Gewalt "ist ein Mangel an Liebe"

Carsten Unger im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 18.04.2013
Als ein Junge entführt wird, trifft die Polizeipsychologin, gespielt von Martina Gedeck, auf eine Mauer des Schweigens. Mit seinem preisgekrönten Film "Bastard" hat sich Regisseur Carsten Unger auch an "Das Schweigen der Lämmer" orientiert. Sein Film wühlt mindestens genauso auf wie der Psychothriller aus den 90ern.
Dieter Kassel: Meine Kollegin Liane von Billerbeck hat mit dem Regisseur des Films, Carsten Unger, geredet und ihn gefragt, wie es denn überhaupt dazu kommen kann, dass Teenager so böse, so gewalttätig werden.

Carsten Unger: Ja, wir haben uns dann am Anfang der Geschichte die Frage gestellt, was ist die Ursache für Gewalt? Und kamen immer wieder zu einem Punkt: dass es ein Mangel an Anerkennung und Liebe ist. Das ist vielleicht eine Vereinfachung, aber ich glaube, in dieser Vereinfachung steckt sehr, sehr viel Wahrheit. Und dann haben wir versucht, Prototypen zu erzählen, die auf der Suche sind nach Liebe und Anerkennung, und das treibt sie eigentlich an. Und als diese ausbleibt, sind sie irgendwann bereit, bis ans Äußerste zu gehen, um sie zu bekommen.

Liane von Billerbeck: Man fragt sich ja auch immer, wenn man diese beiden Protagonisten, diese beiden Kinder sieht, warum die Eltern so wenig unternehmen, um ihnen beizustehen, um ihnen genau das zu geben, was ihnen fehlt.

Unger: Also die Mutter von Mathilda kann es nicht. In dem Fall ist nicht die Mutter die Mutter und Mathilda das Kind, sondern andersherum. Mathilda übernimmt die Mutter-Aufgaben für ihre eigene Mutter. Sie übernimmt Verantwortung für sie. Und ihre Mutter kann nicht, sie ist selber viel zu überfordert von ihrem Leben und ihrer Situation, dass sie nicht in der Lage ist dafür. Ich kann ihr da auch keinen Vorwurf machen. Sie hat Verantwortung, aber ich weiß nicht, ob sie Schuld trifft, das ist ja auch die Frage des Films. Und bei den Adoptiveltern von Leon, auch da – jeder ist auch gefangen in seiner eigenen Welt. Ich weiß nicht, ob man immer die Freiheit hat, sich so zu verhalten, wie es richtig ist.

von Billerbeck: Nun sind das zwar Prototypen, wie Sie selbst eben sagten, aber es sind keine Figuren, die nur schwarz, nur weiß oder irgendwie nur gut, nur böse sind, sondern alle Figuren, inklusive der Polizeipsychologin, der Ermittlerin, die gespielt wird von Martina Gedeck, sind ambivalente Figuren. Über sie wird am Anfang gleich gesagt, als sie eingeführt wird, sagt sie von sich selbst, gefragt, ob sie Kinder hätte, nein, mit Kindern kann ich nicht. Und auch diese Kinder, die so eine Gewalttat verüben, sind ja eigentlich immer wieder Opfer. Also, keine festen Klischees, keine Grundmuster?

Unger: Nein, ich hoffe, nicht. Die Welt sieht nicht so aus. In der Welt gibt es kein Schwarz und kein Weiß. In der Welt gibt es nicht nur Täter und Opfer. Es gibt Menschen, die werden zu Opfern, und es gibt Menschen, die werden zu Tätern, aber ich bin der Meinung, ohne das jetzt irgendwie verharmlosen zu wollen, dass es in irgendeinem Täter irgendwo immer ein Opfer auch gibt.

von Billerbeck: So einen Film, den werden sich ganz sicher Menschen angucken, die beruflich mit solchen Themen zu tun haben. Ich denke auch,dass es viele Erwachsene gibt, jedenfalls habe ich das gemerkt, als ich Leuten von diesem Film erzählt habe, die sofort so ein bisschen auf Distanz gehen und sagen, oh Gott, Kinderentführung mit Kindern, das kann ich immer nicht sehen. Sie spielen aber auch mit allen Medien, die Jugendliche eben heute benutzen. Da wird eben der Film der Entführung auf die Handys der Mitschüler gespielt. Welche Zuschauer erhoffen Sie sich für Ihren Film?

