Gewalt im öffentlichen Raum

"Wegsehen ist fatal"

Eine U-Bahn fährt in Berlin in den U-Bahnhof Schönleinstraße ein. In der Nacht zum 25. Dezember 2016 wurde dort ein Obdachloser auf einer Bank angezündet.
Eine U-Bahn fährt in Berlin in den U-Bahnhof Schönleinstraße ein. In der Nacht zum 25. Dezember 2016 wurde dort ein Obdachloser auf einer Bank angezündet. © picture alliance / Paul Zinken/dpa
Ulrich Krämer im Gespräch mit Nana Brink |
Ein junger Mann tritt eine Frau die U-Bahn-Treppe herunter, andere zünden einen Obdachlosen an. Es scheint, als ob unsere Gesellschaft immer brutaler wird. Der Sozialpädagoge Ulrich Krämer plädiert für deutlich mehr Zivilcourage im öffentlichen Raum.
Leben wir inzwischen in einer Wutgesellschaft? Nachrichten über sinnlose Gewalttaten erschrecken uns täglich, und auf rechten Demonstrationen und in den sozialen Medien wird verbal Hass geschürt.
Der Sozial- und Theaterpädagoge, Mediator und Experte für effektives Gewaltmanagement und Deeskalation, Ulrich Krämer, konstatiert eine Verunsicherung der Gesellschaft - zu wenig "Leitung und Struktur" in einem sich verändernden Land führten zu einer größeren Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten, sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Krämer sieht aber nicht nur die Politik in der Pflicht, sondern im Grunde genommen alle. So wäre es besser, wenn Strafverfolgungsbehörden bei Gewalttaten zeitnah reagierten und das Strafgesetzbuch auch ausschöpften. "Die Gesetze gibt es, die man durchsetzen kann", betonte er. Hier sei noch Luft nach oben.

Eltern delegieren die Erziehung ihrer Kinder

Zudem werde die Erziehung der Kinder derzeit von vielen Eltern delegiert, kritisierte er: an die Schulen, die Nachmittagsbetreuung, den Freizeitbereich. Die Öffentlichkeit forderte der Gewaltexperte auf, öfter Position zu beziehen. Früher habe beispielsweise jeder auf der Straße auf ein rauchendes Kind reagiert:
"Der erste hat die Zigarette weggenommen, der zweite hat ihm vielleicht eine Ohrfeige verpasst und dann am Ohr zum Pfarrer, zum Bürgermeister, zum Polizist gezogen. Da gab es eine sehr hohe Bereitschaft zur Zivilcourage des Einzelnen."
Heute gebe es hingegen eher die Angst, sich einzumischen. Damit werde der öffentliche Bereich "den Menschen überlassen, die ihn vielleicht besser nicht besitzen sollten".
Wer einen Übergriff beobachte, müsse reagieren, forderte Krämer. Nicht kämpfen – aber Hilfe holen, andere Leute ansprechen:
"Weggehen und wegschauen, das ist fatal." (ahe)

