Tätern die Opfer-Perspektive nahe bringen
Ein Angriff in einer Diskothek macht aus Christoph Rickels einen Schwerbehinderten. Der heute 30-Jährige hat es sich zur Aufgabe gemacht, jugendlichen Straftätern in Hameln vor Augen zu führen, welche Folgen Gewalttaten haben können. Er konfrontiert, provoziert - und sorgt für Lacher.
"Ich möchte eigentlich, dass jeder ihn versteht. Einfach so dicht wie möglich ran! Sie hören sonst nichts."
So ziehen sie ein, in ihre Aula in der Jugendanstalt Hameln: 60 Inhaftierte in Jeans, Turnschuhen. Lässig die Posen, fragend die Blicke. Durch die vergitterten Fenster ringsum geht der Blick auf den umzäunten Hof, auf Lichtmasten, Mauern, Stacheldraht. Doch jetzt sind alle Augenpaare auf den Gast gerichtet, der vorn am Tisch sitzt.
"Von mir erstmal Moin Moin miteinander. Ihr müsst jetzt alle Moin sagen!"
Gefangene im Chor: "Moin."
"Geht doch!"
Gefangene im Chor: "Moin."
"Geht doch!"
Christoph Rickels, breitschultrig, Sportlerfigur. Der 30-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt trägt eine randlose Brille. Seine Nase ist gerichtet, sein Mund blieb schief. Rickels ist an diesem Morgen gekommen, um einen Vortrag zu halten – und mehr als das.
"Ja, verdammt! Es kann sein, dass ich jetzt zwischendurch einfach anfange zu lachen – obwohl ich nichts Witziges erzähle. Ich möchte gar nicht lachen. Ich kann nicht mehr weinen – und mein Körper hat gelernt, mit diesem Lachen alles auszudrücken an Gefühlen, was ich nicht mehr loswerden kann."
Die jungen Zuhörer lauschen konzentriert – so wird es die nächsten anderthalb Stunden sein. Rickels erzählt in einfachen Worten aus einem Leben, an das er sich kaum noch erinnern kann. Erst will er Polizist werden – ein Traum aus Kindertagen –, dann sollen es doch lieber die Feldjäger der Bundeswehr sein. Im September vor zehn Jahren will sich der Ostfriese in einer Disko in Aurich noch einmal vergnügen, bevor es gen Süden in die Kaserne geht.
"Und dann habe ich in dieser Disko 'n Mädel getroffen. Ich habe mit ihr wohl vorher im Netz ein paar Mal geschrieben, damals hieß das, glaube ich: Knuddles.de. Sie war jetzt auch dort im Club und ich habe ihr 'n Drink spendiert."
Die Frau hat einen Freund. Der lauert ihm auf, als Rickels aus der Disko kommt. Unvermittelt und mit voller Wucht schlägt der Täter zu, aus Eifersucht.
"Dieser Schlag gegen den Kopf hat zu unserem Pech – und ich sage bewusst: zu unserem Pech – meine Schläfe getroffen."
Rickels hat die Attacke nicht kommen sehen. Im Fallen dreht er sich, schlägt bewusstlos mit dem Gesicht frontal auf dem Steinboden auf.
"Dieser Aufprall mit dem Gesicht auf dem Steinboden hat mich so schwer verletzt, dass ich ein sechsfaches Hirnbluten erlitten hab' und dann für vier Monate ins Koma gefallen bin. Es bringt mir nichts, dass ich damals jeden zweiten Tag im Fitnessstudio war, dass ich boxen konnte. Hey verdammt, ich bin heute zu 80 Prozent schwerbehindert, halbseitig spastisch gelähmt, sprachbehindert, mein Leben lang kaputt."
Liegestütz-Wettkampf mit dem Publikum
Für seinen Vortrag setzt Rickels Laptop, Projektor und Lautsprecher ein. Überwachungskameras haben die Tat im Bild festgehalten. Die nur wenige Sekunden lange Sequenz erscheint in grobkörniger Auflösung auf der Leinwand hinter ihm.
"Ihr seht jetzt gleich die letzten Sekunden in meinem Leben, wo alles gut war. Wisst ihr, ich bin der Junge, der da links aus der Tür rauskommt, mit der Tasche um."
"Scheiße!"
