Gewalt als Endpunkt

Vincenz Leuschner im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
An 108 Schulen arbeiten bereits Krisenteams, die mögliche Konflikte unter Schülern aufspüren sollen, um Gewaltausbrüche oder gar Amokläufe zu verhindern. Der Entwicklungspsychologe Vincenz Leuschner von der Berliner Freien Universität sieht in der Prävention den besten Weg zur Verhinderung von Gewalt.
Matthias Hanselmann: 16 Menschen tötete der Schüler Robert Steinhäuser bei seinem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, darunter zwölf Lehrer und zwei Schüler. Dieses Massaker von Erfurt, was vor zehn Jahren stattfand, war der erste Amoklauf an einer deutschen Schule. Danach gab es heftige und lange Diskussionen, die auch nach dem Massaker in Winnenden wieder aufflammten. Es sind Fragen nach der Schuld, nach Fehlern bei der Schule, den Eltern, dem System, Fragen nach Möglichkeiten, solche Vorfälle verhindern zu können, zum Beispiel, indem man rechtzeitig Anzeichen wahrnimmt dafür, dass ein Schüler einen Amoklauf plant. An der Berliner Freien Universität beschäftigt man sich seit Langem mit solchen Fragen: Dort gibt es ein Projekt, das sich mit Schulmassakern – zu Englisch: School Shootings – beschäftigt. Es nennt sich NETWASS, das ist die Abkürzung für Networks Against School Shootings, Netzwerke gegen Amokläufe an Schulen also. Projektleiter ist der Entwicklungspsychologe Dr. Vincenz Leuschner, mit dem ich jetzt verbunden bin. Guten Tag, Herr Leuschner!

Vincenz Leuschner: Ja, guten Tag, hallo!

Hanselmann: Morgen, wie gesagt, jährt sich der Amoklauf von Erfurt zum zehnten Mal. Sind Schüler an deutschen Schulen inzwischen besser geschützt vor einer solchen Tat als damals?

Leuschner: Nun, man kann sagen, dass seit dem Vorfall in Erfurt einiges passiert ist an den deutschen Schulen, dass vielfältige Präventionsanstrengungen unternommen wurden, dass zum einen das Waffengesetz jetzt schon zweimal verschärft wurde, dass mittlerweile alle Bundesländer Notfallpläne, sogenannte Notfallpläne oder Krisenrahmen, Krisenpläne erlassen haben, die genau das Verfahren und den Schutz im konkreten Notfall, in der Krisensituation verbessern helfen, und dass auch an vielen Schulen Präventionsanstrengungen im ganz allgemeinen Bereich der Gewaltprävention unternommen wurden. Ob das alles dazu führt, dass am Schluss die Schule wirklich besser geschützt ist und so einen Vorfall nicht mehr passiert, kann man ganz schwer sagen. Also, man kann auch gerade, weil bestimmte Maßnahmen wie zum Beispiel Waffenverbote natürlich auf einzelne Faktoren zielen, die in einem großen Bündel an Ursachen eine einzige Rolle sind, kann man jetzt nicht sagen, dass dadurch definitiv so etwas ausgeschlossen werden kann, dass es in der Zukunft nie wieder passiert.

Hanselmann: Was haben Sie denn bisher über die Ursachen für einen Amoklauf herausgefunden, was ist der Stand der Forschung für School Shootings?

Leuschner: Also, wichtig ist als Allererstes zu sagen, dass – wir sprechen nicht von Amok, sondern von schwerer zielgerichteter Schulgewalt –, dass diese immer der Endpunkt ist einer krisenhaften Entwicklung eines Jugendlichen, bei der ganz unterschiedliche psychische, situative, interaktive, strukturelle Aspekte zusammenwirken. Das heißt, es gibt nicht eine monokausale Erklärung für diese Tat, sondern das ist quasi ein Entwicklungsprozess über einen längeren Zeitraum. Was sehr wichtig ist, vor allem, wenn man über Prävention nachdenkt, ist, dass diese Entwicklungswege immer begleitet sind von beobachtbaren Signalen. Also, wir wissen mittlerweile, dass in allen Fällen, die bisher in Deutschland passiert sind, aber auch, die international stattgefunden haben, immer im Vorfeld von den Jugendlichen bestimmte Hinweise gegeben wurden, teilweise direkt, teilweise indirekt, und sie quasi ihre Tatfantasien auf irgendeine Art und Weise mitgeteilt haben. Und genau das ist für uns die Möglichkeit, tatsächlich präventiv anzusetzen und dann auch spezifisch auf solche Warnhinweise zu reagieren.

