Gewalt in Japans Sport

Schläge, Ohrfeigen, Tritte

26:50 Minuten
Sae Miyakawa während ihrer Bodenturn-Kür bei Olympia 2016.
Obwohl ihr Trainer sie schlug, möchte sie weiter mit ihm zusammenarbeiten: die Turnerin Sae Miyakawa bei Olympia 2016. © picture alliance / AP Photo / Rebecca Blackwell
Von Kathrin Erdmann |
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Misshandlungen scheinen im japanischen Spitzensport Alltag zu sein. Immer wieder haben Übergriffe und auch Suizide für Aufsehen gesorgt. Geändert hat sich bisher wenig. Bisweilen nehmen die Sportler ihre gewalttätigen Trainer sogar noch in Schutz.
Der Blick konzentriert, der Körper gespannt. Schnell und scheinbar mühelos bewegt sich Sae Miyakawa über die Turnmatte, wie ein Flummi springt sie Flickflack, Salto, kommt danach kurz nicht sicher zum Stand, aber die Kür muss weitergehen, schließlich geht es um die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Rio.
Die heute 21-Jährige hat es damals nach Brasilien geschafft und bereitet sich jetzt auf die Spiele in Tokio im nächsten Jahr vor. "Ich trainiere gerade sechs Mal die Woche fünf Stunden täglich, denn bald ist ein erster Qualifikationswettkampf für Olympia."
Für die Sommerspiele hat sie ehrgeizige Ziele, wie sie im Interview mit dem ARD-Hörfunk in Tokio erzählt: "Wir wollen als Team eine Medaille holen und ich auch im Einzel beim Bodenturnen."
In Japan ist Sae Miyakawa nicht nur wegen ihrer sportlichen Leistungen bekannt. Vor zwei Jahren sorgte ein Video für Aufsehen. Die Fernsehnachrichten zeigen einen Trainingsausschnitt. Darin ohrfeigt der Trainer seinen Schützling mehrmals. Während Yuto Hayami der Weltklasseturnerin immer wieder links und rechts eine knallt, steht sie mit hängenden Armen vor ihm und lässt die Schläge über sich ergehen.

Sport als jahrelanges Martyrium

Später stellt sich heraus: Das Video stammt bereits aus dem Jahr 2015 und die Sportlerin hat ein jahrelanges Martyrium hinter sich. Sie selbst sagt damals in einer Pressekonferenz: "Ich wurde geohrfeigt und an den Haaren gezogen."
Der japanische Turnverband entlässt den Trainer daraufhin. Der bereut damals sein Verhalten. Schon kurz darauf schaffen es Trainer und Sportlerin erneut in die Schlagzeilen, denn beide wollen weiter miteinander arbeiten. Er habe sie aus Liebe geschlagen, sagt die Turnerin damals.
Ankunft des olympischen Feuers in Matsushima in Japan
Ankunft des olympischen Feuers in Japan: Wegen Corona wurden die Sportwettkämpfe für 2020 abgesagt.© picture alliance / ZUMA Wire / Rodrigo Reyes Marin
Auf den Fall angesprochen, schüttelt Osamu Takamine den Kopf. Der Professor für Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Meiji-Universität in Tokio hat sich viel mit Gewalt im Sport beschäftigt. Von 2013 bis 2017 kümmert er sich im Japanischen Olympischen Komitee um den Frauensport. Für den Wissenschaftler ist Turnerin Miyakawa ein klassisches Beispiel für Japans Problem.
"Dieser Fall steht exemplarisch für Japan. Nach dem Motto: Ja, ich habe Gewalt erlebt, aber das war gar keine Gewalt. Um da wieder rauszukommen, muss man so argumentieren: Das war aus Liebe, der Trainer hat nur an mich gedacht. So denken viele Sportler in Japan."

Human Rights Watch prangert Gewalt an

Er erinnert daran, dass die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schon 2013 Gewalt im japanischen Sport angeprangert hatte. Passiert sei seitdem so gut wie nichts. Einzig: Man habe zur Kenntnis genommen, dass es Gewalt gibt.
"Ich bin sehr unglücklich darüber, weil sich niemand ernsthaft damit befasst. Es wird nicht mal der Versuch unternommen, Kinder ohne Gewalt zu trainieren. Wenn die Olympischen Spiele und die Paralympics stattgefunden hätten, dann hätte man über die Medaillen gesprochen, das Thema Gewalt wäre vom Tisch gewesen."
Nun aber, durch den Aufschub, hat Japan theoretisch ein weiteres Jahr Zeit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die private Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Sommer veröffentlichte.

