den Schrecken des 20. Jahrhunderts zu verstehen."
Der 1969 geborene Professor in Yale zwingt insbesondere die Leser hierzulande zu einer Revision der seit dem Historikerstreit 1986 fest verankerten Überzeugung, dass man Stalins und Hitlers Regime nicht vergleichen dürfe, da man sonst die Einzigartigkeit des Holocaust bestreite. Fortan wurde über den Stalinschen Terror geschwiegen. Das Thema schrumpfte auf den deutschen Schuldkomplex zusammen. Ein riesiges Territorium und unzählige Opfer gerieten aus dem Blickfeld. Wenn diese Toten vergessen bleiben, hätten Stalin und Hitler gesiegt, die ein Ziel teilten: für welche Sache auch immer Menschen zu vernichten und ihre Existenz zu tilgen.
"In der ersten Periode 1933 bis 1938 beging die Sowjetunion fast alle Massenmorde, in der zweiten während des Hitler-Stalin-Pakts 1939 bis 1941 war die Zahl der Morde auf beiden Seiten ausgeglichen. Zwischen 1941 und 1945 waren dann die Deutschen für fast alle politischen Morde verantwortlich. (…) Das Sowjetsystem war am mörderischsten, wenn die Sowjetunion sich nicht im Krieg befand. Die Nazis ermordeten dagegen nur wenige 1000 Menschen vor dem Krieg. Während ihres Eroberungskriegs töteten die Deutschen dann Millionen von Menschen schneller an jeder Staat vor ihnen."
Man darf nicht vergleichen? Nun, den Opfern in den Bloodlands blieb nichts anderes übrig. Und insbesondere in Polen kamen sie zum Ergebnis, dass keine der beiden Mordmaschinen besser war. Timothy Snyders Buch richtet den Blick insbesondere auf das vielfach geteilte und gebeutelte Polen. Erst die Beute von Hitler und Stalin gemeinsam, dann der Killing Ground Hitlers und schließlich, von den Westalliierten allein gelassen, Satellitenstaat und Pufferzone der Sowjetunion. Beide Diktatoren, Hitler und Stalin, verband ein gemeinsames Ziel: Polen seiner politischen, intellektuellen und sozialen Elite zu berauben. Insbesondere die Killermaschinerie des sowjetischen NKWD arbeitete hoch organisiert:
"NKWD-Offiziere trieben ihre Aufgabe ins logische Extrem, wenn sie das polnische Who's Who studierten, um ihre Opfer zu definieren. Dies war ein Angriff auf das Konzept der Modernität selbst oder auf die soziale Verkörperung der Aufklärung in diesem Teil der Welt. In Osteuropa war der Stolz der Gesellschaften die 'Intelligenz', die Bildungsschicht, die sich als Führung der Nation sah. Hitler befahl explizit, 'alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen'."
"Befreit" wurde Polen 1945 nicht, es geriet vom Regen in die Traufe. Die Westalliierten hatten das Land und seine Exilregierung verraten. England hatte Nazideutschland den Krieg erklärt, um die Unabhängigkeit Polens zu schützen. Aber noch während des Kriegs dachte man nicht daran, Polen vor den sowjetischen Verbündeten zu schützen.
"Die amerikanischen und britischen Soldaten, die sterbende Häftlinge aus Lagern in Deutschland befreiten, glaubten die Schrecken des Nazismus entdeckt zu haben. Die Bilder ihrer Fotografen und Kameraleute von den Leichen und lebenden Skeletten in Bergen-Belsen und Buchenwald schienen die schlimmsten Verbrechen Hitlers zu zeigen. Aber wie die Juden und Polen von Warschau und die Rotarmisten wussten, stimmte das nicht. Das Schlimmste lag in den Ruinen von Warschau, in den Sümpfen von Weißrussland oder den Massengräbern von Babi Jar. Die Rote Armee befreite all diese Orte und die gesamten Bloodlands. Über alle Hinrichtungsorte und toten Städte senkte sich ein eiserner Vorhang in einem Europa, das Stalin sich unterwarf, während er es von Hitler befreite."
Natürlich zielt Snyders Buch nicht nur auf die aus Rechtschaffenheit geborene Kurzsichtigkeit, die man sich in Deutschland angewöhnt hat. Der Historikerstreit hat auch in den USA eine Rolle gespielt, etwa zehn Jahre später als hier. Und er trifft einen wunden Punkt. Haben die USA im Zweiten Weltkrieg nicht nur einen gerechten, sondern auch einen guten Krieg geführt? Oder haben sie die Hälfte Europas befreit, um die andere von Stalin versklaven zu lassen?
Nun, es geht in der Diskussion um die Vergleichbarkeit der Verbrechen Hitlers und Stalins am wenigsten um die Relativierung der Ermordung der Juden, auch wenn Deutungen aus der rechten Ecke das gerne so hätten. Es geht um Geschichtspolitik, in der lange Zeit, vor allem in Deutschland, der Blickwinkel der Sowjetunion dominierte, an deren "Antifaschismus" man glaubte. Und es geht um das Ende einer Illusion, die die These von der Alleinschuld der Deutschen erlaubte: dass auf der anderen Seite das unzweifelhaft Gute angesiedelt gewesen wäre. Das schmerzliche Ende dieser Illusion führt ins graue Reich der Ambiguität, in der es keinen "guten Krieg" gibt, höchstens eine Realpolitik, die sich mit konkurrierenden Übeln abfinden muss.
Snyders Buch ist schwere Kost und die Meinung vieler Rezensenten, dass es brillant geschrieben sei, nicht immer nachvollziehbar. Auch der zeitliche Rahmen, den Snyder absteckt, leuchtet nicht ganz ein, denn bereits im Ersten Weltkrieg und im russischen Bürgerkrieg wurde der Boden bereitet für das folgende Blutbad. Schließlich fehlt nicht selten das verbindende Glied zwischen Zahlen und Daten, der Sprung vom Vergleichen zum Verbinden.
Das aber schmälert das Verdienst des Buchs nicht und ist ein weiterer Grund für eine Neuauflage des Historikerstreits mit einer fälligen Korrektur. Denn die Geschichtsklitterer, die noch die Berliner Mauer für verdienstvoll halten, sind längst wieder unterwegs.
Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin
Aus dem Englischen von Martin Richter
Verlag C.H.Beck, München 2011