Hanselmann: Das ist das, was Sie Leaking nennen. Der Vorläufer Ihres Projekts hieß ja Berliner Leaking Projekt, das steht für Durchsickern. Gemeint sind eben, wie Sie gerade sagten Anzeichen, die auf einen Amoklauf hindeuten. Jetzt ist natürlich die Frage, wie man so was im Vorfall erkennen kann. Wer und wie kann das erkennen?

Leuschner: Also, wir haben dabei den Ansatzpunkt, dass es nicht darum geht, dass wir solche Hinweise als Hinweise dafür verstehen, dass jemand wirklich einen Amoklauf plant, sondern vielmehr kann man davon sprechen, dass es quasi erst einmal allgemeine Hinweise sind, die darauf hindeuten, dass es dem Jugendlichen möglicherweise in seiner Situation gerade nicht besonders gut geht, dass er in einem Prozess ist, wo er sich mit Gewalt beschäftigt, wo er das vielleicht für sich auch als Lösung für Probleme sieht. Das können Probleme innerhalb der Schule sein, Auseinandersetzungen mit Lehrern, Mobbing innerhalb der Familie. Die Ursachen sind da sehr unterschiedlich. Was wichtig ist, dass diese Intervention, wenn man an dieser Stelle hellhörig wird und darauf reagiert, in jedem Falle dazu führt, dass man vielleicht diese krisenhafte Entwicklung des Jugendlichen stoppen kann. Das heißt noch lange nicht, dass diese Entwicklung dann wirklich in einen Amoklauf gemündet wäre, vielmehr kann es genau so sein, dass diese Gewaltfantasien oder diese Gewaltüberlegungen sich hinsichtlich eines Suizids richten oder eine ganz andere Form von Ausdruck finden.

Hanselmann: Aber das ist es ja gerade, das macht die Sache ja besonders schwierig. Es gibt dazu auch noch den Fall von Fakes, also von Kindern, die solche Internetbotschaften absetzen, um auf sich aufmerksam zu machen, um anzugeben und um andere zu erschrecken.

Leuschner: Ja, genau, der Trittbrettfahrereffekt ist ungemein groß. Wir haben aber hier auch schon einiges an Forschung unternommen, indem wir quasi Gewaltankündigungen, die nicht realisiert waren, die, wie Sie sagen, Fake waren, verglichen haben mit den tatsächlich abgelaufenen Taten und dabei auch Unterschiede feststellen können. Und das ist im Grunde auch der Kernbereich dessen, was wir jetzt in unserem Präventionsprojekt an den Schulen machen. Wir sind aktuell an 108 Schulen, wo wir Krisenteams ausbilden, solche Hinweise zu bewerten und geeignete Hilfsmaßnahmen im Grunde einzusetzen. Und genau da geht es uns darum, im Grunde Lehrer handlungssicher zu machen, solche Quasi- Ankündigungen, die dazu dienen sollen, die Mathearbeit zu vermeiden, von solchen zu unterscheiden, die tatsächlich ernst zu nehmen sind.

Hanselmann: Braucht es dazu an jeder Schule geschultes Personal oder vielleicht wenigstens einen Menschen, der sich damit bestens auskennt?

Leuschner: Ja, also, ich denke, das ist auf jeden Fall notwendig. Zumindest, es soll jetzt nicht darum gehen, dass die Lehrer hier zu Psychologen ausgebildet werden und jetzt Täterprofile erstellen oder dergleichen. Es geht viel mehr darum, dass sie innerhalb im Rahmen ihrer schulischen Möglichkeiten sehen, wo eine Krisensituation eines Jugendlichen möglicherweise eskalieren kann, und dass sie dann auch quasi in einem Netzwerk – deshalb auch Networks Against School Shooting – zusammenarbeiten mit der Schulpsychologie, mit der Polizei, aber auch mit anderen Hilfseinrichtungen, möglicherweise mit niedergelassenen Therapeuten, mit den Eltern natürlich ganz, ganz zentral, in den Kontakt mit den Eltern treten, und sie einfach auch über die Möglichkeiten, über Hilfemöglichkeiten Bescheid wissen und diese auch quasi mit dem Jugendlichen anbieten können.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Vincenz Leuschner von der FU Berlin. Er koordiniert ein Projekt zur Präventionsarbeit bei Amokläufen an deutschen Schulen. Herr Leuschner, wie beurteilen Sie eigentlich den Umgang der Politik mit dem Thema, also School Shooting, Amokläufe oder, wie ich eben von Ihnen gelernt habe, schwere zielgerichtete Schulgewalt. Hat man denn nach Erfurt angemessen reagiert?

