Jedem seine Waffe
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Der Zugang zu Waffen ist in Brasilien einfach - dafür sorgt seit einem Jahr die Regierung Bolsonaro. Wie sein Vorbild aus den USA vertritt der "Trump der Tropen" die These: Viele Waffen sorgen für viel Abschreckung und damit für viel Sicherheit.
Ich sitze auf einem Motorrad – hinten – und kann das Aufnahmegerät kaum halten. Wir holpern über etliche Straßen am Stadtrand von Rio de Janeiro. Hier in der Favela Maré leben rund 130.000 Menschen. Wer schnell vorankommen will, braucht ein Motorrad. Busse und U-Bahnen wie im Stadtzentrum gibt es in der Favela nicht.
Wir halten am Haus einer Frau an - mit glatten, blond gefärbten Haaren. Irone Santiago ist bei ihren Nachbarn bekannt. Nicht nur als gute Nachbarin, sondern vor allem als Mutter, die fast ihren Sohn verlor.
"Ich habe geschlafen, als das Telefon klingelte. Sie schickten mich ins Krankenhaus. Da wusste ich noch gar nicht, was passiert ist. Als ich dort ankam, waren dort sehr viele Soldaten. Ich sagte: Ich will meinen Sohn sehen. Man sagte mir nur, dass er angeschossen wurde. Wir leben in einer Stadt, in Rio de Janeiro, die sehr gewalttätig ist. Deshalb dachte ich, als ich hörte, dass er angeschossen wurde, dass es nicht so schlimm ist. Ich wusste damals noch nicht, dass ich vier Monate lang für das Überleben meines Sohnes kämpfen musste. Ich stand einfach unter Schock."
Ihr Sohn Vitor Santiago saß gerade im Auto, als er von Militärs angeschossen wurde. Er hat überlebt, sitzt aber mittlerweile im Rollstuhl und ist arbeitsunfähig, sein linkes Bein musste amputiert werden. Seine Geschichte erregte auch öffentliches Interesse:
"Ein Reporter hat meinen Sohn interviewt und alles falsch dargestellt, es wäre ein Fall von Selbstverteidigung. Sie haben viele verschiedene Versionen wiedergegeben. Und es bleibt dann an den Müttern hängen das Gegenteil zu beweisen. Wir sind die Gruppe, die am meisten für Gerechtigkeit kämpft und diese Medien sind diejenigen, die unsere Söhne wie die schlimmsten Menschen überhaupt darstellen und das ist nicht wahr. Das ist kein Einzelfall. In Maré haben sie, die Reporter sich unmöglich verhalten."
Polizeigewalt auf Rekordniveau
Polizeigewalt, vor allem von Seiten der Militärpolizei, ist in den brasilianischen Favelas seit Jahren an der Tagesordnung. Zuletzt hat sie aber Rekordhöhen erreicht. Ein Blick auf die Statistik der ersten vier Monate dieses Jahres zeigt: Die Militärpolizei hat in Rio 434 Menschen erschossen, so viele wie nie - im Vorjahreszeitraum waren es 368. Dieser Anstieg hat auch mit der Politik und vor allem der Rhetorik eines Mannes zu tun hat.
Jair Bolsonaro rief bei einer Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat Acre im vergangenen Jahr dazu auf, Anhänger der PT, der Brasilianischen Arbeiterpartei zu erschießen. Damals war er Präsidentschaftskandidat, heute regiert er das 200-Millionen-Volk. In der Hand hält er damals ein schwarzes, langes Kamerastativ diagonal in die Höhe. Das soll eine Waffe darstellen. Er hält sie in die Luft und tut so, als würde er schießen. Dafür wird er von der jubelnden Menge gefeiert.
Kein Wunder, dass das Markenzeichen seines Wahlkampfes eine Waffe wird: Genauer gesagt eine Pistole, die er mit der Hand formt. So will er den Diskurs auf die öffentliche Sicherheit lenken, was ihm viele Sympathien, entscheidende Wählerstimmen und letztlich das Präsidentenamt einbringt.