Nahrungsmittelentzug als Strafe

Japanische Sportlerinnen und Sportler fordern in einem eigens produzierten Video, mit Respekt behandelt zu werden. Das aber, so Human Rights Watch im Sommer, passiere noch zu selten. Die Organisation hatte nach eigenen Angaben ein Dutzend Interviews geführt und fast 760 Menschen online befragt. Die Hälfte davon war jüngere als 24 Jahre. Kanae Doi, Direktorin von Human Rights Watch Japan.
"Dokumentiert sind Schläge, Ohrfeigen, Tritte oder es wurde mit irgendwelchen Dingen nach den Sportlern geworfen. Von den 381 jungen Leuten in unserer Umfrage geben 19 Prozent an, so etwas erlebt zu haben. Häufig wurden ihnen auch Nahrungsmittel und Wasser vorenthalten."
Auch gab es danach Fälle, wo den Opfern die Haare geschnitten oder der Kopf rasiert wurde, listet die weltweit tätige Organisation in ihrem fast 70-seitigen Bericht auf. Was sie mit am meisten erschüttert: Dass Japan bis heute keine zentrale Stelle eingerichtet hat, an die sich Opfer wenden können und die Übergriffe sammelt und dokumentiert.
Tatsächlich ist nach Recherchen des ARD-Hörfunks bisher wenig passiert. Zwar existieren inzwischen Richtlinien und eine Art Selbst-Check-Blatt, das an die 120 Nationalen Verbände ausgegeben wird. Darin werden die Bemühungen zur Gewaltprävention in einem Satz abgefragt. Ergebnisse liegen bisher noch nicht vor.
Und das größte Manko: Der gesamte Schulsport, der in Japan der wichtigste Bereich ist, bleibt quasi außen vor beziehungsweise es existiert keine Meldepflicht.

Viele Beschwerden gegen Trainer

Dabei gingen bei der Japanischen Sportvereinigung in den vergangenen sechs Jahren fast 700 Beschwerden ein, die meisten davon kamen von Schülerinnen und Schülern. Sie klagten über verschiedene Formen des Mobbings, aber jeder fünfte auch über körperliche Gewalt. Einigen Tätern wurde daraufhin das Gehalt gekürzt oder sie wurden für einen gewissen Zeitraum suspendiert. Mehr nicht. Eine Statistik gibt es nicht.
Das Thema soll kleingehalten werden, vor allem auch an den Schulen, sagt Wissenschaftler Osamu Takamine: "Sport konzentriert sich in Japan auf die Schulen. Bildungseinrichtungen stehen mit ihrem Angebot in Konkurrenz zueinander, werben mit ihren Angeboten. Und damit verbunden sind häufig die Trainer. Die werden also sozusagen geschützt, denn sie stehen für den guten Ruf der Schule."
Judotraining: Kinder stehen in einer Sporthalle und dehnen ihren Rücken.
Judotraining im japanischen Oiso: Auch im Breiten- und Schulsport gehört Härte zum Training. (Symbolfoto)© picture alliance / AP / Hiro Komae
Den guten Ruf fast verloren hätte die Fuji Gakuen Oberschule. Sie ist beschaulich gelegen, in einer verschlafenen Stadt in unmittelbarer Nähe zum Fujiberg, westlich von Tokio. Mit dem Zug fährt man knapp drei Stunden. Die Verbindung ist nicht günstig, dennoch kommen Kinder aus ganz Japan hierher, denn die Fuji Gakuen ist bekannt für ihre sportliche Ausrichtung.
In der Sporthalle wird im hinteren Teil japanischer Schwertkampf, Kendo, trainiert. Die Schule war nur im Frühjahr einige Zeit wegen Corona geschlossen, jetzt wird wieder normal gelernt, im Unterricht mit Maske, im Sport ohne.

