Gewalt spielt "eine absolut geringe Rolle"

Michael Gabriel im Gespräch mit Ulrike Timm |
Beim DFB-Pokalspiel im Oktober in Dortmund wurde die Polizei von Dresdner Fans angegriffen. Man dürfe die Vorkommnisse nicht überbewerten, die deutsche Fußballfan-Szene würde eigentlich versuchen, die Gewalt aus den Stadien zu halten, meint Michael Gabriel von der Deutschen Sportjugend.
Ulrike Timm: Viele junge Männer, viel Herzblut, viel Adrenalin - da kann schon mal einer über die Stränge schlagen. Hoffen wir, dass das Länderspiel in Deutschland gegen die Ukraine heute Abend ein fröhliches wird, denn was in letzter Zeit bei Fußballspielen passiert, beunruhigt doch ziemlich. Kürzlich beim Pokalspiel in Dortmund etwa griffen tausende Dresdner Fans die Polizei an, in Frankfurt war es ähnlich.

Wenn in den 80ern und 90ern die Hooligans in aller Munde waren, sind es jetzt die Ultras. Wer macht sich da eigentlich Luft, wofür und wogegen, und auf wessen Kosten? Dazu Fragen an Michael Gabriel. Er leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte bei der Deutschen Sportjugend. Guten Tag, Herr Gabriel!

Michael Gabriel: Guten Tag!

Timm: Schlägereien wie neulich in Dortmund, die kann man wirklich nicht mehr mit jugendlichem Ungestüm abtun. Sind die Ultras die Hooligans von heute?

Gabriel: Beim besten Willen nicht. Man könnte fast sogar sagen, dass die Ultras die Hooligans - und ich meine das jetzt im positiven Sinne - abgelöst haben. Also die Ultras sind so Mitte der 90er-Jahre in den deutschen Stadien, haben die Fuß gefasst. Junge deutsche Fans haben sich nach Italien gewandt. Die deutsche Fankultur, die vorher, in den 80er-Jahren sehr stark aus England beeinflusst war, dort aber durch die Versitzplatzung, die Stadien ja sehr diszipliniert und langweilig aus der Perspektive von jungen Menschen geworden sind, und von daher haben die jungen Leute sich dann nach Italien gewandt und haben gesehen, dort gibt es eine sehr bunte, eine wilde natürlich auch und große Fankultur, und die jungen Leute haben gedacht, na, das ist das, was uns interessiert, das ist das, was wir hier in Deutschland, wo die Stimmung schlechter geworden ist, gerne hätten, und haben hier angefangen, die Ultraszenen aufzubauen.

Die italienischen Ultras sind ja sehr stark auch behaftet mit Gewalt und mit Politisierung meistens ins Rechte rein. Die deutschen Ultras haben versucht, genau das hier draußen zu halten, also dass sie hier die Stimmung verbessern wollten in den Stadien, dass sie die Kurven aus ihrer Perspektive vereinen wollten, aber dass sie versuchen wollten, Gewalt hier nicht aufkommen zu lassen und auch keine Politisierung. Und das ist ihnen in den Anfangsjahren sehr, sehr gut gelungen.

Timm: Das ist das Ziel gewesen, aber es bestürzt ja ziemlich, wenn man nun als Laie da drauf guckt. Die haben fröhlich angefangen mit Fan-Songs und Choreografien und so weiter. Aber was da eben kürzlich in Dortmund passierte, das war ja keine Handvoll Durchgeknallter mehr, die gegen die Polizei losgingen, das waren Tausende, das war eine inoffizielle Randale-Meisterschaft. Wie gewaltbereit ist denn diese Szene und ist sie gekippt?

Gabriel: Also ich glaube, oder ich bin sicher, dass das nicht Tausende waren, die da vorgegangen sind, sondern auch allen Berichten von meinen Kollegen aus Dresden zufolge waren, das Ultras, klar, aber es waren beim besten Willen keine Tausende, das ist ...

Timm: Ich bezog mich auf Berichte der Polizei.

