Gewalt gegen Frauen in Indien

Von Sandra Petersmann, Korrespondentin in Neu-Delhi |
In Neu-Dehli sind die vier wegen der Vergewaltigung einer Frau schuldig gesprochenen Männer zum Tode verurteilt worden. Niemand habe das Recht, einen anderen Menschen zu töten. Auch nicht der Staat. Todesstrafe und Demokratie, das passt nicht zusammen, kommentiert Sandra Petersmann.
Um es gleich vorwegzusagen: Ich persönlich bin strikt gegen die Todesstrafe. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen zu töten. Auch nicht der Staat. Todesstrafe und Demokratie, das passt für mich einfach nicht zusammen.

Eine neue Menschenrechtsverletzung macht eine alte nicht wieder gut. Sehen wir uns den konkreten Fall noch mal an: Sechs junge Männer sind wie Bestien über eine junge Frau hergefallen und haben sie in einem fahrenden Bus, in dem sie für eine private Tour unterwegs waren, stundenlang vergewaltigt und mit einer Eisenstange gefoltert.

Die 23-jährige Physiotherapiestudentin trug schwerste innere Verletzungen davon und starb 13 Tage später. Ich habe als Journalistin eine Kopie der Anklageschrift einsehen können. Darin wird die unglaubliche Brutalität des Verbrechens im Detail beschrieben. Weite Teile der Anklageschrift basieren auf Aussagen des Opfers. Die junge Frau hatte vor ihrem Tod gegen ihre Peiniger ausgesagt und sie identifiziert. Genauso wie ihr Freund, der mit im Bus war.

Er hatte ihr nicht helfen können. Die Täter hatten ihn zusammengeschlagen. Es tut weh, den Tathergang in der Anklageschrift zu lesen. Es macht wütend, rasend wütend. Wie also müssen sich die Eltern des Opfers fühlen, wie ihre beiden Brüder? Oder ihr Freund, der alles ohnmächtig miterleben musste? Ich kann verstehen, dass sie alle die Todesstrafe für die Täter fordern. Dennoch frage ich: Was würde ihr Tod konkret ändern? Auch die Todesstrafe bringt die junge Frau nicht zurück. Lindert es den Schmerz, die Vergewaltiger hängen zu sehen?

Kein erhoffter Schlussstrich
Ich weiß es nicht. Unbestritten ist, dass die Richter in Neu-Delhi unter unerträglichem öffentlichen und politischen Druck standen, einen Schlussstrich unter das Verbrechen vom 16. Dezember zu ziehen. Doch ich glaube nicht, dass dieses Strafmaß der erhoffte Schlussstrich ist. Die Todesurteile waren seit vielen Wochen absehbar - sind deswegen in Indien weniger Frauen vergewaltigt worden? Die Zeitungen sind voll von neuen schrecklichen Gewaltverbrechen gegen Frauen. Jeden Tag. Laut Polizeistatistik wird in Indien alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt. Alle 20 Minuten!

Die indischen Medien haben das Wort "Vergewaltigungskultur" geprägt. Deshalb darf es in der bitternötigen und überfälligen Debatte um die Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft keinen Schlussstrich geben. Alles muss auf den Tisch! Keine Tabus mehr! Kein Wegducken, kein schönreden, kein leugnen! Nicht die Todesstrafe löst das Problem - sondern schonungslose Offenheit. In der Familie. In der Schule. In der Polizei. In der Justiz. In der Politik. In den Medien. In den Gotteshäusern.

Auf dem Land und in der Stadt. Warum glauben so viele Inder, egal welcher Klasse oder Kaste oder Religionsgemeinschaft sie angehören, dass Männer mehr Rechte haben als Frauen? Dass Männer besser sind als Frauen, dass Söhne wertvoller sind als Töchter? Warum hat sich die Politik verweigert, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen? Warum werden so viele Mädchen gezielt abgetrieben oder nach der Geburt getötet? Warum sind deutlich mehr Mädchen chronisch unterernährt als Jungen? Warum können deutlich weniger Mädchen lesen und schreiben als Jungen?

Das sind die Fragen, die Indien beantworten muss. Die Todesstrafe wird die Gewalt gegen Indiens Frauen nicht beenden. Neue Menschenrechtsverletzungen werden die bestehenden nicht stoppen.