Wo Waffen so selbstverständlich sind wie Handys
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40.000 Tote – noch nie starben so viele US-Bürger durch Schusswaffen wie 2017. Besonders viel Gewalt durch Waffen gibt es im Süden Chicagos. Das wollen einige Bürger nicht mehr hinnehmen und ihre Viertel zurückgewinnen.
Chicagos "South Side" wirkt wie ausgestorben. Kaum jemand geht zu Fuß auf die Straße – in den Vierteln, die von täglicher Gewalt geprägt sind.
Die drittgrößte Stadt der USA kämpft seit Jahrzehnten mit ihrer hohen Mordrate. Jede Woche sterben Menschen bei Schießereien, im vergangenen Jahr waren es laut der Zeitung "Chicago Sun Times" insgesamt 559 Morde.
Eine Vielzahl wird verletzt oder Zeuge der Gewalt. Wie Señor Luiz. Er lag nachts im Bett im ersten Stock seines Hauses, als ihn Schüsse weckten.
"Es war so gegen zehn Uhr abends, ich habe geschlafen und dann habe ich Schüsse gehört", sagt er. "Ich bin aufgewacht und meine Frau hat geschaut, sie sagt, ich solle mich ducken, sonst werde ich noch getroffen. Da waren die Jungs, die weggerannt sind. Es hat so laut an der Tür geknallt, dass ich dachte, das seien Gang-Mitglieder. Als sie weg waren, habe ich die Tür geöffnet. Da habe ich gesehen, dass es der Sohn eines Freundes ist. Er ist gefallen, hatte keine Kraft mehr. Sechs Kugeln, das ist viel. Er hat immer gesagt, ich möchte nicht sterben. Ich bin doch erst 21 Jahre alt."
Senior Luiz hat die Polizei gerufen - und die ist tatsächlich gekommen. Der junge Mann wurde ins Krankenhaus gebracht und überlebte. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Oft reagiert die Chicagoer Polizei erst Stunden später auf Notrufe aus einem Problemviertel - für Opfer von Schießereien viel zu spät.
"Wenn du diese Straße überschreitest, forderst du Ärger"
"Wenn du mich fragst, ob ich der Polizei vertraue? Nein. Sie machen ja auch nichts. Ich habe einmal meine Tochter gebeten, sie zu rufen. Da haben wir zwei Stunden gewartet."
Señor Luiz spricht in einem Mix aus Englisch und Spanisch. Seine Familie stammt aus Mexiko, wie bei vielen in seinem Viertel. Gerade sitzt er in der Küche der Familie Aguayo. Deren Sohn Berto war selbst jahrelang Mitglied der Latino-Gang, die bis heute das Viertel regiert. Ihr Territorium kann der 24-Jährige aus dem Kopf Straße für Straße auf einem Zettel kartieren. Mit farbigen Stiften markiert er die jeweiligen Zonen und die Hauptquartiere der Gangs seines Viertels auf zwei Seiten Papier.
"Das ist eines der Dinge, die Chicago interessant machen, wenn wir über Gangs oder Territorium reden: Verbündete und Grenzen sind klar gezeichnet. Das ist in anderen Städten nicht der Fall. Hier sind unsere Gebiete klar definiert. Wenn du diese Linie, diese Straße hier als Gang-Mitglied überschreitest - forderst du Ärger heraus."
Mit dem Auto fährt Berto Aguayo durch sein Viertel. Er trägt eine schlichte schwarze Brille, einen dunklen Mantel – niemand würde ihn für einen ehemaligen Gangster halten. Er erklärt, wo allein das Wechseln der Straßenseite zu Konflikten mit einer anderen Gang führt.
"Ich bin hier aufgewachsen, und ich wusste, dass die andere Seite - wo die andere Gang herrscht - dass man nicht einfach drei Blöcke nach Norden geht, das macht man nicht. Weil die Menschen dort anders sind, weil es dort Leute gibt, die Bewohner von unserer Seite nicht mögen. Es gibt viele Arten der Feindseligkeit, nur weil du von der anderen Seite der Nachbarschaft kommst."
40.000 Tote durch Schusswaffen in den USA 2017
Gangs ordnen sich in viele Untergruppen, markiert durch Zeichen, Musik, Graffiti, Territorium, eine bestimmte Farbe, ein Tattoo - sofort erkennbar für alle. Das ist seit Jahrzehnten so. Doch etwas verschärft heute die Situation: der leichte Zugang zu Waffen.