Bolsonaros Versprechen: Jedem gesetzestreuen Bürger soll es erleichtert werden, Waffen zu besitzen. "Man muss einfach 20 Jahre alt sein und ein paar Voraussetzungen erfüllen: ein psychologisches Attest, einen Waffenschein und einen Wohnsitz. Das Waffengesetz hat den anständigen Staatsbürger entwaffnet und dem Verbrecher seine Waffe gelassen."
Waffendekrete des Präsidenten
Bolsonaro löst gleich zu Beginn seiner Amtszeit das Versprechen ein und verabschiedete ein Dekret. Demnach sind alle Brasilianer, die älter als 25 Jahre sind, berechtigt bis zu vier Schusswaffen zu erwerben und zu Hause oder am Arbeitsplatz aufzubewahren. Sie müssen ein psychologisches Attest vorlegen und eine Erklärung, die rechtfertigt, dass sie die Waffen brauchen und die Zahl der Morde in ihrem Wohnort hoch ist.
Im Mai folgte das zweite Dekret des Präsidenten. Es erlaubt Politikern, Landwirten, Lastwagenfahrern, Jägern und Sportschützen automatische Gewehre in der Öffentlichkeit mit sich zu führen. Auch den Import und Vertrieb von Waffen in Brasilien hat Bolsonaro erleichtert. Die zulässigen Verkaufsmengen von Munition hat er erhöht.
Kritik kam von Gouverneuren der Bundestaaten, die die höchsten Mordraten aufweisen: Rio Grande do Norte, Ceara und Pernambuco. In einem offenen Brief sprechen sie sich gegen das Dekret aus. Die Maßnahmen würden "nicht dazu beitragen, die Situation sicherer zu machen". Die größere Menge von Waffen und Munition erhöhe vielmehr "das Risiko für unsere Bürger, am Ende tragisch zu sterben".
Eine App mit Daten zu Waffengewalt
"Eines der Probleme in Rio de Janeiro ist", sagt Maria Isabel Couto, "dass die Gewalt, die von den Schusswaffen ausgeht, so banalisiert wird und normal ist, dass es noch nicht mal Einzug in die Kriminalstatistik erhält. Ich sage dir mal was: Die Situation hier in Rio ist so schlimm, dass du nicht einen einzigen Bezirk hier finden wirst, wo es keine Schusswechsel gibt."
Nicht mal hier in Copacabana? "Copacabana ist der Stadtteil mit den meisten Schusswechseln." Maria Isabel Couto sitzt am Schreibtisch ihres Arbeitszimmers im wohlhabenden Bezirk Copacabana, unweit vom dem Postkartenbild des gleichnamigen Strandes. Sie prüft Daten zu Waffengewalt in Rio de Janeiro für eine digitale Plattform. Die App dazu heißt "Fogo Cruzado", auf Deutsch "Kreuzfeuer". Nutzer können sich hier die Waffengewalt in ihrer Gegend anzeigen lassen.
"Hier, kannst du die Filter einstellen", erklärt sie, "auswählen, welche Stadt du angezeigt haben möchtest. Schusswechsel, an denen die Polizei beteiligt ist oder auch welche Quelle: Wir sammeln die Zahlen aus der Presse, von den Nutzern und die offiziellen Polizeistatistiken."
Angezeigt werden die Daten in Echtzeit: Auf der Karte in der App markiert ein orangenes Standort-Symbol, wo der Schusswechsel genau stattfand, wie viele Menschen dabei gestorben sind und ob die Polizei daran beteiligt war oder gerufen wurde. Für viele Bewohner sind diese Daten entscheidend: Gehe ich aus dem Haus? Ist meine Straße sicher?
Datenbasierte Grundlage für Entscheidungen
Maria Isabel Couto möchte mit ihren Daten aber nicht die ohnehin schon mit dem Stereotyp "Gewalt" besetzten Stadtteile noch weiter stigmatisieren, sondern eine datenbasierte Grundlage schaffen, die Politiker dazu bringt, effektive, politische Maßnahmen in Angriff zu nehmen, um den öffentlichen Raum sicherer zu machen.
