Wo das Recht mit Füßen getreten wird
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Sie werden getreten, geschlagen, gedemütigt – und dann zurückgeschickt. Illegal. Gewalt gegenüber Flüchtlingen an den Grenzen auf dem Balkan – das war 2015 der Fall, und ist es wieder 2019.
Zemira Godinjac trägt keinen Mundschutz, im Gegensatz zu den Totengräbern. Der süßliche Verwesungsgeruch scheint sie nicht zu stören. Ihr helles Kopftuch flattert im Wind, ihr Blick ist auf das offene Grab gerichtet. Die beiden Totengräber tragen weiße Overalls und knallrote Gummihandschuhe, die bis zu den Ellenbogen reichen. Schaufel für Schaufel legen sie das Grab frei, bis ein Blechsarg zum Vorschein kommt. Als der Sarg geöffnet wird, kommen Zemira Godinjac die Tränen:
"Ich habe mir so sehr gewünscht, dass er nach Hause kommt. Dass seine Mutter zu seinem Grab gehen kann, dass seine Kinder zu seinem Grab gehen können. Ich kann nicht verstehen, wie jemand auch nur denken kann, dass er hierbleiben soll. In meiner Trauer bin ich glücklich. Denn ich weiß, dass es jemanden gibt, der ihn besuchen wird und die Al-Fatiha für ihn beten wird. Ich danke Allah, dass es so gekommen ist und dass jetzt alles ein Ende findet."
Zemira Godinjac trauert um Ihsanudin Gull Mohammad. Sein Leichnam wird gerade exhumiert und soll in wenigen Tagen aus der nordwestbosnischen Stadt Bihac in seine Heimat Afghanistan überführt werden.
Rückblick. Ihnsanudin Gull Muhammad stirbt im Mai 2018. Der Körper des damals 26-Jährigen wird im Fluss Korana gefunden, etwa 30 Kilometer von der Stadt Bihac entfernt. Der Fluss markiert die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und dem EU-Land Kroatien. Die Korana ist hier von Gestrüpp und Unterholz gesäumt und nur wenige Meter breit.
Über 200 Tote seit 2013 - verantwortlich fühlt sich keiner
Mindestens 206 Menschen kamen seit Juli 2013 auf der sogenannten Balkanroute ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Das ARD-Studio Südosteuropa hat mehr als zwei Jahre lang Informationen über Todesfälle entlang der sogenannten Balkanroute gesammelt. Die Menschen wurden erschossen, sind erstickt, erfroren, ertrunken, wurden von Zügen überrollt und starben in Schlepperautos. Einige begingen Suizid. Kranke Menschen starben, weil sie unzureichend medizinisch versorgt wurden.
Die Schicksale der Menschen zeigen: Behörden, Polizei und Politiker fühlten sich nicht ausreichend verantwortlich. Auch die bosnischen Behörden wissen im Mai 2018 nicht so recht, wie sie mit Ihsanudins Leichnam umgehen sollen. Schließlich organisiert Zemira Godinjac die Beerdigung.
"Aleykum Selam! Bruder, mach dir keine Sorgen wegen des Geldes. So Gott will, werden wir es einsammeln. Schick uns die Dokumente, damit wir arbeiten können"
Endlich: Zemira Godinjac hat den Kontakt zu Ihsanudins Familie. Über Facetime spricht sie mit seinem Bruder Omar Khan. Auch er möchte, dass Ihsanudin in seiner Heimat begraben wird. Zemira Godinjac nimmt daraufhin Kontakt zur afghanischen Botschaft auf und beginnt die Exhumierung Ihsanudins und die Exhumierung des Leichnams nach Afghanistan zu organisieren.