Das liegt nicht nur an Chicago – hier gelten striktere Gesetze - zum Beispiel ist das Tragen von Waffen an vielen öffentlichen Orten verboten und im ganzen Staat Illinois müssen sich Waffenkäufer registrieren. Aber all das gilt nicht in Nachbarstaaten wie Indiana. Wer Waffen braucht, kann sie dort, nur ein paar Kilometer weiter, ganz einfach kaufen und nach Chicago bringen. So kommen immer mehr Waffen in die Stadt und aus der verbalen Gewalt im Internet wird Realität, erzählt auch Ex-Gang-Mitglied Berto Aguayo:
"Waffen sind ein Problem, und heute wird es durch die sozialen Medien noch verschlimmert. Ich denke aber, es geht darum, vorher einzugreifen, mit Angeboten, um die Leute abzulenken."
Doch Waffen sind ein Thema, über das viele nicht gern reden – obwohl Amerika ein riesiges Problem mit Waffengewalt hat.
Im Jahr 2017 sind in den USA rund 40.000 Menschen durch Schusswaffen gestorben. Das geht aus den Zahlen des "Centers for Disease Control and Prevention" hervor – einer US-Behörde des US-Gesundheitsministeriums, die seit 50 Jahren Statistiken führt. Demnach war 2017 das bisher schlimmste Jahr mit so vielen Toten durch Schusswaffen wie nie zuvor in den USA. Die meisten Fälle sind Suizide, gefolgt von Morden und Massenschießereien. Aktuellen Zählungen nach gibt es in den USA mit 393 Millionen mehr Waffen in privater Hand als Einwohner.
Poetry Slams zur Prävention von Waffengewalt
Für Colleen Daley sind diese Zahlen mehr als nur Daten. Die selbstbewusste Amerikanerin mit der tiefen Stimme arbeitet seit acht Jahren in Chicago für den "Illinois Council Against Handgun Violence" - eine Nichtregierungsorganisation, die sich gegen die Waffenlobby einsetzt und sichtbar machen will, welche Gefahren von Schusswaffen ausgehen:
"Es ist egal, ob du schwarz oder weiß bist, reich oder arm, in einem Ghetto oder einer Villa lebst. Waffengewalt kann jederzeit und überall passieren. Menschen sollten nicht permanent mit Angst leben, aber sie sollten ihr Leben mit geöffneten Augen begehen."
Dafür versucht Colleen Daley schon Teenager zu sensibilisieren, in Workshops, die sie für Schulen organisiert: "Wir arbeiten mit Jugendlichen, wir veranstalten Poetry Slams, Open-Word-Contests. Es sind Angebote für Erst- bis Zwölftklässler aus dem ganzen Bundesstaat, um Jugendlichen, die von Waffengewalt betroffen sind, eine Stimme zu diesem aktuellen Problem zu geben."
Genauso wichtig ist die Arbeit der NGO im politischen Bereich. Dass Käufer von Waffen sogenannte Hintergrund-Checks machen müssen, reicht für Colleen Daley nicht aus. Bei diesen Checks werden potenzielle Käufer auf Vorstrafen oder psychologische Probleme untersucht. Ein erster Schritt, der für Daley aber etwas anderes außen vor lässt:
"Der Kongress könnte zwar Hintergrund-Checks durchwinken. Aber löst dies das Problem? Wird es die Anzahl der Waffen reduzieren, die jetzt auf den Markt kommen? Das Beängstigende ist doch die Anzahl der Waffen, die jetzt schon da draußen sind."
Sichert zweiter Verfassungszusatz Recht auf Waffenbesitz?
Nicht nur, dass so viele Waffen im Umlauf sind, erschwert ein Verbot in der Praxis. Befürworter des grenzenlosen Waffenbesitzes pochen stets auf den zweiten Verfassungszusatz, der sichere jedem US-Bürger das Recht auf individuellem Waffenbesitz zu. Aber diese Deutung ist juristisch hoch umstritten. In dem fast 230 Jahre alten Verfassungszusatz ist die Rede von Milizen, die mit Waffen die Freiheit des Staates sichern und von einem militärischen Zusammenhang.
Das nutzen die Vertreter der Waffenlobby – allen voran die US-amerikanische Waffenvereinigung NRA, die National Rifle Association, um in vielen Bundesstaaten Gesetze zu beeinflussen, erklärt Colleen Daley. "In Florida haben sie ein Gesetz geschaffen, bei dem es Ärzten verboten wurde, nach Waffen im Haus der Patienten zu fragen. Das wurde zum Glück als verfassungswidrig erklärt, aber so etwas versuchen sie immer wieder. Es ist eine Waffenkultur."
Tatsächlich sind Waffen stark im Alltag vieler Amerikaner verankert. Selbst in Vorstand von Daleys Organisation, die die Waffengewalt bekämpfen will, sitzen Kollegen, die Waffen tragen.