Die Grenze zwischen Gewalt und Sport

Vorne in der Sporthalle werfen sich Mädchen auf die Matte: Judtotraining. Die Mannschaft hat bereits drei Mal im nationalen Schulwettbewerb gewonnen.
Stark ist auch das Basketballteam, doch das sorgte zuletzt nicht nur sportlich für Aufsehen. "Im Basketballteam wurde 2018 festgestellt, dass der Trainer die Schülerinnen beschimpft hat und gewalttätig geworden war." Tritte vor das Schienbein sind nur ein Beispiel. Weil alles gewohnheitsmäßig passierte, haben wir kurzen Prozess gemacht, sagt der stellvertretende Direktor Takayuki Yamaguchi.
Doch gut ein halbes Jahr nach diesem Vorfall gibt es wieder ein Problem. Dieses Mal geht es um Judo. Der Trainer soll Gewalttätigkeiten von älteren gegenüber jüngeren Schülerinnen geduldet haben. Doch: "Wir haben das nachgeprüft, auch mit allen gesprochen und sind zum Ergebnis gekommen, dass es keine Gewalt, sondern Teil der Übung war."
Tatsächlich sei die Grenze beim Judo manches Mal schwer zu ziehen, sagt der Vizedirektor. Für einen Laien sieht das Training tatsächlich ziemlich brutal aus, wenn sich die Mädchen hin- und herziehen, auf den Boden werfen.
Yuta Yazaki ist Trainer der Judomädchenmannschaft. Er stand im Verdacht, Gewalt geduldet zu haben. Der 40-Jährige sagt: "Judo ist ein Kontaktsport. Das macht es sehr schwer, die Grenze zwischen Gewalt und Training zu ziehen. Man hat eine Technik und der andere hat seine, und da kann es schon mal einen Schlag ins Gesicht oder ähnliches geben. Wo soll man die Grenze ziehen und sagen, das war absichtlich und das nicht?"
Die Vorwürfe hätten ihn schwer getroffen, ebenso wie die Schülerinnen. Denn gemeinsam war man auf dem Weg, Landesmeister zu werden, und das habe alles kaputtgemacht.

Onlineunterricht macht den Sport transparenter

Die negativen Schlagzeilen, sagt Vizeschulleiter Yamaguchi, seien natürlich nicht förderlich für das Ansehen der Schule gewesen. Doch dann kommt Corona und die buddhistische Schule muss auf Onlineunterricht umstellen. Yamaguchi, der selbst Japanisch lehrt, stellt dadurch fest: Er strengt sich mehr an, gibt sich mehr Mühe, weil er fürchtet, dass auch Eltern seinem Unterricht folgen.
Diese Transparenz habe ihm selbst gutgetan. So entstand die Idee, auch das Judotraining zu den Schülern nach Hause übertragen zu lassen. "Bei den Eltern kam die Idee sehr gut an. Es beruhigt sie, und sie können jetzt auch sehen, wie trainiert wird." Seitdem stehen in der Turnhalle drei Bildschirme, die das Training nach Hause übertragen.
Chihiro ist 16 Jahre alt und trainiert täglich Judo. Sie stört sich nicht an der Dauerbeobachtung des Trainings. Ihre Eltern würden auch manches Mal von zu Hause zugucken. Das sei nicht nur positiv. "Sie mischen sich jetzt ein und sagen dann, was ich besser machen könnte."
Uran, ein pausbäckiges, kräftiges Mädchen von 15 Jahren hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie sei deshalb angespannter. Gewalt ist für sie kein Thema: "Judo ist ein Kampfsport und deshalb frage ich mich gar nicht erst, ob es Gewalt gab oder nicht."
Die Idee, künftig auch anderen Unterricht nach Hause zu übertragen, findet sie gut: "Das ist für alle Seiten vorteilhaft, für die Schule, die Lehrkräfte und auch für uns. Wir arbeiten dann ernsthafter und konzentrierter."