"Genau, Scheiße! Das war nur einmal 'bamm'! Das ist jetzt zehn Jahre her. Ich kann noch immer nicht rennen und ich werde nie wieder rennen können. Auch meine Musik ist weg und wird weg bleiben."
"Scheiße!"
"Genau, Scheiße! Das war nur einmal 'bamm'! Das ist jetzt zehn Jahre her. Ich kann noch immer nicht rennen und ich werde nie wieder rennen können. Auch meine Musik ist weg und wird weg bleiben."
Fotos und Videos aus der Zeit vor der Tat zeigen ihn bevorzugt oben ohne und in Rapper-Pose, durchtrainiert, pralle Bizeps, Waschbrettbauch. In seiner Familie haben sie alle Musik gemacht, erzählt Rickels dem staunenden Publikum. Nur eine Woche vor der Tat hat er dieses Lied aufgenommen, das ihm im Rückblick wie eine böse Vorahnung erscheint.
Es gibt Gewaltopfer, die sich zurückziehen, die verstummen. Christoph Rickels sagt, seine Freunde von einst hätten sich von ihm abgewandt. Doch er will sich in die Rolle des Opfers nicht fügen. Ihm geht es um die Sichtbarkeit. Er konfrontiert, er provoziert und gern darf dabei auch gelacht werden. Etwa, wenn Rickels, der Kraftsportler von einst, die vermeintlich stärksten Jungs im Publikum zum Liegestütz-Wettkampf herausfordert.
"Ja, ich bin behindert. Aber ich will in den Köpfen zurückbleiben als jemand, den die respektieren. Ziel von meinem Engagement ist eine Bewusstseinsveränderung, die ich erreichen möchte, egal ob bei Häftlingen oder Schülern oder sonst wo. Realisieren müssen wir, was wirklich cool ist. Im Knast sage ich, dass sie nicht ihr Gesicht verlieren, wenn sie sich umdrehen, wenn sie provoziert werden. Ich weiß ja, ich habe auch schon jemanden geschlagen. Ich will nicht mit dem pädagogischen Zeigefinger wedeln, sondern ich mach ganz klar: Hey, verdammt! Ich war auch so. Und das macht es leichter, die Menschen zu erreichen."
Mehr Gewicht für Opferorientierung
Dietmar Müller arbeitet seit 37 Jahren in der Anstalt. Einer wie Müller ist so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen – doch Rickels Auftritte, zu denen er den mehrfach preisgekrönten Alltagshelden immer wieder gern nach Hameln einlädt, versetzen auch den erfahrenen Vollzugsbeamten mitunter ins Staunen:
"Mir geht es darum, was ich sehe. Ich sehe beeindruckte Gefangene. Ich sehe junge Gefangene, die gefesselt zuhören. Selbst Christoph hat mir mal gesagt, er ist beeindruckt von der Herzlichkeit in mancher Rückmeldung, die er ausgerechnet hier nicht erwartet hätte. Und das in der Summe zeigt mir: Es passiert etwas. Ich sage nicht, es wird etwas verändert, aber es wird etwas angestoßen – mehr als durch viele andere Dinge, die wir hier tun können."
Im niedersächsischen Justizvollzug bekommt die Opferorientierung immer mehr Gewicht. Beispielsweise wurde Gewaltopfern im letzten Sommer per Gesetz das Recht eingeräumt, Auskunft über den Haftverlauf des Täters einzuholen. Für zukunftsweisend halten Praktiker wie Müller auch das Konzept der so genannten "restaurative circles", also das Zusammenführen von Tätern und Opfern im Sinne der Prävention. Haftanstalten in den USA haben damit gute Erfahrungen gemacht. Auch in Hameln sei das Team stets offen für neue Anregungen, versichert Müller:
"Es gibt schon seit langer Zeit Anti-Gewalt-Trainings im Justizvollzug, natürlich auch draußen. Und die haben sich einfach über die Jahre verändert. Es gab Phasen, da war die Idee, es in besonders konfrontativer Weise zu machen, also, sehr massiv auf das Falsche im Täter, das Defizit in seinem Verhalten sehr massiv einzuwirken. Spielt immer 'ne Rolle, das auch zu benennen, das gehört dazu. Und es hat sich eher so entwickelt, dass man sagt: Halt! Wir gucken mehr auf die Ressourcen. Wir wollen, dass jemand mit Konflikten anders umgehen kann. Wir wollen deutlich machen, was hat ein Gewalttäter einem Opfer angetan? Ist ihm das bewusst? Erwächst daraus, sein eigener Wunsch, so etwas nicht mehr auslösen zu wollen?"