"Ich habe ein lebenslanges Mitglied der NRA in meinem Vorstand. Er liebt seine Waffen. Er besitzt eine AR-15 und ich weiß nicht, wie viele Waffen sonst noch. Und er hat Kinder. Aber er setzt sich stark für Waffensicherheit ein."
Dennoch treibt Colleen Daley die Frage um, wie man die Waffenkultur verteidigen und die tödlichen Konsequenzen rechtfertigen kann. Daley spricht schnell, sie macht ihren Job schon lange und dennoch trifft sie das Thema emotional:
"Es gibt diesen exklusiven Club, bei dem doch niemand Mitglied sein möchte. Kein Elternteil sollte sein Kind beerdigen müssen. Es ist verheerend, diese ganzen Familien und Geschichten zu sehen. Die heilen nie, sie lernen nur weiterzuleben. Das kann man nicht vergessen, es geht einem nicht besser, du lernst nur jeden Tag wieder aufzustehen. Eine Frau in meinem Vorstand hat zwei Kinder im Abstand von 20 Jahren verloren. Sie war schwanger mit dem Sohn, als sie ihre Tochter verlor. Und 20 Jahre später wurde ihr der Sohn genommen."
Natürlich sind die Männer beim Fernsehen bewaffnet
Auch das Viertel, aus dem die Sozialarbeiterin Luz Cortez kommt, ist seit Jahren von Ganggewalt betroffen – sich hier eine Waffe zu besorgen, ist kein Problem, sagt die 26-Jährige.
Ihre Familie wohnt noch immer in Chicago Lawn. Sie ist heute zu Besuch - genauso wie Onkel, Tanten und Cousins. Während die Frauen in der Küche Loteria, ein mexikanisches Bingo spielen, sitzen viele der Männer im Wohnzimmer beim Fernsehen. Natürlich seien sie bewaffnet, sagt Luz Cortez.
"Ist es normal, von Waffen umgeben zu sein? Leider ist es sehr normal. In meiner Familie ist es so: wenn die Männer irgendwo unterwegs sind, nur weil sie Männer sind und einen bestimmten Kleidungsstil haben, werden sie als jemand betrachtet, der nichts Gutes im Sinn hat. Wenn sie auf andere Gangmitglieder treffen, werden die sie ansprechen, woher sie kommen, was sie hier wollen. Wenn sie dann keine Waffe haben und das Gegenüber schon, ist die Chance groß, dass sie nicht überleben. So sind wir aufgewachsen, die Jüngeren sind mit dem Gefühl aufgewachsen, sie brauchen eine Waffe um zu überleben."
Waffen gehören in Chicagos Süden zum Alltag, wie ein Handy. Und sie sind fast so leicht zu organisieren.
"Es ist sehr einfach an Waffen zu kommen. Man muss einfach einen Anruf machen. Und die entsprechenden Leute besorgen dir eine. Es ist wahnsinnig leicht, eine Waffe zu bekommen, auch für jemanden, der offiziell noch gar keine tragen darf."
CampOuts: Mit Musik und Essen die Blocks zurück erobern
Cortez' Familie ist ein klassisches Beispiel. Oft bilden soziale Missstände den Nährboden für den nicht endenden Kreislauf der Gewalt. Gangmitglieder werden in vernachlässigten Vierteln zum Vorbild - und zur Ersatzfamilie.
"Was wir sehen, ist, dass oft eine Vaterfigur fehlt. Wie bei meinem Bruder, der sehr jung in die Gang eingestiegen ist. Mit sieben oder acht Jahren, da war mein Vater entweder im Gefängnis oder hat sich um seine eigenen Probleme gekümmert. Die Jungs von der Gang haben sich um ihn gekümmert. Mein Bruder hat ein männliches Vorbild gesucht. So ging es auch meinen Cousins - als deren Vater abwesend war, haben sie sich den Gangs angeschlossen."
Luz Cortez ist selbstbewusst, bleibt ruhig, hat gelernt, laut und deutlich zu kommunizieren, wenn es Streit gibt. Sie engagiert sich in lokalen Initiativen, will Jugendliche aus dem Sog von Armut, Angst und Gewalt herausbringen, so wie sie es selbst geschafft hat. Studieren statt mit Drogen und Waffen schnelles Geld zu verdienen. Dass das nicht leicht ist, zeigen ihre Workshops.
"Du kannst niemanden im Süden Chicagos fragen, der nicht einen kennt, der erschossen wurde. Ich arbeite mit vielen verschiedenen Jugendlichen. Ich versuche ihre unterschiedlichen Interessen zu finden. Am Anfang einer Sitzung fragen wir: Wie viele von euch kennen jemanden, der angeschossen wurde oder sein Leben durch Waffengewalt verloren hat? Egal, welchen Hintergrund sie haben - ganz sicher heben alle ihre Hand."