Überlebenskampf im Grenzgebiet
Rasim Ruzdic lässt den Blick über den Fluss Korana schweifen. Der Tod des jungen Mannes aus Afghanistan, den er aus dem Fluss gezogen hat, beschäftigt ihn auch heute noch. Rasim Ruzdic glaubt, dass Ihsanudin auf der Flucht vor der kroatischen Polizei gestorben ist, und macht den Behörden des Nachbarlandes schwere Vorwürfe:
"Ich kann nur sagen, dass das nicht fair ist und dass wir begreifen und wissen sollten: Alle diese Menschen, die sie drüben erwischen, zwingen sie illegal zurück über diesen Fluss zu gehen. Sie nehmen ihnen das Geld weg und die Telefone und verprügeln sie. Sie kommen hier manchmal nackt an mit blauen Flecken auf ihren Rücken, als wäre ein Panzer über sie gefahren. Das ist Überlebenskampf. Sie haben keine Zeit, über etwas Anderes auch nur nachzudenken."
Wir sind in Bihac und sind in der Nähe der Grenze. Die Lage in Bihac ist nicht gut. Anfang Juni 2019 schickt Farshid Mohammadi eine Sprachnachricht an das ARD-Studio Südosteuropa. Der junge Afghane sendet sie direkt aus dem Wald bei Bihac an der bosnisch-kroatischen Grenze, die er ohne gültige Papiere überqueren möchte:
"Wir leben hier in einer zerstörten Hausruine. Wir müssen vorsichtig sein. Und heute Nacht gehen wir vielleicht los und überqueren die Grenze."
"Das ist keine Polizei, das sind Kriminelle"
Farshid Mohammadi ist damals mit Verwandten unterwegs. Unter ihnen zwei Mädchen, sechs und sieben Jahre alt. Die kleine Gruppe wird von kroatischen Grenzpolizisten entdeckt. Diese schießen in die Luft, bedrohen sie mit Hunden und zertreten einem der Mädchen die Brille. So beschreibt es der 25-jährige Farshid kurze Zeit später bei einem Treffen in der Nähe von Sarajevo:
"Sie haben uns gecheckt und dann geschlagen. Jeden anders. Mich haben sie gefragt, wohin willst du. Ich sagte, nach Kroatien, und sie sagten, das ist nicht dein Haus, und haben mich geschlagen. Geschlagen, getreten und gesagt, bleib, wo du bist. Einen anderen von uns haben sie mit dem Gewehrkolben in den Rücken gedroschen. Ein anderer hatte in der Jacke seiner fast sechsjährigen Tochter sein Handy versteckt. Und als sie es entdeckt haben, haben sie den Vater sehr geschlagen. Ich habe das nicht gesehen, denn aus Angst vor den Polizisten habe ich nach unten geschaut. Der Vater hat geweint, seine Tochter auch. Sie kamen mit ihren Hunden ganz nah an uns heran und er sagte, sie hat Angst, und sie haben nur gelacht."
Nach der brutalen Abschiebung aus Kroatien landet Farshid zunächst wieder in Bihac. Die 60.000- Einwohner-Stadt liegt im Nordwesten Bosniens. Seit Ende 2017 versuchen viele von dort aus nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen.
Über die Polizeigewalt alleine an dieser Grenze gibt es inzwischen Tausende von Berichten wie diese: "Früher haben sie nicht geschlagen. Sie haben uns nur zurückgeschickt und die Handys zerstört. Aber jetzt nehmen sie unser Geld, nehmen die Handys - und jetzt schlagen sie. Sie brechen Arme, Beine, Köpfe, es ist sehr schlimm."
"Ich habe zum Polizisten gesagt: Warum schlägst du mich? Ich könnte sterben, weil ich zwei Herz-Bypässe habe. Das ist keine Polizei, das sind Kriminelle."
Die Menschenrechtskovention gilt auch auf grünen Grenzen
Eine Klarstellung: Kein Land muss Menschen ohne gültige Papiere ein- oder durchreisen lassen. Doch für sie gilt nationales und europäisches Recht und auch an einer grünen Grenze greifen Genfer Flüchtlingskonvention und europäische Menschenrechtskonvention. Jedes geäußerte Asylersuchen muss demnach in einem formalen Verfahren geprüft werden. Gruppenausweisungen sind per se nicht erlaubt, ohne jegliche Möglichkeit, die persönliche Situation zu erklären.
