Gewalt und Grausamkeit in Kunst und Leben

Von Rolf Schneider · 07.04.2007
Neulich habe ich mich einem etwas sonderbaren Experiment unterzogen. Einen gesamten Wochentag habe ich mich, Programmzeitschrift in der einen Hand, Fernbedienung in der anderen, durch alle möglichen Fernsehsender gezappt, vom morgens sieben bis Mitternacht. Ich wählte Stationen, die frei empfänglich sind.
Ich war auf der Jagd nach dem Genre Kriminalfilm. Es gibt ihn, ausgenommen die Nachrichtenkanäle, auf sämtlichen Stationen und dies täglich, manchmal mehrfach. Ich kam auf insgesamt 21 Angebote, von unterschiedlicher Länge, unterschiedlicher Machart und unterschiedlichem Kunstanspruch. Die Gesamtzahl der in den Spielen gezeigten Mordopfer betrug 38.

Nicht ganz die Hälfte der gesendeten Filme und mithin auch der in ihnen enthaltenen Leichen war von ausländischer, vorwiegend angelsächsischer Herkunft. Die Gesamtzahl der "deutschen Leichen" belief sich, habe ich richtig gezählt, auf 23. Ich darf davon ausgehen, dass sich ähnliche Mengen Tag um Tag herstellen. Auf das Jahr hochgerechnet, produzieren die in Deutschland stationierten Fernsehsender um die c. a. 6000 Mordopfer. Die tatsächliche Zahl der Ermordeten in unserem Land beträgt jährliche 800, bei übrigens sinkender Tendenz. Auf den Tag umgelegt stehen 23 TV-Mordleichen zwei bis drei Opfern in der Realität gegenüber.

Aus alledem geht hervor, dass die im Fernsehen gezeigten Milieus mit denen der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, vielmehr zeigen sie sich als aufs Monströseste übertrieben. Um die Gefühle Schrecken, Entsetzen und Lustangst zu erzeugen, wird eine Lebenswelt vorgeführt, die es so nicht gibt.
Zweierlei ist hier zu bedenken:

Kein Mensch wird, so wie ich, von einem Fernsehkrimi zum anderen eilen und das dann noch Tag um Tag. Oder vielleicht doch? Vorstellbar ist ein ältlicher Hartz-IV-Empänger, der, alleine lebend und Bierflasche in der Hand, vor der Glotze hockt und sich einen Krimi nach dem anderen herein zieht. Auf 20, 25 Leichen käme er dabei mühelos. Nun wird er, steht zu hoffen, die im Spiel gezeigten Toten nicht für wirkliche nehmen. Er wird wissen, dass dies alles inszeniert und simuliert ist. Selbst aber wenn er das nicht weiß oder wissen will, was folgt daraus?

Unversehens befinden wir uns auf einem Terrain, das die jugendlichen Amokläufer an deutschen Schulen besetzten. Die hielten es durchweg mit Killerspielen am heimischen Monitor. Der Unterschied zu den TV-Killern besteht hier darin, dass der Spieler selbst initiativ werden und bestimmen kann, während dem TV-Konsumenten die Leichen passiv und unaufgefordert widerfahren.

Halten wir uns nicht mit der Kunstfertigkeit der gesehenen Produktionen auf. Sie ist überwiegend nicht gut. Das klassische Whodunit aus guter alter Agatha-Christie-Tradition ereignet sich immer seltener. Die Plots sind einfallslos gebastelt und lieblos abgedreht. Die extensive Vorführung von Totschlag und Sterben überwiegt. Dass dies alles zur Verrohung von Teilen des Publikums beitragen könne, des jugendlichen zumal, wird immer wieder behauptet, doch fehlen dafür die unwiderleglichen Belege.

Das alles übergreifende Thema lautet: Gewalt und Grausamkeit in Kunst und Leben. Was die Malerei und die Literatur anlangt, so geht es blutrünstig zu seit den Anfängen. Töten und Sterben sind häufigste Motive und dies keinesfalls bloß bei trivialen Produkten. Man bedenke die vielen Toten auf den Brettern des elisabethanischen Theaters, auch und gerade bei Shakespeare, so bei "Titus Andronicus", die anderen dort vorgeführten Sadismen nicht gerechnet. Das damalige Publikum verlangte danach. Es wollte auf dem Theater sehen, was es auch sonst erlebte, die Rosenkriege waren gerade erst vorüber, und noch unter der jungfräulichen Königin setzten sich Hinrichtungen und Meuchelmorde immer fort.

Heute ist das anders, jedenfalls bei uns. Wir erleben die längste Friedenszeit der jüngeren deutschen Geschichte. Gesetz und Ordnung sorgen für friedliche Umstände, Mord und Totschlag erfahren wir fast nur mehr virtuell. Wenn unsere TV-Sender gleichwohl viele Krimis ausstrahlen, dann deshalb, weil dieselben Quote bringen, die Leute also danach verlangen. Aber wieso verlangen sie danach?

Es mag sein, dass sie solcherart ihre Aggressionen bewältigen, die Sache also der Triebabfuhr dient. Dann hätte sie sozusagen einen therapeutischen Effekt. Es mag auch sein, dass es sich um eine konsumtive Routine handelt, die irgendwann ausläuft. Ich selbst fühlte während meines ausführlichen TV-Krimi-Tags bald nur noch Überdruss und Langeweile. Auch die trivialen Talkshows und Schlagerparaden sind plötzlich verschwunden, da die Leute sie nicht mehr sehen mochten. So mag geschehen, dass auch die Krimis sich auf dem Rückzug begeben, irgendwann, um durch lauter Heile-Welt-Filme ersetzt zu werden. Wie wir das dann soziologisch bewerten wollen, will ich mir hier nicht vorstellen.


Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.