Gewalt als falsch verstandene Liebe

Honami ist die Teamleiterin einer Judomädchengruppe an der Fuji Oberschule. Sie selbst habe noch nie Gewalt erlebt, sagt sie. Dabei ist jedoch fraglich, ob sie diese überhaupt als solche erkennen würde. "Wenn ich hart trainiert werde, gibt mir das das Gefühl, dass sich der Trainer wirklich um mich kümmert. Wenn er zu weich ist, hat er aus meiner Sicht kein Interesse."
Trainer Yuto Hayami bei einer Pressekonferenz: Er berichtet dort auch von seinen eigenen Gewalterfahrungen als Sportler.
Trainer Yuto Hayami bei einer Pressekonferenz: Er berichtet von seinen Gewalterfahrungen als Sportler.© picture alliance /AP Images / The Yomiuri Shimbun / Kenichi Matsuda
Dass die Turnerin Sae Miyakawa die Ohrfeigen ihres Trainers lange toleriert und gerechtfertigt hat, kann sie gut verstehen. "Ich kann ihre Argumente sehr gut nachvollziehen. Der Trainer liebt sie, und das versucht er auch mit Gewalt zu zeigen." Es sei nur gut gemeint, ist sie sicher. "Judo ist ein Kampfsport. Da geht es eben hart zu. Wer sich davor fürchtet, ist im Judo falsch."
Verstörende Aussagen, auch für Vizedirektor Yamaguchi. Er ist ein kritischer Geist und hat sich seit den Vorfällen an seiner Schule viel mit dem Thema Gewalt auseinandergesetzt. Er erinnert daran, dass es Eltern erst seit diesem Jahr verboten ist, ihre Kinder zu schlagen. "In Japan gibt es den Ausdruck Peitschen der Liebe. Das zeigt schon, das Gewalt bejaht wird."

Die Regierung tut zu wenig

Der 56-Jährige ist selbst mit Gewalt aufgewachsen, zu Hause und in der Schule, erzählt er. Er sagt: Viele Japaner würden denken, Schläge würden sie abhärten. "Sie sehen in körperlicher Gewalt kein Verbrechen, sondern sie ist ein Ausdruck des Dankes." Und die Regierung tue viel zu wenig, um daran etwas zu ändern. Zwar gebe es Richtlinien, aber im Grunde sei es jedem selbst überlassen, ob er sich daran halte oder nicht.
Turnerin Sae Miyakawa und ihr Trainer Yuto Hayami arbeiten derweil weiter an ihrem Traum für Olympia in Tokio. Beide haben trotz Gewalt aneinander festgehalten. Aber ihr Verhältnis habe sich grundlegend verändert, meint Sae Miyakawa.
"Vor 2018 bewegte ich mich in einem Teufelskreis. Wenn ich irgendetwas nicht konnte, hat er mich angeschrieen. Und um das zu vermeiden, habe ich mich immer angestrengt. Jetzt bin ich erwachsen geworden und mache selbst den Trainingsplan und frage ihnen eher um Rat bei bestimmten Dingen. Unser Verhältnis hat sich also verändert."

Mit Gewalt aufgewachsen

Für Yuto ist Sae so etwas wie die kleine Schwester. Er arbeitet mit ihr seitdem sie zehn Jahre alt ist, das verbindet. Dass er lange glaubte, Spitzenleistungen könnten nur durch Gewalt erreicht werden, erklärt er rückblickend so.
"Ich bin als Turner selbst mit Gewalt groß geworden, aber ich empfand das Training damals gar nicht als schlecht. Sondern ganz im Gegenteil, dachte ich: Dieser Trainer meint es nur gut mit mir. Er schlägt mich sogar. Und deshalb hatte ich später selbst gar kein schlechtes Gewissen."
Auch weil alle anderen um ihn herum es genauso machten. Dass sein Fall damals öffentlich geworden ist, sieht Yuto Hayami im Rückblick positiv. So sei das Thema Gewalt im Sport aus der Tabuzone gekommen, gehe aber noch längst nicht weit genug: "Es müsste einfach von oben ein echtes Gewaltverbot geben. Die Politik müsste da sehr viel mehr machen und ein viel deutlicheres Zeichen setzen, dass Gewalt im Sport verboten ist. Auf uns hat man natürlich wegen des Vorfalls zu Recht herabgeschaut. Aber jetzt wollen wir Vorbild sein und zeigen: Guckt mal, man kann auch erfolgreich sein, ohne jemanden unter Druck zu setzen oder zu schlagen."
Heute setzt der Trainer auf Dialog statt Gewalt, gibt aber zu: Der Weg war lang und beschwerlich. Dass der 37-Jährige das geschafft hat, verdankt er vielen Menschen, die ihm geholfen und ihn unterstützt haben, aber, so beklagt er, dass sei längst nicht selbstverständlich:
"Die Trainer in Japan müssten viel enger betreut werden, wenn man wirklich von der Gewalt wegkommen will. Sie müssen in die Reform miteinbezogen, beraten und unterstützt werden. Wenn das nicht gleichzeitig passiert, wird sich nichts Grundlegendes im Sport in Japan ändern."
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