Unger: Das ist eine gute Frage. Also, wir haben von Anfang an gesagt, dass wir eigentlich Familienunterhaltung machen wollen. Familienunterhaltung nicht in dem Sinne wie "Findet Nemo" oder irgendwelche Pixar-Filme. Familienunterhaltung in dem Sinne, dass wir die junge Zielgruppe ansprechen wollen und die alte Zielgruppe gleichermaßen. Und ich glaube, das ist uns gelungen. Also, ich bekomme sehr positives Feedback von allen Generationen eigentlich und in diesem Sinne ist es Familienunterhaltung, wenn auch keine leichte. Aber wir haben wirklich unser Bestes gegeben, dem Zuschauer all das zu bieten, was man in einem guten Kinofilm gerne hat. Wir haben schöne Bilder gemacht, wir haben super Musik, der Soundtrack kommt raus. Wir haben sehr aufwendig produziert. Für mich ist der Film in gewisser Weise ein trojanisches Pferd. Also, ich wollte die junge Zielgruppe erreichen, indem ich ihre Bilder, ihre Mode und ihre Musik darstelle in der Hoffnung, so sie mit einem Thema zu konfrontieren und mit einer Geschichte, die sie sonst sich nicht anschauen würden.

von Billerbeck: Dem deutschen Film wird ja nicht selten der Vorwurf gemacht, er sei nicht konsequent genug, gerade in dem Genre, was Sie hier bedienen, also in dieser spannungsgeladenen Form, sei nicht hart genug, ginge nicht bis zum Schluss. Das kann man Ihrem Film eigentlich nicht vorwerfen. Gab es da Vorbilder, die Sie im Kopf hatten, als Sie diesen Film gedreht haben?

Unger: Natürlich. Also wir hatten filmische Vorbilder, die sind auch, glaube ich, sehr deutlich zu erkennen, das ist "Das Schweigen der Lämmer" oder von dem Umgang mit Wasser "Sieben". Wir hatten aber auch mit meinem Kameramann viele Vorbilder aus der bildenden Kunst zum Beispiel oder eine Fotografin, Lillian Birnbaum, ich weiß nicht, ob Sie die kennen. Die hat ganz tolle Fotografien gemacht über Kinder in so einer Übergangsphase, nennt sie das "Transitions", also Kinder, die noch zwölf sind und gerade dabei sind, erwachsen zu werden oder Jugendliche zu werden. Oder McPherson, das ist eine Illustratorin aus Amerika, die macht sehr, sehr schöne Illustrationen, in den Farben meistens rosa, türkis, weiß und schwarz, und die war für uns auch Maßgabe für die Vorgabe der Welt der Kinder. Und so haben wir eigentlich immer ganz viele Referenzen aus unserem Umfeld. Ich glaube nicht an den originären Schöpfergedanken. Meine Filme sind Plagiate vom Anfang bis zum Ende.

von Billerbeck: Die Kinder sind grandios besetzt, muss man sagen, Markus Krojer, da habe ich beim Sehen des Films immer überlegt, woher kennst du den, woher kennst du den, und an so einer Dialekt-Stelle dachte ich immer, ah – und dann fiel es mir ein, es steht dann auch auf einem Blatt, Markus H. Rosenmüllers Film "Wer früher stirbt, ist länger tot", da hat er mitgespielt. Und Antonia Lingemann ist das Mädchen. Wie haben Sie die beiden gefunden?