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Nicht nur in Talkshows, aber vor allem dort wird ja immer öfter von der Wutgesellschaft gesprochen. Anlass sind Extremtaten, die uns schockieren, zum Beispiel die Jugendlichen, die gerade in Berlin versucht haben, einen Obdachlosen anzuzünden, oder die maßlosen Hetzen der Pegida-Anhänger. Können wir uns darauf wirklich einen Reim machen? Wir fragen nach bei Ulrich Krämer, Sozialpädagoge, Mediator und Experte für effektives Gewaltmanagement und Deeskalation. Ich grüße Sie, Herr Krämer!
Ulrich Krämer: Guten Morgen!
Brink: Diese Zunahme aggressiven Verhaltens im Alltag, ist das gefühlt oder kann man das wirklich auch belegen?
Krämer: Na ja, zumindest ist ja wahrzunehmen, dass die Medien sehr stark berichten und sich auch gezielt natürlich sehr auslassen an diesen Verhaltensweisen wie jetzt eben auch zum Beispiel mit dem Obdachlosen, der angezündet werden sollte, natürlich auch draufstürzten. Insofern ist eine hohe Präsenz in den Medien und das erzeugt zunächst mal ein Gefühl. Fakt ist, dass natürlich diese Gesellschaft aktuell verunsichert ist. Es gibt wenig Leitung, wenig Struktur, die wirklich genau sagt, wo es langgeht und wie letztendlich das Land mit der veränderten Situation zurechtkommen soll, und das schafft Unsicherheit. Und wo Unsicherheit da ist, dann ist auch die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten, noch mal deutlich größer.
Brink: Kann man das belegen, wer denn diese Grenzen überschreitet? Weil das, was bei uns im Fokus sind, sind ja vor allen Dingen junge Männer.
Krämer: Ja, das sind auch vorwiegend Männer, weil das Hauptthema der körperlichen Gewalt … Also, auch bei Männern ist es, sie möchten sich verteidigen, sie möchten sich schützen, sie möchten Feinde besiegen, wie es schon in alter Tradition, schon seit den Steinzeitmenschen das Thema von Männern ist. Es ist mittlerweile allerdings ein bisschen unklar geworden: Wer genau ist der Feind? Und auf der einen Seite werden natürlich Zuwanderer als Feinde bezeichnet in den Medien, weil sie eben angeblich ganz viel Geld bekommen und angeblich alles bekommen, was die Deutschen nicht bekommen. Insofern ist natürlich ein bisschen auch im rechten Bereich eine Motivation, Feinde zu finden. Auf der anderen Seite durch fehlende Lenkung, durch fehlende Strukturen ist auch der eine oder andere vielleicht noch mal eher bereit, die Grenzen da zu überschreiten, andere Menschen zu schädigen, wie zum Beispiel jetzt vor Kurzem, als dieser Mensch die, ich glaube, es war eine Frau, die Treppe runtergetreten wurde, was auch durch die sozialen Medien total durchging.
Brink: Kann es aber dann sein, dass unsere Gesellschaft das nicht ahndet? Dass diese Täter das Gefühl haben, sie können das tun, ohne dass es Konsequenzen hat?
Krämer: Na ja, im Falle des Obdachlosen, die sind ja jetzt … die haben sich ja jetzt gestellt und das wird auch juristische Konsequenzen geben. Aber diese Ahndungserfolge sind vielleicht nicht so populär, werden vielleicht nicht so verbreitet oder schrecken offensichtlich nicht so ab. Ich meine, die Gesetze gibt es, die man durchsetzen kann. Manchmal wäre es vielleicht sicher, etwas zeitnaher zu reagieren, etwas deutlicher zu reagieren, also letztendlich auch das auszuschöpfen, was das Strafgesetzbuch auch hergibt.
Brink: Und das wird nicht getan?
Krämer: Da ist noch Luft nach oben, würde ich mal so sagen.
Brink: Nun wollen wir auch darüber sprechen natürlich: Kann man so etwas verhindern oder wie kann man das verhindern? Was sind da Ihre Erfahrungen?
Krämer: Also, ich arbeite … Oder wir, wir als Team arbeiten viel mit Jugendlichen, mit jungen Männern. Und es ist natürlich … Wir beobachten ein gesellschaftliches Phänomen, wo unter anderem auch Erziehung sehr delegiert wird von den Eltern. Das heißt, die Eltern delegieren Erziehung an die Schule und an die Nachmittagsbetreuung und den Freizeitbereich, sie möchten die Rolle ungerne selber übernehmen. Hier ist sicher der Einzelne noch mal gefragt, als Vater, als Mutter zu gucken, wie erziehe ich mein Kind und übernehme ich meine Rolle überhaupt? So, das ist die eine Geschichte. Auf der anderen Seite möchte ich natürlich auch die Öffentlichkeit dazu motivieren, Position zu beziehen. Ich erinnere mich, wenn ich mit meiner Mutter gesprochen habe, wie war das denn früher eigentlich? Dann sagt sie: Wenn ein Kind mit zwölf Jahren oder mit 16 Jahren geraucht hat, da hat jeder auf der Straße reagiert. Der Erste hat die Zigarette weggenommen, der Zweite hat vielleicht eine Ohrfeige verpasst und dann am Ohr zum Pfarrer, zum Bürgermeister oder zum Polizisten gezogen, so. Da gab es eine sehr hohe Bereitschaft, auch die Zivilcourage des Einzelnen. Da erlebe ich jetzt öffentlich eine größere Angst. Ich mische mich lieber nicht ein, wer weiß, ob sich das gegen mich richtet, ob ich selber zum Opfer werde. Und das ist natürlich eine fatale Situation, weil wir jetzt den öffentlichen Bereich ziemlich den Menschen überlassen, die ihn vielleicht besser nicht besitzen sollten.
Brink: Das heißt, es muss eigentlich eine Kombination von Reaktionen geben, sowohl in der Erziehung wie auch in der öffentlichen Meinung?
Krämer: Genau, ganz genau. Ja, vor allem auch im öffentlichen Auftreten. Das heißt, wenn ich was beobachte, wenn ich einen Übergriff beobachte, dann muss ich reagieren. Das heißt nicht, dass ich mich dem Täter oder den Tätern gegenüberstellen soll und kämpfen soll, das ist völlig daneben. Aber ich kann reagieren, ich kann mein Handy zücken, ich kann die Polizei rufen, ich kann um Unterstützung bitten, ich kann andere Menschen ansprechen, die letztendlich die Situation mit beeinflussen können. Aber weggehen oder wegschauen und gar nichts tun, das ist einfach fatal. Und genau das überlässt dann den öffentlichen Raum den Menschen, die ihn besser nicht bekämen.
Brink: Vielen Dank! Der Sozialpädagoge Ulrich Krämer, danke für Ihre Einschätzungen!
Krämer: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Treppen im U-Bahnhof Hermannstraße in Berlin-Neukölln: Hier wurde eine Frau brutal von hinten die Treppe hinunter gestoßen.
Treppen im U-Bahnhof Hermannstraße in Berlin-Neukölln: Hier wurde eine Frau brutal von hinten die Treppe hinunter gestoßen.© picture alliance / Jörg Carstensen/dpa
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