"Wenn du an einem bestimmten Ort wohnst und dein Kind aus der Krippe abholen willst, kann ich dir nicht sagen: Vermeide diese Gegend", sagt Maria Isabel Couto. "Aber ich kann dir die Information geben, damit du die bestmögliche Entscheidung treffen kannst, um zumindest zu versuchen, dass deine öffentliche Sicherheit gegeben ist. Eigentlich ist der Staat dafür verantwortlich, aber er kommt seiner Aufgabe nicht nach."
Die App "Fogo Cruzado" sammelt viele Daten, aber bei Weitem nicht alles.
"Wir haben eine Dunkelziffer. Wir wissen, dass es einen Bereich gibt, den uns die Nutzer nicht melden", erklärt Maria Isabel Couto.
Welcher Bereich genau? "Ist die Reportage für Brasilien oder Deutschland?", fragt sie. Für Deutschland.
Welcher Bereich genau? "Ist die Reportage für Brasilien oder Deutschland?", fragt sie. Für Deutschland.
"Ok. Die Milizen. Das ist schwierig zu kartieren", erklärt sie. "Gegenden, die komplett von den Milizen kontrolliert werden, da haben die Menschen Angst, Schießereien zu melden. Wir wissen das, weil sich die Nutzer aus diesen Stadteilen anders verhalten, sie nutzen nicht die App, sondern melden die Informationen über andere Wege. Manche twittern und verwenden den Hashtag #Fogocruzado. Andere schicken uns lieber eine SMS."
Die rechten paramilitärischen Milizen treten seit der Wahl Bolsonaros 2018 häufiger in Erscheinung. Immer wieder zeigen Journalisten Verbindungen zwischen ihnen, Bolsonaro, seinen Familienmitgliedern und Anhängern auf. Die Milizen werden auch verantwortlich gemacht für den Mord an Rios Stadträtin Marielle Franco im vergangenen Jahr. Die Politikerin hatte sich vehement gegen Militärs im Inland und Polizeigewalt ausgesprochen.
Studien zu Polizeieinsätzen in den Favelas
"Wir sehen heute, dass die Gewalt wieder steigt", sagt Pablo Nunes. "Die ersten vier Monate ist die Zahl der Toten durch die Polizei die höchste in der gesamten Geschichte Rio de Janeiros. Das heißt: Seit 20 Jahren, seitdem wir Daten dazu haben, hat die Polizei die meisten Menschen getötet. Das ist ein sehr schlechtes Signal."
Der Wissenschaftler Pablo Nunes vom Cesec arbeitet beim Zentrum für Sicherheits- und Bürgerrechtsstudien – einem wissenschaftlichen Institut in Rio de Janeiro. Er verfasst Studien zu Polizeigewalt, vor allem zu den Einsätzen, die in den Favelas täglich stattfinden. Gerade dort kommt es häufig vor, dass Menschen sterben, die nichts mit Verbrechen zu tun haben. Laut offiziellen Statistiken erschießen Polizisten aber vor allem Kriminelle, weil sie in Notwehr handeln.
"Bei den Daten über Polizeigewalt kommt es natürlich auch darauf an, wer sie analysiert", sagt Pablo Nunes. "Wenn die Polizei das tut, dann heißt es oft: Selbstverteidigung. Aber das ist Polizeigewalt, wenn die Polizei eine Person während eines Einsatzes umbringt, angeblich aus Notwehr. Wir haben sehr viele Probleme, die damit zusammenhängen, weil die einzige Aussage, dass der Polizist in Notwehr gehandelt hat, vom Polizisten selbst kommt. Und selbst wenn es eine Autopsie gibt, die deutliche Beweise enthält und zeigt, dass die Person auf den Boden gedrückt wurde, selbst mit diversen Beweisen haben wir es mit vielen Fällen zu tun, in denen Polizisten komplett straffrei bleiben. Auch verurteilte Polizisten, denen der Prozess gemacht wird, wurden von der Jury freigesprochen, weil sie dachten, der Polizist tat, was er tun musste: Einen Kriminellen umbringen."