Leuschner: Also, es ist in jedem Falle wirklich sehr viel passiert, das kann man nicht in Abrede stellen. Ich hatte die Maßnahmen vorhin schon zum Teil erwähnt, die natürlich ja auf politische Initiativen zurückzuführen sind. Nun muss man natürlich sehen, dass wir uns dann immer mit der Spitze des Eisbergs beschäftigen, wenn wir von eben in Deutschland zwölf Taten schwerer zielgerichteter Schulgewalt dann einen Anlass sehen, im Grunde uns mit Prävention von Gewalt ganz generell zu beschäftigen.

Das muss man immer dabei berücksichtigen. Und natürlich wissen wir aus der Erfahrung an den Schulen, dass viele Lehrer sagen, wir kommen auch an unsere Kapazitätsgrenzen, wir müssen so viele Sachen, sollen wir irgendwie innerhalb der Schule erledigen, dafür reichen unsere Ressourcen nicht aus, wir müssten eigentlich weniger Kinder in der Klasse haben, wir müssten besser ausgestattet sein an manchen Stellen. Und das würde ganz viel auch schon helfen, weil natürlich die Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Schüler relativ gering ist nur, wenn ich jeden Tag mit 30 Schülern konfrontiert werde, und das in wechselnden Klassen. Also, da ist natürlich eine ganz grundsätzliche Problematik dahinter, die man dabei immer mit berücksichtigen muss.

Hanselmann: Würden Sie die Eltern ermuntern, ein bisschen wegzukommen von der häufig noch anzutreffenden Internetfeindlichkeit, der Feindlichkeit vor sozialen Netzwerken wie Facebook und so weiter, sollten sie mehr sich daran beteiligen, vielleicht Zeichen spüren von Freunden ihrer Kinder und so weiter?

Leuschner: Ja, ich denke, das ist natürlich auch ein bisschen altersbedingt. Heute ist es das Internet, früher hat man andere Sachen mit seinen Freunden ausgetauscht, wo man jetzt auch nicht unbedingt wollte, dass die Eltern das mit erfahren. Natürlich sollten Eltern wissen, aufmerksam den Computerkonsum ihrer Kinder mit verfolgen und zumindest wissen, was sie da betreiben, also, dass nicht solche Sachen vorkommen, dass man eben, dass ein Jugendlicher über Jahre exzessiv seine ganze Freizeit nur noch in Nebenrealitäten, Ego-Shootern verbringt und die Eltern das irgendwie nicht wirklich mitbekommen. Das sind natürlich so Fälle, wo man denkt, das ist doch nicht möglich! Also, natürlich sollten Eltern darauf achten, aber es geht in keiner Weise darum, auch solche Spiele, die Internetnutzung der Jugendlichen da an der Stelle zu verurteilen, das ist nun mal unsere aktuelle Realität und man kann auch bei diesen Fällen nicht sagen, dass quasi dieses Spielen von Ego-Shootern ein jetzt besonders gravierender auslösender Faktor gewesen wäre. Es spielt in manchen Fällen als Risikofaktor mit eine Rolle, aber auch längst nicht in allen. Also, daraus jetzt zu schließen, das alles zu verteufeln, das wäre auf jeden Fall nicht richtig.

Hanselmann: Mit der Bitte um kurze Antwort: Sie haben die School Shootings in Deutschland verglichen mit solchen im Ausland. Hat Ihnen das was gebracht?

Leuschner: Ja, also, das ist bei uns im Projekt gemacht worden. Es gibt da einige Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass es kulturspezifische Unterschiede gibt. Was den Waffenzugang zum Beispiel angeht, zwischen Deutschland und den USA ist das relativ eindeutig, aber auch, was die Ausrichtung der Taten angeht. Das ist natürlich auf einer sehr wackeligen Grundlage, weil wir sehr wenige Fälle haben, aber man sieht ein paar Auffälligkeiten, wie zum Beispiel, dass in amerikanischen Fällen stärker Mitschüler betroffen sind, in deutschen Fällen eher Lehrer oder stärker Lehrer. Aber das jetzt wirklich hochzurechnen, das sind erste Anzeichen, für kulturspezifische Untersuchungen. Das müsste aber weiter erforscht werden.

Hanselmann: Man kann Ihrer Arbeit nur viel Erfolg wünschen und das tun wir hiermit. Vielen Dank, Vincenz Leuschner, Entwicklungspsychologe an der FU Berlin zu Möglichkeiten, schwere zielgerichtete Schulgewalt oder auch Amokläufe an unseren Schulen zu verhindern. Schönen Dank und guten Tag!

Leuschner: Ja, ich danke Ihnen auch, tschüss!

Hanselmann: Tschüss!
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