"Kroatien hat 6.500 Polizisten an der Grenze, und beim Grenzschutz halten wir uns an nationale Gesetze, an internationale Konventionen und natürlich an EU-Vorschriften. Alles, was Kroatien tut, verhindert illegale Migration."
Ministerpräsident Andrej Plenkovic mit der Standardantwort der kroatischen Regierung auf die Push-Back- und Gewaltvorwürfe, erhoben von Menschenrechtsorganisation und den Flüchtenden selbst. Kroatien argumentiert so: Als Land mit einer EU -Außengrenze setzt es den so genannten Schengener Grenzkodex um. Eine Verordnung des EU-Parlaments und des Europäischen Rats, die das Überschreiten von Grenzen regelt. Gewalt und illegale Abschiebungen sind auch hier selbstverständlich nicht vorgesehen. Umso schockierender die Aussage der kroatischen Präsidentin Kolinda Grabar Kitarovic Anfang Juli 2019 im Schweizer Fernsehen:
"Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn Sie Menschen abschieben. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von den Polizisten vor Ort, die ich getroffen habe, immer wieder versichert, dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden."
Zum Mitschreiben: Die Präsidentin eines EU Landes gibt offen Polizeigewalt zu gegenüber Menschen ohne gültige Papiere an einer EU-Grenze.
Abschiebungspraktiken auf dem ganzen Balkan
Die Stufen durch das nüchterne Treppenhaus führen zu Zoran Drangovski. Er ist Präsident der Vereinigung "Mazedonische junge Anwälte" in Skopje, die sich für Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzt. Illegale Abschiebungen auf dem Balkan gebe es seit Jahren, sagt Zoran Drangovski, doch die Regierungen würden dazu schweigen.
"Es gibt ein Muster auf dem Balkan: Griechenland hat sich noch nie über Abschiebungen aus Nordmazedonien nach Griechenland beschwert. Nordmazedonien hat sich nie über tägliche illegale Abschiebungen aus Serbien beschwert. Sie haben Fälle, in denen Menschen von Bulgarien aus nach Serbien kamen und dann nach Nordmazedonien gebracht wurden. Ohne offizielle Prozedur. Es gibt scheinbar eine stille Übereinkunft der Westbalkanländer und weiterer Länder wie Griechenland, keinen Lärm um Push-Backs und Abschiebungen zu machen. Und deswegen passiert, was passiert."
Die Vereinigung junger Anwälte vertritt kostenlos Flüchtende, Asylsuchende oder staatenlose Menschen. 2015 nimmt die Verletzung der Menschenrechte an den Balkangrenzen zu, so Drangovski. Während der großen Flüchtlingsbewegung, als rund 800.000 Menschen den Balkan überqueren.
Hunderte Menschen kommen im Frühjahr 2016 täglich am griechisch-nordmazedonischen Grenzübergang Idomeni an, wo ein selbstorganisiertes Camp entstanden ist. Im Matsch und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen sind auch Kinder und Babys gestrandet.
Mitte März 2016 sitzt auch die Familie Asaf aus Syrien in Idomeni fest. Für sie und mehr als zehntausend andere gibt es kein Weiterkommen mehr. Vater, Mutter, die 20-jährige Tochter und der 23-jährige Sohn haben ihre Heimatstadt Aleppo wegen des Kriegs verlassen. Nun versperren ein hoher Stacheldrahtzaun und bewaffnete nordmazedonische Soldaten und Polizisten den Weg. Am Mittag des 14. März 2016 gibt es plötzlich Bewegung, erzählen Nara Asaf und ihre Tochter Rama mehr als drei Jahre später:
"Eines Morgens sagten die anderen, okay, sie gehen in Richtung mazedonische Grenze. So viele Menschen, ich habe gesehen, wie sie losgelaufen sind. Und ich sagte, okay, dann müssen wir auch gehen."
