Bis zu fünfzig Morde im Monat
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Häusliche Gewalt in der Türkei hat im Lockdown zugenommen. Aber es gab sie schon lange vor Corona. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der Frauen, die von Männern getötet wurden, verdoppelt. Aber der Widerstand gegen die Gewalt wächst.
Etwa ein Dutzend Menschen haben sich vor dem Çağlayan-Justizpalast im Norden von Istanbul versammelt. Es ist windig und nieselt ein bisschen. Eine kleine schmächtige Frau mit aprikosenfarbenem Mantel und blau-gelb-rotem Kopftuch hält ein kleines Bild vor sich.
Darauf zu sehen ist ihre 32-jährige Tochter Pınar Umay Baykan zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Pınar wurde Anfang März von ihrem Ehemann ermordet.
Mit brüchiger Stimme wendet sich Pınars Mutter an die wenigen Reporter, die zum Prozessauftakt gekommen sind. Was sie sagt, ist kaum zu verstehen. Pınars älterer Bruder verliest eine vorbereitete Erklärung der Familie.
"Wir sind hier, um Gerechtigkeit für unsere Tochter Pınar Umay Baykan zu verlangen, die von ihrem Ehemann erstochen wurde. Wir konnten nicht genug Zeit mit Pınar verbringen, und auch ihre anderthalbjährige Tochter konnte das nicht. Diese brutale Tat steckt auch in unserem Herzen wie ein Messer. Wir möchten hier öffentlich sagen, dass wir trotz unseres eigenen Schmerzes für Gerechtigkeit für alle Frauen kämpfen werden, die Opfer von Gewalt und Mord geworden sind."
"Wir werden die Frauenmorde stoppen"
Nachdem die Fälle von Gewalt an Frauen in der Türkei in den letzten Jahren immer weiter gestiegen waren, erreichten sie 2019 einen vorläufigen traurigen Höhepunkt mit 474 getöteten Frauen, wobei die Dunkelziffer wahrscheinlich noch höher liegt.
Neben Familie Baykan stehen zwei Aktivistinnen der Organisation "Wir werden die Frauenmorde stoppen" und halten lilafarbene Schilder hoch. Darauf steht: "Du wirst niemals allein gehen." Die Aktivistinnen begleiten misshandelte Frauen oder Angehörige von Ermordeten häufig zu Gerichtsverhandlungen. Sie leisten Rechtsbeistand, bemühen sich auch darum, das Thema Gewalt an Frauen über die sozialen Medien stärker ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und organisieren Workshops und Demonstrationen.
Melek Önder, eine 32-Jährige mit festem Blick, arbeitet seit fünf Jahren für die Organisation. Sie sitzt in einem stylischen Café mit Holzmobiliar im İstanbuler Stadtteil Bomonti, einem gehobenen Geschäftsviertel mit schicken Apartments. Sie trägt ein schlichtes blaues Shirt und trinkt Kaffee. Das Brummen eines großen Gefrierschranks dringt aus der offenen Küche.
"Seit Jahren sehen wir diese Morde an Frauen, 20, 25, 30 Frauen, jeden Monat. Es gab auch schon mal 50 Morde in einem Monat. Was das für Zahlen sind, über die wir hier reden!"
Meistens sind es Beziehungstaten
Die meisten Morde sind Beziehungstaten: aus Eifersucht, wegen einer Trennung oder weil eine Frau eigene Entscheidungen treffen wollte. Die türkische Gesellschaft befindet sich im Wandel. Frauen wollen mehr Selbstbestimmung. Männer, die an traditionellen Geschlechterrollen festhalten wollen, kommen damit oft nicht klar – unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht. Bei manchen entlädt sich das in Aggression.
Nach einem besonders brutalen Mord an der 38-jährigen Emine Bulut gelangte das Thema Gewalt an Frauen stärker in die Öffentlichkeit. Sie wurde im August letzten Jahres von ihrem Mann in einem Restaurant in der Kleinstadt Kırıkkale nahe Ankara mit einem Messer attackiert. Im Internet kursiert ein Video, auf dem sie blutüberströmt in dem Lokal steht und sich den Hals hält. Ihre Tochter und sie selbst schreien in Panik.
Es folgte ein öffentlicher Aufschrei, zunächst in den sozialen Medien, dann auf der Straße. Im Istanbuler Ausgehviertel Kadıköy versammelten sich im November tausende Frauen zu einer Demonstration. Die Aktivistin Melek war natürlich mit dabei. Sie brennt sehr für dieses Thema. Man hört es ihr an:
"Im vergangenen Jahr, besonders durch den Mord an Emine Bulut, wurde für die Öffentlichkeit sehr deutlich, was wir Frauen durchmachen. Es bildete sich so ein Momentum, in dem all die Wut all der Frauen sich aufbaute. Und dann hat sich das in diesem großen Protest in Kadıköy entladen."