Gabriel: ... genau, auch in der Polizei ... also es ging da um einen Marsch, der da organisiert war von Leuten, die angereist waren nach Dortmund, und die dann gemeinsam zum Stadion gelaufen sind, das waren 4.000, und die waren natürlich umstellt von der Polizei, und das war eine aufgeheizte Situation, und von daher kann der Eindruck entstehen, dass man da so viele gegen sich hat.

Aber die Leute, die da weg wollten oder weg gewollt hätten, die wären gar nicht weggekommen. Und von daher ist, glaube ich, da an dem Spieltag ganz, ganz viel schiefgelaufen. Worauf es mir ankommt, ist der Eindruck, dass Gewalt bei den Ultras eine zentrale Rolle spielen würde, der stimmt nicht. Der stimmt beim besten Willen nicht. Wir haben jedes Wochenende in den Stadien das Gegenteil - etwas, was leider aber nicht so sehr berichtet wird. Wenn wir nämlich bei den vielen Spielen, die wir haben, tolle Choreografien haben, eine tolle Anfeuerung für die Mannschaften, und dann spielt Gewalt tatsächlich nur eine absolut geringe Rolle.

Timm: Habe ich noch nicht - entschuldigen Sie - habe ich noch nicht verstanden. Das klingt, als würden unter ein und derselben Flagge auf der einen Seite fröhliche Leute unterwegs sein, die zusammen singen und für bessere Stimmung sorgen, und dann unter der gleichen Flagge stumpfe Schläger. Denn was in Dortmund passierte und auch in Frankfurt - man mag andere Dinge nicht genügend berichten, aber es ist nun mal schlicht und einfach passiert.

Gabriel: Ja, es ist eine sehr heterogene Gruppe. Wir haben - um es vielleicht mal ganz praktisch zu beschreiben - wir haben in Nürnberg jetzt mal eine Gruppe, die jetzt nicht so im Fokus steht, also negativ im Fokus steht, dort ordnen sich über 1.000 junge Menschen den Ultras zu. Und die Ultras bedeuten für die jungen Menschen, die haben eine wahnsinnig große, auch soziale Bedeutung. Die finden dort Betätigungsfelder, wo sie ihre Talente, die womöglich in der Schule oder an der Uni oder auch in den Familien nicht so sehr gewürdigt werden, wo sie die Talente einbringen können. Das Einzige, was sie tatsächlich dort geben müssen, ist ein ganz, ganz großes Engagement, und die müssen den richtigen Verein unterstützen, quasi die richtigen Farben tragen.

Dafür bekommen sie aus der Gruppe eine Wertschätzung, eine Anerkennung, etwas, was offensichtlich darauf verweist, dass sie das gesellschaftlich in anderen Bereichen nicht so sehr bekommen. Und von diesen 1.000 Leuten gibt es natürlich auch ein paar, für die - ich sage mal - Gewalt eine Option darstellt. Die Ultras, die sich natürlich auch über die Abgrenzung zu anderen Gruppen definieren - und bei Jugendgruppen, bei Jugendsubkulturen finden wir das ja auch in anderen Bereichen -, und auch in Abgrenzung zu, sagen wir, zum gesellschaftlichen Mainstream definieren. Und von daher ist so eine Reibung mit der Polizei, die vielerorts sehr rituell passiert und die auch immer in gewissen Regeln passiert und nicht überbordend wird, ist natürlich aus der Perspektive von jungen Männern etwas, was natürlich auch so einen gewissen Adrenalinschub - es ist spannend - und deswegen auch eine Attraktivität hat.

Timm: Nun ist Reibung mit der Polizei ein sehr vornehmer Ausdruck für sich prügeln.

Gabriel: Ja, das sich prügeln passiert ja nicht so oft. Und das passiert nicht so oft, weil es in den Gruppen funktionierende Selbstreinigungsmechanismen gibt. In der Regel ist es tatsächlich so, dass von innen herausbestimmte Grenzen nicht überschritten werden. Und das gelingt leichter, das gelingt tatsächlich leichter, also diese Selbstregulierung, wenn von außen auch die Möglichkeit gegeben wird, also wenn eine Gruppe nicht zu sehr unter Druck gesetzt wird, sondern wenn innen drin Raum geschaffen wird für die verantwortungsvollen Leute in den Szenen, die dann, sagen wir mal, die Hitzköpfe zurückholen können, vom Zaun holen können, oder aus der ersten Reihe wegholen können.