Unger: Also, Markus war relativ früh klar, weil wir kannten ihn aus "Wer früher stirbt, ist länger tot", und ich fand, von dem Typ her passte das total gut. Und ich hab auch, genau wie er, diese Herausforderung gesehen, jetzt mal eine ganz andere Rolle zu spielen. Also nicht den Lausbuden, den süßen Lausbuben, sondern wirklich kalkulierten Täter. Und Antonia haben wir gefunden über ein relativ aufwendiges Casting, wobei, wir haben jetzt nicht an irgendwelchen Schulen gesucht oder so. Für mich war von Anfang oder für meinen Produzenten wichtig, dass wir Kinder finden, die schon eingebunden sind in filmische Strukturen. Also, ob es eine Agentur ist mit Eltern, die sich auskennen. Weil so ein Film ja oft das Leben ganz stark verändern kann. Und umso wichtiger war es, dass die Kinder halt eingebettet sind.

von Billerbeck: Es sind ja nicht nur die Kinder grandios besetzt, sondern Sie haben auch bei den Erwachsenen-Rollen eigentlich Stars, Martina Gedeck als Ermittlerin, die Fallanalytikerin Beate Meas, Thomas Thieme, Sibylle Cannonica, Hanns Zischler in eigentlich kleinen Rollen. Das ist ein beachtliches Schauspielerensemble für einen Debütfilm. Wie sind Sie an die gekommen?

Unger: Uns war es weniger – haben wir nach jemandem gesucht, der bekannt ist, als nach jemandem, der in der Lage ist, diese Rolle auszufüllen. Und an die Leute gekommen sind – ich meine, genauso wie Regisseure oder Autoren auf der Suche sind nach guten Geschichten und guten Figuren, sind es Schauspieler auch, alle. Wir alle sind auf der Suche nach guten Geschichten und guten Figuren. Und die waren in diesem Drehbuch drin und haben glücklicherweise unsere Schauspieler überzeugt, mitzumachen.

von Billerbeck: Ihr Film ist ja schon mehrfach preisgekrönt für Film, für Drehbuch, für Kamera, von Hof bis zum MoMa in New York. Warum kommt er erst jetzt ins Kino?

Unger: Ja, er hat jetzt eine Festivalreise gemacht, die war sehr lang. Ich glaube, die letzten eineinhalb Jahre …

von Billerbeck: Haben Sie sich überall feiern lassen.

Unger: Na ja, feiern – es ist natürlich aufregend. Zum Beispiel haben wir ihn in Indien zeigen dürfen, auf dem Chennai-International Filmfestspiel, und das war auch sehr interessant, wie die indische Kultur auf diesen Film reagiert hat.

von Billerbeck: Wie denn?

Unger: Also, ich war selber nicht dabei, weil ich war zu dem Zeitpunkt in Afghanistan und habe ihn da gezeigt. Aber mein Produzent war da, und er kam super an, also die mussten eine Extravorstellung machen und die Inder sind total drauf abgegangen, auf diesen Film.

von Billerbeck: Das liegt wahrscheinlich daran, dass er eine universelle Geschichte erzählt. Eine von gut und böse, von Liebe und Hass, von Vertrauen und Verrat.

Unger: Und er scheut es nicht, große Emotionen darzustellen. Und das lieben die Inder ja auch, oder? Das indische Kino ist voll von großen Emotionen, das haben wir auch versucht. Es gab zum Beispiel ein, zwei Szenen, die ganz anders angekommen sind. Zum Beispiel überreicht irgendwann Mathildas Mutter ihrer Tochter ein Kondom. Und das ist alles, was sie ihr mitgeben kann auf ihrem Weg. Und während das in Deutschland eine sehr kalte, abgebrühte Situation ist, hat die Szene in Indien Applaus geerntet. Weil für sie war das Fortschritt. Die Mutter überreicht ihrer Tochter ein Kondom. Ist in Indien totaler Fortschritt, und bei uns hatte es was sehr Abgebrühtes.

Kassel: Sagt Carsten Unger. Er ist der Regisseur des Films "Bastard". Und ab heute können Sie ja ausprobieren, wie der Film auf Sie wirkt. Die Kondom-Szene und alles andere, denn ab heute läuft "Bastard" in Deutschland in den Kinos.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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