Flüchtlingsfamilie verklagt Nordmazedonien
Mehr 1500 Männer und Frauen mit Babys und Kinder laufen los. Eine Gruppe wird gestoppt und von nordmazedonischen Soldaten nach Idomeni zurückgeschoben. Laut Berichten unter Waffengewalt und mit wüsten Beschimpfungen. Die Familie Asaf läuft mit rund 600 Menschen in einer zweiten Gruppe und wird auf einem Hügel von nordmazedonischen Soldaten angehalten. Eine ganze Nacht lang müssen sie dort ausharren, hungrig, müde und verängstigt auf dem kalten Boden sitzen. Umringt von den bewaffneten nordmazdeonischen Soldaten, die Hunde dabeihaben und mit Schlägen drohen, erinnert sich Nara Asaf.
"Und so haben wir die Nacht verbracht, ohne Zelt, und haben im Regen geschlafen. Am nächsten Morgen haben sie gefragt, ob jemand englisch spricht, und mein Sohn hat ja gesagt, und da waren so viele Soldaten und Hunde. Und sie sagten, wenn ihr jetzt nicht geht, dann hetzen wir die Hunde auf euch."
Erschöpft und völlig durchnässt laufen sie am nächsten Morgen rund fünf Stunden zurück von Nordmazedonien nach Idomeni in Griechenland. Es ist die erste von insgesamt sieben illegalen Abschiebungen, die Nara und Rama Asaf erlebt haben. Wir haben ihre Namen geändert, denn die Familie Asaf hat den Staat Nordmazedonien verklagt. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Im April 2016 setzten die nordmazedonische Polizei und Armee Tränengas gegen Flüchtenden ein, auch gegen die Familie Asaf.
"Danach wussten wir, dass wir kämpfen müssen. Denn es war genug."
Kollektivausweisungen sind verboten
Die insgesamt acht Kläger aus Syrien, Afghanistan und dem Irak berufen sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Artikel Vier des vierten Zusatzprotokolls verbietet sogenannte Kollektivausweisungen ohne jegliches Verfahren und Artikel 13 garantiert das Recht auf effektive Rechtsmittel, also die Möglichkeit, gegen illegale Abschiebungen etwas tun zu können. Weil Letzteres in Nordmazedonien nicht der Fall war, können die Kläger auch direkt beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof klagen ohne Umwege über nationale Gerichte.
"Wir hoffen, dass sie dieses aggressive Vorgehen beenden. Denn auch wenn ich aus einem anderen Land komme, habe ich doch Rechte. Und es steht niemandem zu, dieses Recht zu missachten und mich zu verletzten."
Ertrunkener Afghane wird in der Heimat beerdigt
Flughafen Kabul, Ende April 2019. In wenigen Minuten landet eine Maschine aus Istanbul. An Bord der Körper des in Bosnien ertrunkenen Ihnsaundin Gull Mohammad.
An diesem Tag gibt es am Flughafen konkrete Warnungen vor Anschlägen und es wimmelt vor bewaffneten Sicherheitskräften. Ihsanudins Bruder Omar Khan und seine 15 Begleiter aus einem kleinen Dorf in der Provinz Nangarhar stehen in der Ankunftshalle und fallen auf. Als die Polizisten das Mikrofon unseres Teams sehen, werden sie nervös:
"Von welchem Medium sind Sie? Stoppen Sie die Aufnahme!"
Das Problem mit der Polizei lässt sich schnell klären und beeindruckt Omar Khan kaum. Er verlässt die Ankunftshalle und wartet mit seinen Freunden draußen.
"Ich bin sehr glücklich, dass ich diese Möglichkeit habe und dass mir geholfen worden ist, den Körper zu bekommen. Der Kummer und die Trauer sind vorbei und ich freue mich, ihn zu empfangen, als wäre er noch am Leben."
Omar Khan erfährt im Frühjahr 2018, dass sein Bruder an der bosnisch-kroatischen Grenze ertrunken ist und in Bosnien begraben liegt. Ihsanudins Sarg ist angekommen. Die Männer sprechen ein kurzes Gebet, laden den in LKW-Plane eingewickelten Sarg in einen Wagen und fahren zurück in ihr Heimatdorf.