Hoffnung auf die "Istanbuler Vereinbarung"
2011 hatte die türkische Regierung als eine der ersten die sogenannte "Istanbuler Vereinbarung" unterzeichnet, ein Abkommen der Mitgliedsstaaten des Europarats, zu dem auch die Türkei gehört. Das Abkommen und das darauf basierende türkische Gesetz Nummer 6284 dient zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt allgemein. Die Unterzeichnung habe große Wirkung gezeigt, sagt Melek:
"In dem Jahr, in dem die Istanbuler Vereinbarung unterzeichnet wurde, haben wir die niedrigsten Zahlen an Frauenmorden gehabt. In dem Jahr startete die türkische Regierung eine Null-Toleranz-Kampagne zu Gewalt gegen Frauen."
Jedoch gingen die Zahlen bald darauf wieder nach oben. Türkische Frauenrechtsorganisationen kritisieren, dass es an der Umsetzung des Abkommens hapere.
Es gibt Berichte darüber, dass Polizei und Behörden nicht in ausreichendem Maß auf Hilferufe reagieren. Ein Beispiel ist der Fall Ayşe Tuba Arslan. Die 45-Jährige ging 23 Mal zur Polizei, um ihren gewalttätigen Ex-Mann anzuzeigen. Sie bekam keine Hilfe. Schließlich erstach er sie im vergangenen Oktober. Nach den Morden an Ayşe Tuba Arslan, Emine Bulut und dem darauf folgenden öffentlichen Aufschrei ergriff die türkische Regierung Anfang 2020 schließlich konkrete Maßnahmen, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen.
Selbst der Innenminister sprach auf einer Konferenz zum Thema Gewalt gegen Frauen, sein Ministerium schickte Anweisungen an alle Provinzverwaltungen, dem Thema mehr Beachtung zu schenken und, wenn nötig, unverzüglich Schutzmaßnahmen einzuleiten. Es gab Schulungen für Polizei und Behördenmitarbeiter auf verschiedenen Ebenen, damit sie gefährdete Frauen erkennen und ihnen besser helfen können. Das habe viel gebracht, glaubt Melek:
"Es war wichtig, dass die Regierung diese Schritte getan hat. Das kann man nicht verleugnen. Wir haben seitdem einen tendenziellen Rückgang der Fälle gesehen."
Als Corona kam, wurden die Frauen schutzlos
Aber dann kam Corona. Und neben der Pandemie und der bereits vorher herrschenden Wirtschaftskrise trat das Thema Gewalt gegen Frauen wieder in den Hintergrund.
Die Türkei verhängte zwar keinen so strengen Lockdown wie andere Staaten, aber Restaurants und viele Geschäfte blieben auch hier einige Wochen geschlossen und es gab immer wieder verlängerte Wochenenden und Feiertage mit Ausgangssperren. Während dieser Zeit waren Frauen, die unter häuslicher Gewalt litten, praktisch schutzlos.
Die Organisation Mor Çatı, die älteste Frauenrechtsorganisation der Türkei, kritisiert auf ihrer Website, dass es seitens der Regierung keinen Corona-Notfallplan zum Schutz bedrohter Frauen gab. Die Priorität habe einzig auf der Eindämmung der Pandemie gelegen. Es habe nicht einmal spezielle Hinweise auf die staatliche Notruf-App für Frauen gegeben. Und der Rat der Richter und Staatsanwälte entschied, dass Maßnahmen gegen gewalttätige Ehemänner und andere Täter daraufhin überprüft werden müssten, ob sie deren Gesundheit gefährdeten. So wurde de facto die "Istanbuler Konvention" umgangen, die besagt, dass die Sicherheit der Opfer oberste Priorität haben müsse.
Im Juni wurde jeden Tag eine Frau ermordet
Die Versäumnisse schlugen sich prompt in den Zahlen nieder. Frauenschutzorganisationen registrierten sehr viel mehr Hilferufe. Melek Önder hat das selbst beobachtet. Sie arbeitet in ihrem Hauptberuf für ein Exportunternehmen, aber verbringt nebenbei viel Zeit mit der ehrenamtlichen Arbeit für die Plattform gegen Frauenmorde.
"Im März, April und Mai haben wir 55 Prozent mehr Hilferufe registriert. Zwischen dem ersten und dem zehnten Juni wurde landesweit jeden Tag eine Frau ermordet. Und die Gesamtzahlen für den Juni liegen bei 27 Morden und 23 weiteren Todesfällen von Frauen, die unter dubiosen Umständen ums Leben kamen."