Umso größer der Druck von draußen ist - und jetzt ganz bildlich gesprochen -, umso enger die Polizei dran ist, umso stärker die Visiere unten sind und umso eher der Schlagstock-Knüppel gezückt ist, umso eher wird eine Gruppe innen drin zusammenrücken und würd sich gegen den, ich sage mal in Anführungszeichen gesprochenen, "Feind" draußen wehren wollen. Und von daher haben wir ja so viele positive Erfahrungen mit veränderten Polizeieinsatzstrategien, wie es zum Beispiel in Hannover der Fall ist, wo die Polizei genau aus diesem Mechanismus ausbrechen wollte, hat die Szene, hat die Jugendkultur Ultras sehr gut analysiert, hat verstanden, dass es da sehr viel auch um ritualisierten Konflikt geht, und hat die Polizeieinsatzstrategie zurückgefahren auf eine sehr zurückhaltende Einsatzstrategie, sehr stark auf Kommunikation gesetzt, ist fast nicht sichtbar und übergibt damit die Verantwortung für eine Situation wieder zurück in die jugendliche Szene, und das funktioniert gut.

Wir haben in Hannover wesentlich weniger Vorfälle - also negative Vorfälle, auch was Gewalt angeht -, und wir haben in Hannover auch, und das ist für die Polizei sicher interessant, auch wesentlich weniger eingesetzte Polizeibeamte.

Timm: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Michael Gabriel, dem Fachmann für Fankultur im Fußball. Nun arbeiten Sie ja viel mit Fans, und Fußball hat was mit Leidenschaft zu tun, und haben mir eben auch versucht zu erklären, wie man das auseinanderdröselt, die Gewaltbereiten, die Fröhlichen, und die Polizei soll sich möglichst zurückhalten. Nun fordert DFB-Präsident Theo Zwanziger inzwischen schon Stadionverbote für Ultras. Ich nehme an, Sie halten nichts davon, frage mich aber vor allem: Wie sollte man das überhaupt durchsetzen?

Gabriel: Na ja, also Stadionverbote gibt es schon seit ganz, ganz vielen Jahren. Seit 20 Jahren gibt es Stadionverbote, bundesweite Stadionverbote, und was wir sehen, ist, dass für die Gruppen, die Gewalt tatsächlich suchen, das hindert die letztendlich nicht daran.

Es ist eher so, dass die Art und Weise, wie die Stadionverbote vergeben worden sind, meistens auf Empfehlung der Polizei und ohne zum einen die Betroffenen anzuhören - es gibt bei Vorfällen ja immer zwei Versionen, das ist die eine der Sicherheitsorgane, also von Ordnungsdiensten und, oder Polizei, und auf der anderen Seite die Version von den jungen Fußballfans -, es muss nicht immer stimmen, was die Polizei oder was der Ordnungsdienst vorgeworfen hat. Aber da Fußballfans nie gefragt worden sind, gab es auch eine Reihe von Stadionverboten, die als sehr ungerecht empfunden worden sind, und das hat dazu geführt, dass dieses Mittel nicht akzeptiert wurde, sondern eher noch als Argument verwendet wurde, die da drüben - also die Polizei - oder die oben, die Vereine, die gehen ungerecht mit uns um, und hat quasi sogar noch einer negativen Entwicklung vorgeschoben.

Und von daher plädieren wir immer, wenn es um Sanktionen geht, dass die zielgerichtet sein müssen, dass sie Friedliche und Unbeteiligte verschonen müssen, und dass die so kommuniziert sein müssen, dass sie auch verstanden werden und akzeptiert werden. Wir haben es hier mit vielen jungen Menschen zu tun, und da bin ich zu sehr Pädagoge, als dass ich - ich sage mal - ein Gießkannenprinzip gutheißen könnte.

Timm: Michael Gabriel, er leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte bei der Deutschen Sportjugend und meint, bei Ultras gibt es mächtig sone und solche. Herr Gabriel, ich danke Ihnen ganz herzlich fürs Gespräch!

Gabriel: Bitte schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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