"Die Hoffnung wurde missbraucht"
Wut und Verzweifelung beherrschen die junge Palästinenser-Generation angesichts einer endlosen Spirale der Gewalt. Auch das Vertrauen in die eigene Regierung sei dahin, die dritte Intifada sei unabwendbar, sagt der Politikwissenschaftler Raif Hussein.
Nach Ansicht des Vorsitzenden der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Raif Hussein, ist die dritte Intifada unabwendbar und die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts gescheitert.
Die Verbitterung und der Vertrauensverlust in Bezug auf die eigene Führung seien in der jungen Palästinenser-Generation – der sogenannten "Oslo-Generation" – sehr groß, sagte der Politikwissenschaftler im Deutschlandradio Kultur. Die Gewalt und das Morden habe nie aufgehört – auch während der 22 Jahre nach den Friedensverhandlungen von Oslo nicht – und sei Alltag in den von Israel kontrollierten Gebieten. "Nur jetzt ist die Intensität des Mordens größer geworden. Aber das ist keine neue Eskalation." Allerdings sei die Art, in der die Menschen gegen die Besatzung protestierten, vehementer und intensiver geworden, so Hussein. Die Palästinenser sprächen darum von einer dritten Intifada.
Vertrauen in die Regierung verloren
Die Wut und Verzweiflung der jungen Generation seien eine Folge der Entwicklungen der zurückliegenden Jahre:
"Diese Generation hat an den Frieden geglaubt und an das Zusammenleben geglaubt. Sie hat ihrer politischen Führung Vertrauen geschenkt, sie hat der europäischen Welt, der sogenannten freien Welt, Vertrauen geschenkt. Sie hat sogar Israel zum größten Teil Vertrauen geschenkt."
Diese Hoffnung auf Ruhe und ein friedliches Leben und das Vertrauen in die Politik sei "auf das Abscheulichste missbraucht worden" Die jungen Palästinenser wollten ihr Schicksal deshalb mit allen Konsequenzen selbst in die Hand nehmen und signalisierten ihren Politikern: "Wir sind eine Einheit bei der Bekämpfung der Besatzung und der Siedler. Wir sind mit der Strategie des Nichtstuns nicht einverstanden'."
Hussein sagte weiter: Auch die Reaktion der Weltgemeinschaft auf die Gewalt gegen Palästinenser sei "nicht mehr als eine Floskel, es war praktisch ein Beruhigungsmittel für die Palästinenser, nicht mehr."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Anschläge, Messerattacken in Israel, eine Mauer, die um Ostjerusalem erst gebaut werden sollte, dann erst mal doch wieder nicht. Ein eher aus Versehen gelynchter Flüchtling aus Eritrea, der für einen Terroristen gehalten wurde, Israelis, die sich Waffenscheine ausstellen lassen – man versteht, wie zutiefst verunsichert sich die Menschen in Israel fühlen müssen. Das haben wir uns gestern hier aus Tel Aviv von unserem Korrespondenten schildern lassen. Heute wollen wir über die andere Seite sprechen und fragen, wie sich die Palästinenser fühlen, ob womöglich eine neue Intifada beginnt oder längst begonnen hat. Und die Fragen richten sich an Raif Hussein. Er ist Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, kam zum Studium nach Deutschland, hat Wirtschaftsinformatik, Politik, Soziologie und Sozialpsychologie studiert, und derzeit schreibt er seine Dissertation mit dem Schwerpunkt Politischer Islam. Herr Hussein, schönen guten Morgen!
Raif Hussein: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Gestern habe ich mir noch die Zahlen aufgeschrieben, wie viele Israelis, wie viele Palästinenser getötet wurden. Die Zahlen haben sich über Nacht schon wieder verändert. Und wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der Palästinenser bei ihren Anschlägen von israelischen Sicherheitskräften oder Zivilisten erschossen wurde oder bei anderen Auseinandersetzungen ums Leben kamen, dann weiß man, dass die Spirale der Gewalt sich wieder neu dreht. Und Auslöser dieser Gewalt, das waren ja Streitigkeiten um den Tempelberg. Die führten zu Messerattacken, dann gab es israelische Vergeltung, wieder Messerattacken, Festnahmen von Hamas-Führern, und seit dem Sommer dreht sie sich wieder, eben die erwähnte Spirale der Gewalt. Wie nehmen Sie denn, wie nehmen die Palästinenser, um das mal so zusammenfassend zu sagen, die Auseinandersetzungen wahr?