Beinahe wäre Canan Dursun auch in die aktuelle Statistik eingegangen. Die 31-jährige sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer, eine ruhige, etwas schüchterne Frau mit streng nach hinten gebundenen Haaren. Ihre beiden Kinder spielen im Nebenzimmer. Nach der Trennung von ihrem Mann im vergangenen Jahr – nach zehn Jahren Ehe – ist sie wieder zu ihren Eltern gezogen. Sie wohnen in einem Arbeiterviertel im Osten İstanbuls.
Er hörte nicht auf, mich zu misshandeln
Bereits kurz nach der Heirat wurde ihr Mann ihr gegenüber zum ersten Mal gewalttätig, erzählt sie.
"Seit wir geheiratet haben, habe ich Gewalt erlebt. Das erste Mal hat er mich bereits in der Woche nach unserer Heirat mit einem Messer bedroht. Ich hatte auf einer Hochzeit von Verwandten getanzt. Er sagte, alle hätten mich angeschaut. Er war sehr eifersüchtig. Er wurde immer wieder gewalttätig. Das hörte nie auf. Irgendwann konnte ich das nicht mehr ertragen. Als er nicht aufhörte, mich zu misshandeln, rief mein Vater das Amt für Familie um Hilfe an. Sie brachten mich dann hier unter. Meine Kinder nahm ich mit. Und ich habe ihn angezeigt und die Scheidung eingereicht. Die ist jetzt durch."
Canan erwirkt eine Verfügung gegen ihren Ex-Mann, dass er sich ihr nicht auf weniger als 200 Meter nähern darf. Doch dieser bedroht sie und ihre Familie weiterhin. Eines Nachts Anfang Mai wacht sie plötzlich von einem Schrei im Nachbarzimmer auf. Da war der Gewalttäter über den Balkon in die Wohnung eingedrungen.
"Es war gegen halb sechs am Morgen. Wir schliefen alle noch. Plötzlich war da ein Schrei. Ich hörte meine Mutter und rannte in ihr Zimmer. Sie kämpfte mit jemanden. Ich verstand erst gar nicht, wer das war. Er versuchte zweimal auf meinen Bruder zu schießen, aber der Abzug klemmte. Mein Vater kam und wir drückten ihn gegen die Wand, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Es dauerte eine halbe Stunde bis die Polizei endlich kam. Er hatte 56 Schuss dabei und ein Messer. Aber der Richter gab ihm nur 35 Tage Gefängnis."
Angeblich gibt es nicht genügend Beweise. Canans Ex-Mann hat auch noch die Dreistigkeit, ihren Vater anzuzeigen, weil er ihn während des Kampfes geschlagen habe. Und er bedrohe die Familie weiter, erzählt sie. Er spreche vor anderen Verwandten immer wieder von Rache und dass er ihnen etwas antun werde. Dass Gewalttäter glimpflich davonkommen, passiert immer wieder. Manche werden vorzeitig entlassen, weil sie Reue zeigen. In manchen Fällen wird die Strafe so von einigen Jahren auf keine zwölf Monate reduziert.
Während Corona kamen 90.000 Gefängnisinsassen frei
Eine unerwartete Maßnahme der türkischen Regierung verschärfte die Situation noch: Weil die Gefängnisse überfüllt waren und drohten, zu Hotspots der Corona-Pandemie zu werden, verabschiedete sie im Mai ein Gesetz, das einigen Insassen vorzeitige oder zeitweilige Freilassung ermöglichte. Rund 90.0000 Gefängnisinsassen kamen so ganz oder zeitweise frei. Davon sollten zwar unter anderem Täter ausgenommen sein, die gegen Frauen gewalttätig geworden waren. Aber das war gar nicht umsetzbar. Die Frauenrechtlerin Melek zieht die Augenbrauen hoch. Mit einer Handbewegung verleiht sie ihren Sätzen Nachdruck.
"Unsere Gesetze unterscheiden gar nicht, ob ein Verbrechen gegen eine Frau verübt wurde. Diese Aussage war also nur ein Lippenbekenntnis."
Am Ende kamen doch Gewalttäter frei, die Frauen misshandelt oder gar getötet hatten, so wie der Mann, der die erst 17-jährige Aleyna Can auf dem Gewissen hat.
"Mama, nimm das zurück. Bayram wird mich töten"
Ihre Mutter, Fatma Yirmibeş, sitzt auf der Grabeinfassung ihrer Tochter und zupft sorgfältig die verdorrten Äste und Blätter von einem Rosenstock, der auf dem Grab wächst.