Am Nachmittag spricht Rickels zu einer kleineren Gruppe von Straftätern aus dem Anti-Gewalt-Training. Er sagt, dass er seinen zähen Kampf um die Selbstbehauptung inzwischen gegen Konzerne und Gerichte führt. Die Versicherung des verurteilten Täters weigert sich, ihm Schadenersatz zu zahlen.
"Es ist traurig, hart und inakzeptabel. Ich kann mich nicht als Sozialstaat schmücken und ich schaffe das nicht mal, dass die Justiz die Gesetze anwendet, die es gibt. Ja, verdammt, dass ich jetzt sogar gegen die Gerichte klage, um als Opfer irgendwann endlich mal entschädigt zu werden."
Zwei breitschultrige Männer um die 20 durchbrechen die Stille nach dem Vortrag.
"Ich bin baff, 'ne, einfach! Ich finde es einfach krass, was er für 'ne Lebenseinstellung noch hat. Und dass er immer noch am Kämpfen ist. Er hört nicht auf, er macht immer weiter, ist egal, wie viele Steine man vor seinen Weg legt!"
"Ehrlich jetzt, er ist wirklich der Stärkste, der mir unter die Augen getreten ist! Trotz seiner körperlichen Einschränkungen oder sowas. Er ist geistig auf 'nem ganz anderen Level!"
Vision einer Bewusstseinsänderung realistisch?
In der Jugendanstalt Hameln sitzen viele Gefangene wegen eines so genannten Roheitsdelikts ein. Junge Leute also, die zumindest zeitweise offen dafür waren, ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen.
Rickels Vortrag soll sie dazu animieren, die Perspektive zu wechseln, sich in die Lage des Gewaltopfers zu versetzen. Der Perspektivwechsel spielt schon länger eine Rolle in der Sozialtherapie, denn er kann helfen, die eigenen Verhaltensmuster zu hinterfragen. Im Gespräch mit Rickels räumen einige Gefangene ein, über die Folgen ihrer Straftat bislang kaum nachgedacht zu haben.
"Ich habe ja auch wirklich nie mit körperlich behinderten Menschen zu tun gehabt, oder hatte 'ne Distanz und habe nie hinterfragt, wie es jemand ging. Für mich war cool immer, den anderen Leuten zu gefallen, 'ne? Die Aufmerksamkeit von den Frauen zu haben. So was habe ich als cool empfunden. Nach der Geschichte ist man halt glücklich, 'ne, dass man überhaupt noch was hat, zum Beispiel die körperliche Gesundheit. Kein Geld der Welt kann da einem helfen, das wieder zurückzubekommen."
Wie rauskommen, aus der Gewaltspirale? Ist Rickels Vision von einer Bewusstseinsänderung überhaupt realistisch?
"Ich weiß es nicht, vielleicht ja, vielleicht nicht. Ich habe selber drei Kinder. Natürlich, ich will auch nicht, dass die mit Leuten zu tun haben, so wie ich jetzt früher war. Weil ich bin ja auch nicht umsonst hier. Ich denke mal, ein Stück weit haben wir das schon in der Hand, wie wir das Umfeld von den Leuten und sonstiges bestimmen können, wie die Welt werden kann!"
Auf dem Gang hinaus in die Freiheit öffnet Dietmar Müller eine schwere Eisentür nach der anderen. Christoph Rickels humpelt hinterdrein. Er trägt am Ende eines langen Tages ein müdes Lächeln im Gesicht.
"Ich gehe immer wieder an meine Grenzen. Ich muss zwischendurch pausieren, weil ich nicht mehr kann. Aber für mich ist es auch eine Therapie. Ich sage: Verdammt, ich bin jetzt schwerbehindert, ich bin sozial ausgegrenzt und ich bin anders. Ich gebe mir selber damit das Gefühl, dass ich doch noch was leisten kann, und dass ich doch noch ein Stück weit gebraucht werde."