Hussein: Lassen Sie mich erst einmal nur eine kleine Bemerkung machen. Sie sagten in Ihrer Anmoderation, dass das israelische Vorgehen eine Reaktion auf die Gewalt sei. Ich würde es eben andersherum, nämlich das war, die Aktion der Palästinenser, das ist eine Reaktion auf die Besatzung. Das ist die erste Sache, die ich gerne als Bemerkung geben möchte. Das Zweite ist eben, dass die Palästinenser die Gewalt, das Töten, das Erschießen, das hat nie aufgehört in Palästina in den letzten 22 Jahren, in dieser Zeit, die wir alle als Zeit des Friedens, Friedensgesprächs bezeichnet haben. Es gab immer wieder Erschießungskommandos, es gab immer wieder Verhaftungen, es gab immer wieder Morde von Siedlern an Palästinensern. Das heißt, was wir jetzt sehen, ist nur eine Fortsetzung dessen, was wir eigentlich in den letzten 22 Jahren erlebt haben und die Menschen in Palästina erlebt haben. Das war Teil ihres Alltages praktisch. Nur jetzt ist die Intensität des Mordens etwas größer geworden, aber das ist keine neue Eskalation in dem Sinne. Die Art, in der die Menschen protestieren gegen die Besatzung, gegen ihre Entrechtung, ist eine andere. Es ist vehementer, es ist intensiver, und ich sage in der Tat, das sagen wir, die Palästinenser, das ist eine dritte Intifada.
von Billerbeck: Das sagen Sie so deutlich. Wir haben das ja nicht aus dem Blick verloren, dass es eine Besatzung ist und was an Gewalttaten auch von Israel verübt worden ist, das können Sie mir sicher glauben. Trotzdem hat man ja den Eindruck, dass die Täter, die jetzt diese Attentate, diese Messerattacken verüben, extrem jung sind und das so aus sich heraus tun. Und das wirkt auf uns doch so, als ob das tatsächlich eine neue Qualität hat. Und wenn Sie sagen, das ist der Beginn einer dritten Intifada, worauf müssen wir uns da einstellen?
Hussein: In der Tat, das ist der Beginn einer neuen Intifada. Wir stehen mitten drin, würde ich mal sagen. Wenn Sie mal die Alter der ermordeten Palästinenser sich anschauen, dann werden Sie mal feststellen, dass die Mehrheit von denen zu der Generation Oslo, wie wir das so nennen, gehört, das heißt im höchsten Fall 22, 23 Jahre alt.
von Billerbeck: Meistens noch viel jünger.
Hussein: Meistens auch viel jünger. Die letzten, die gestern in El-Halil, in Hebron ermordet wurden, waren 15 und 17 Jahre alt. Also das sind Kinder der Osloer Zeit praktisch. Die Leute agieren aus Wut, aus Verzweiflung über ihre Situation, aus Hoffnungslosigkeit. Die Menschen in Palästina, auch diese Generation, hat in der Tat an den Frieden geglaubt, an das Zusammenleben geglaubt. Die hat ihrer politischen Führung Vertrauen geschenkt. Sie hat der europäischen Welt, der westlichen Welt, der sogenannten freien Welt Vertrauen geschenkt. Sie hat sogar Israel zum großen Teil Vertrauen geschenkt. Ihr Vertrauen, etwas zu erreichen, Frieden, Ruhe, Perspektive zu erreichen, wurde enttäuscht und wurde auf das Abscheulichste zum Teil missbraucht. Die Menschen sind getäuscht und enttäuscht über das, was sie in den letzten 20 Jahren erlebt haben. Aus dieser Position heraus reagieren die Menschen ganz einfach.
von Billerbeck: Sind sie auch enttäuscht von ihrer eigenen Führung? Sie haben ja mehreres aufgezählt, wovon die gerade sehr jungen Menschen, diese Generation Oslo enttäuscht sind. Sind sie auch von der eigenen Führung, der Palästinenserführung enttäuscht?
Hussein: Absolut. Die Jugend schickt meiner Meinung nach drei Messages, wenn Sie so wollen, drei Nachrichten. Sie schicken erst mal die erste Nachricht an die Israelis, dass wir mit der Entrechtung, mit der Besatzung, mit der Apartheid, die im besetzten Palästina herrscht, nicht einverstanden sind. Und genug ist genug – wir geben uns nicht damit zufrieden, dass wir unterdrückt werden. Das ist die erste Message praktisch, die Besatzung soll aufhören. Die zweite Message an die freie Welt, die diesen Prozess 22 Jahre begleitet hat und zugeschaut hat, wie Israel internationales Recht, internationale Beschlüsse, internationale Konventionen mit Füßen getreten hat, das einzige, worauf die Weltgemeinschaft reagiert hat, war eben Bedauern, Reden, Gerede – es war nicht mehr als eine Floskel, das war praktisch ein Beruhigungsmittel für die Palästinenser, nicht mehr. Die Jugend sagt ganz einfach, schaut hin, ihr habt uns enttäuscht, ihr habt nichts getan, außer Reden habt ihr nichts zustande gebracht. Jetzt nehmen wir unser Schicksal in die Hand. An ihre eigene Führung schickt die palästinensische Jugend eine Message und sagt, wir sind eine Einheit bei der Bekämpfung der Besatzung und der Siedler. Wir gehen auf die Straße. Wir sind mit der Politik, mti der Strategie des Nichtstuns, erst mal Sitzen und Reden, wir sind damit nicht einverstanden. Wir sagen, das euer Prozess, der 22 Jahre lang gedauert hat, endgültig gescheitert ist.
von Billerbeck: Raif Hussein war das mit sehr deprimierenden Einschätzungen von der Palästinensisch-Deutschen Gesellschaft. Und er spricht von einer dritten Intifada. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Hussein: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.