Die 50-Jährige wirkt zerbrechlich. Sie trägt einen weiß-rot-blau gemusterten langen Rock und ein geblümtes Kopftuch. Ihr Gesichtsausdruck ist unter dem schwarzen Mundschutz nicht zu erkennen. Seit dem Tod ihrer Tochter vor gut zwei Jahren kommt sie fast jeden Tag hierher.
"Ich möchte überhaupt nicht nach Hause gehen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie getötet wurde. Ich verliere noch den Verstand. Sie war mein Ein und Alles. Sie war ein sehr guter Mensch. Sie hat mir nie Ärger gemacht. Sie hatte nur Lernen im Kopf. Sie wollte Kindergärtnerin werden."
Im November 2017 traf sich Aleyna mit ihrem Ex-Freund Bayram Ekici. Sie hatte kurz zuvor mit ihm Schluss gemacht. Ihre Mutter hatte erfahren, dass er sie schlägt und eine Verfügung gegen ihn erwirkt, sodass er sich von ihr fernhalten musste.
"Aleyna sagte, 'Mama nimm das zurück. Bayram wird mich töten.' Ich sagte, 'nein, meine Tochter, ich werde das nicht zurückziehen. Es gibt doch Gesetze'."
Mit tödlichem Kopfschuss in einem gemieteten Apartment
Als Bayram mit Aleyna reden wollte, traf sie sich mit ihm. Sein Bruder und ein Freund stießen angeblich später dazu. Was genau geschah, ist unklar. Jedenfalls fand die Polizei Aleyna mit einem tödlichen Kopfschuss in einem gemieteten Apartment. Sie hatte starke Drogen im Blut und es wurde Sperma gefunden. Die drei jungen Männer wurden wegen Mordes angeklagt, aber sie schafften es, sich damit herauszureden, dass der Schuss sich versehentlich gelöst habe. Mesut Vural, der Freund, der geschossen hatte, bekam siebeneinhalb Jahre Haft. Bayram und sein Bruder kamen ohne Strafe davon. Und aufgrund des Corona-Amnestie-Gesetzes kam Vural bereits jetzt frei, nach nur einem Jahr. Aleynas Mutter Fatma verstand die Welt nicht mehr.
"Als ich hörte, dass er entlassen wird, bin ich zusammengebrochen. Ich fühlte mich, als wäre ich selbst gestorben. Schlimmer noch: Ich kann dem Gesetz nicht mehr vertrauen. Sie hatten doch gesagt, dass Mörder nicht freigelassen werden. Wie kann er dann draußen sein?"
Das Problem ist wohl, dass Mesut Vural nicht wegen Mordes saß, sondern wegen fahrlässiger Tötung und deshalb von dem Amnestie-Gesetz profitieren konnte. Immerhin wird sich nun ein weiteres Gericht mit dem Fall beschäftigen, weil neue Beweise aufgetaucht sind, dass es doch ein geplanter Mord gewesen sein könnte und kein tödlicher Unfall.
Frauen können viel erreichen, wenn sie zusammenhalten
Leicht wird es den betroffenen Frauen und ihren Angehörigen jedoch nicht wirklich gemacht. Und nun diskutiert das Parlament sogar darüber, ob die Türkei aus der "Istanbuler Konvention" austreten soll. Die Debatte darüber lief schon vor der Corona-Pandemie und dauert an. Die Regierungsparteien stoßen sich daran, dass in der Vereinbarung so viel Wert auf den Gedanken der Gleichheit der Geschlechter gelegt wird und dass Schwulen, Lesben und Transsexuellen angeblich zu viele Rechte eingeräumt würden. Eine ähnliche Debatte gibt es auch in anderen konservativ regierten osteuropäischen Ländern, wie zum Beispiel in Polen. Aus der Istanbuler Vereinbarung auszutreten, würde jedoch einen großen Rückschritt für die Sicherheit von Frauen bedeuten. Man habe ja gesehen, welch positiven Effekt allein ihre Unterzeichnung gehabt habe, sagt Melek Önder und rührt in ihrem mittlerweile kalten Kaffee.
"Es kann schon eine Abschreckung darstellen, wenn es einen solchen politischen Willen gibt oder wenn klargemacht wird, dass man dieses Gesetz anwenden wird. Wir glauben, dass es zwar Frauenmorde nicht vollständig stoppen kann, aber sie würden sicher stark zurückgehen, wenn es angewandt werden würde. Wir Frauen werden jeden Tag getötet, aber wir verlieren nie die Hoffnung, wir sind nicht nur Opfer. Frauen sind sich ihrer Rechte bewusst und dessen was sie erreichen können, wenn sie sich wehren und zusammenhalten. Wir sagen immer wieder, dass wir die Hälfte dieses Landes ausmachen."