Zusätzliche Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft
Auf dieser Linie ist nicht nur Brasiliens neuer Präsident Bolsonaro. Auch der Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, machte sich mit folgendem Satz landesweit bekannt: "Der Polizist schaut sich das Köpfchen an und: Feuer!"
"Es hat eine sehr starke Wirkung", sagt Nunes, "wenn eine Regierung sagt: 'Geh' los, töte, schieße in den Kopf! Der Verbrecher wird sterben!' Das ist sehr stark. Man muss also kein Gesetz unterzeichnen, das erlaubt, jemanden in den Kopf zu schießen. Seine Worte haben diese Wirkung schon."
Für Wissenschaftler Pablo Nunes polarisiert die Rhetorik von Rios Gouverneur Wilson Witzel die brasilianische Gesellschaft, die ohnehin schon verhärtete Fronten aufweise. Die eine Seite findet Gefallen an Waffen und martialischen Auftreten, so wie es der Gouverneur offen zur Schau stellt.
Wilson Witzel steigt mit der bewaffneten Zivilpolizei in den Helikopter, fliegt über eine Favela in Angra dos Reis, im Bundesstaat Rio de Janeiro und die Polizisten schießen aus der Luft nach unten. Das Video veröffentlichte der Politiker auf seinem eigenen Twitterkanal.
"Ich weiß nicht, wie es in deinem Land ist", sagt Irone Santiago. "Klar, wir wissen, es gab in Deutschland Hitler und die Nazis, aber gibt es bei euch auch Helikopter, die über deinem Kopf kreisen und aus denen geschossen wird? Du hast heute Glück. Am Montag, um 11 Uhr, aus dem Nichts, kam ein Helikopter angeflogen und begann zu feuern. Acht Menschen wurden umgebracht. Acht menschliche Wesen. 'Aber das waren ja Verbrecher', sagen sie. Ach, wirklich?"
Kampf gegen juristische und bürokratische Hürden
Irone Santiago kennt die Helikopter-Einsätze in den Favelas aus ihrem Alltag. Seit ihr eigener Sohn Opfer von Polizeigewalt wurde, engagiert sie sich in ihrem Viertel, macht darauf aufmerksam. Sie redet sich in Rage, auch wenn sie müde ist, ihre Geschichte und die ihres Sohnes zu erzählen. Jahrelang kämpfte sie gegen alle juristischen und bürokratischen Hürden, damit ihr Sohn Vitor Santiago als Opfer von Polizeigewalt anerkannt wird.
"Ich wurde gedemütigt, ich wurde von den Behörden als verrückt bezeichnet. Ich wurde missachtet und unhöflich behandelt. Geholfen hat mir ein Anwalt aus Bahia. Ich habe Anzeige erstattet. Nach einem Monat sagte man mir, dass der Fall bei der Bundespolizei liegt und dass ich mich später noch mal melden solle. Ein Jahr lang passierte nichts."
Mittlerweile werden die Behandlungskosten erstattet und da Vitor Santiago mit 29 Jahren im Rollstuhl sitzt und arbeitsunfähig ist, bekommt er eine monatliche Frührente von rund 260 Euro. Seine Mutter, Irone Santiago, macht weiter.
Sie kritisiert die Regierung und ihre polizeilichen Maßnahmen in den Favelas. "Ich kann das nicht akzeptieren, wenn du schweigst, dann legitimierst du die Taten des Staates und ich kann das nicht gutheißen. Ich habe einen schwarzen Sohn, mein Mann ist Schwarz, meine Familie ist schwarz. Und diejenigen, die am meisten darunter leiden, sind wir, die arm sind, schwarz sind und aus der Favela kommen."
Diese Recherche entstand mit der Unterstützung von der Agência Pública.