Gewaltfreie Massenproteste

Das algerische Volk verdient den Friedensnobelpreis

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Demonstranten während des 41. Freitagsprotestes "Hirak" gegen die politische Elite, aufgenommen am 29. November 2019
Die angespannte Lage in Algerien fordert unsere Werte und Glaubwürdigkeit heraus, meint Journalist Kim Müller. © imago images/Hans Lucas
Ein Plädoyer von Kim Müller · 09.12.2019
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Während in Hong Kong, Chile und Iran die Gewalt eskaliert, demonstrieren Millionen von Algeriern seit zehn Monaten friedlich. Doch die Situation spitzt sich zu. Umso mehr fehlt die moralische Unterstützung aus dem Westen, kritisiert Journalist Kim Müller.
Der Friedensnobelpreis an das algerische Volk! Kaum etwas entspräche 2019 mehr dem Geist von Alfred Nobel, mutige und engagierte Menschen für Dialog und Ausgleich, Frieden und Menschenrechte auszuzeichnen.
Das hat die algerische Demokratiebewegung als Ganzes verdient: Seit dem 22. Februar protestieren Woche für Woche Millionen, jung und alt, in Algier und landesweit gegen das algerische Regime. Dessen siecher, im Rollstuhl sitzender Ex-Präsident Bouteflika hatte im Frühjahr versucht mit einem fünften Mandat, Korruption und Betrug gesellschaftsfähig zu machen. Der schnell aufkeimende Widerstand der Massen zwang ihn zum Rückzug.
Im Dezember nun dauern die Straßenproteste im zehnten Monat an. Statt der Wahl eines neuen Präsidenten am 12. Dezember wollen die Menschen, dass Militär und alte Eliten abtreten und Korruption von der Justiz verfolgt wird. Sie fordern eine neue Verfassung und eine demokratische Republik. Ein weiter Weg. Ein gefährlicher Weg. Denn nach Festnahmen und zunehmendem Einschreiten von Sicherheitskräften zuletzt wächst die Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße.

Zivil, friedlich und diszipliniert

"Keine Gewalt!", ist der feste Konsens unter den Demonstranten, ganz in der Tradition Mahatma Gandhis. Leider nehmen unsere Medien kaum Notiz vom Hirak, dem Aufstand der Massen in Algerien. So geht das Besondere verloren: Anders als in Hong Kong, Chile, Bolivien oder in Venezuela liefert Algerien keine Bilder der Gewalt. Obwohl viele Algerier mächtig Wut im Bauch haben.
Ausgerechnet Studenten und die junge Generation führen den Protest an. In Hong Kong, Chile und anderswo beruft sich die Jugend auf Gegenwehr und ein ungeschriebenes Notrecht, zur Not zur Gewalt. Sie fühlen sich um ihre Zukunft beraubt und betrogen. Die junge Generation in Algerien aber, sofern sie nicht schon ausgewandert ist, hält still. Bleibt zivil, friedlich und diszipliniert.
In der Kölner Silvesternacht 2015 sollen es vor allem sogenannte Nafris, Nordafrikaner gewesen sein, die die Menschen in Schrecken versetzten. Jetzt gibt Algerien, das größte Land Nordafrikas, unerwartet, ein positives Bild der Nafris ab. Ein arabischer Frühling in neuem Gewand.

Der Westen hält sich bedeckt

Warum aber bleiben die Massen ausgerechnet in Algerien friedfertig? Weltweit staunen Wissenschaftler. Nicht einmal die Nachfolger jener religiösen Fundamentalisten, die in den 90er-Jahren das Land mit Terror überzogen, bekommen jetzt eine Chance. Es sind wenige. Und die Straße schickt sie nach Hause.
Deutschland und der Westen halten sich derweil bedeckt. Wie im Fall Iran spielen wirtschaftliche Gründe eine Rolle. Deutschland lässt in Algerien Panzer bauen. Einmischung in innere Angelegenheiten wünschen sich die Algerier nicht. Im Gegenteil. Aber mehr moralische Unterstützung von Politik und Menschenrechtlern – das darf, ja das müsste möglich sein.
Kann man Demokratie in Hongkong und Santiago fordern und in Algier wegschauen? Algerien fordert unsere Werte und Glaubwürdigkeit heraus. Das südliche Mittelmeer und Nordafrika sind Europas Hinterhof. Hier entscheidet sich die Migrationsfrage. Wenn Algerien ein sicheres Herkunftsland sein soll, braucht es Reformen.
Gandhis Erbe ist keine Chimäre. Und einsichtige Militärs hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Yitzhak Rabin etwa, auch er Friedensnobelpreisträger. Das Wort Demokratie kommt von Demos, dem Volk. Was liegt näher, als dem algerischen Volk die Ehre zu erweisen – und sei es "nur" mit einem Friedensnobelpreis. Ein Wegschauen darf es nicht geben. Gerade in dieser Adventszeit.

Kim Müller ist Journalist und Autor.

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