"Increase the peace", den "Frieden vergrößern" heißt eines ihrer Projekte. Es geht um Verantwortung, lokale Vorbilder. Die 26-jährige Luz Cortez will mit Veranstaltungen die Nachbarschaft zusammenbringen. Bewohner sollen sich ihre Viertel zurückerobern.
"Im Sommer machen wir CampOuts. Das heißt: Wir suchen uns die Straßenecken, an denen die Gang-Mitglieder stehen und ihren Block verteidigen und dann machen wir dasselbe. An diese 'heißen Blocks' setzen wir uns von 5 Uhr nachmittags bis 5 Uhr früh. Mit Musik, mit Essen, eigentlich allem, was so eine Nachbarschaft ausmacht. Sodass wir Menschen anlocken, die sehen, ihr Viertel kann besseres leisten. Manchmal kommen die Gangs vorbei. Wir müssen uns daran erinnern. Das sind alles Menschen. Die meisten sind noch jung. Die sind noch auf der Suche, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, nur hat sich niemand bisher für sie interessiert, mal abgesehen von den Gangs."
Die Jungs waren Teil des Problems, heute Teil der Lösung
Eine andere Aktion gegen Gewalt veranstaltet das "Institute for Nonviolence Chicago". Eine Gruppe von 25 Menschen hat sich dafür im Westen Chicagos zusammengefunden. Die Straßen sind dunkel - allein geht hier niemand raus, der sich nicht auskennt. Alle tragen große Westen über dicker Winterkleidung. Sie kommen aus unterschiedlichen Organisationen zur Gewaltprävention und wollen durch das Viertel gehen.
"Stoppt die Gewalt, stoppt das Töten", ruft einer mit dem Megafon. Ein paar Passanten halten mit skeptischem Blick an, ein paar der Leute klopfen sich zur Begrüßung auf die Schultern. Jeder, der bei der Aktion mitläuft, kommt selbst aus einem Viertel, das unter Gewalt leidet, fast jeder hat einen Freund oder Verwandten, der durch Kugeln getötet wurde, im Gefängnis sitzt oder selbst Teil einer Gang war.
"Viele aus unserer Gruppe sind hier aufgewachsen. Sie haben ihre Eigenarten, waren Teil des Problems. Lass sie heute Teil der Lösung sein, wenn sie auf die Jungs zugehen. Sie reden ihre Sprache. Wir versuchen Respekt zu zeigen. Wir kommen in unseren grünen Westen, und werben für Frieden. Wenn sie unsere grüne Farbe sehen, versuchen auch sie, Respekt zu zeigen."
Sagt DP, ein großer, mächtiger Mann, der in "Back of the Yards", ein Viertel im Süden, mit Jugendlichen arbeitet. Er schlichtet Streit, bringt Ordnung in die Gruppe der Teenager die nachmittags Zeit im Clubhaus miteinander verbringen. Im Sommer ist DP jede Woche mit anderen vom "Institute for Nonviolence Chicago" unterwegs, um die Jugendlichen von der Straße zu holen.
Vom Gangmitglied zum Lokalpolitker
In diesem Viertel war auch Berto Aguayo Gang-Mitglied, bis er sich vor sieben Jahren entschied auszusteigen.
"Es war hart. Ich wurde drei Minuten lang verprügelt, um aus der Gang zu kommen. Ich habe eine Chance bekommen, die größere Welt zu sehen, ich bin in ein anderes Viertel gekommen und es hat mich beeindruckt. Es hat mir ermöglicht, mich selbst anders zu sehen. Das war ein Schlüsseleffekt."
Berto Aguayo ist mittlerweile in Anzug unterwegs. Der ehemalige Gangster hat zwei Uniabschlüsse, er hat sich in der Community engagiert und sich für den Weg in die Politik entschieden. Aguayo steht im Wahlkampfbüro vor den A4-Ausdrucken seines Wahlgebietes. Sein nächstes Ziel: Sich für sein Viertel, seine Stadt als Lokalpolitiker aufzustellen.
Korrupte Politiker hätten sich früher die Gebiete untereinander aufgeteilt, erzählt er. Korruption und eine Politik, die bestimmte Viertel vernachlässigt, sind Teil des Problems. Berto Aguayo will die Gewalt in Chicago in Zukunft politisch bekämpfen. Seine Geschichte, die geprägt war von Gangs, Waffen und Gewalt, ist dabei zu seinem größten Vorteil geworden – weil er weiß, wovon er spricht:
"Früher war mir meine Vergangenheit peinlich, aber es hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, hätte ich nicht diese Erfahrungen gemacht. Ich habe street credibility. Ich kenne die Probleme der Menschen hier. Ich habe schlechte Dinge getan und jetzt bin ich zu einer anderen Person geworden."