"Wir brauchen in Deutschland einen Opferfonds"
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Für sein Gewalt-Präventionsprojekt „First Togetherness“ erhielt Christoph Rickels das Bundesverdienstkreuz. Vor 14 Jahren katapultierte ihn ein Faustschlag aus seinem Leben. Seitdem kämpft er um die Anerkennung seiner Rechte als Opfer.
Wenige Tage bevor sich Christoph Rickels Leben in ein Davor und Danach teilte, nahm der leidenschaftliche Musiker noch ein Lied auf. "Ein Mensch, wie er einst mal war, ist ab dieser Sekunde jetzt nicht mehr da", heißt es in einer Zeile. Heute klingt es wie eine Vorahnung.
Denn im September 2007 wird Christoph Rickels in einer Diskothek niedergeschlagen. Der Moment veränderte alles. Was an diesem Abend passierte, Christoph Rickels kann sich nicht erinnern. Er weiß es nur durch Erzählungen und durch die Bilder aus der Überwachungskamera.
Vier Monate im Koma
"Ich habe in dem Club ein Mädchen getroffen, vielleicht haben wir geflirtet. Sie hatte einen Freund, der sehr eifersüchtig war. Er hat mich beim Verlassen der Diskothek niedergeschlagen. Und aufgrund des Sturzes bin ich so schwer verletzt worden, dass ich heute schwerbehindert bin", erzählt er.
Vier Monate lag Christoph Rickels im Koma. Ärzte und Pflegekräfte spielten in dieser Zeit immer wieder sein Lied. Auch wenn er daran keine Erinnerung hat, es hat ihm geholfen, davon ist Christoph Rickels überzeugt.
"Ich habe nix wahrgenommen, aber die Musik habe ich wahrgenommen", sagt er. "Die Ärzte haben auch gesagt, wenn mein Lied angespielt wurde, dann ging mein Puls runter. Ich weiß, dass ich mit diesem Lied dem ganzen Krankenhaus auf den Sack gegangen bin. Die im Klinikum, die kannten das alle auswendig."
Bis heute hat Christoph Rickels vor allem mit einer halbseitigen spastischen Lähmung zu kämpfen, auch mit einem angeschlagenen Sprachnerv. Der 34-Jährige gilt zu 80 Prozent als schwerbehindert.
"Der Körper lässt sich schwer bewegen"
"Das ist eine große Einschränkung. Man versteht unter Lähmung immer, dass nichts mehr funktioniert. Es ist ja eine sogenannte spastische Lähmung", erklärt er. "Das heißt, dass die Muskulatur sich viel zu schnell anspannt. Und in dem angespannten Zustand lässt sich der Körper schwerer bewegen. Das heißt, alle Bewegungen sind deutlich langsamer und verhindern Sachen wie Bälle fangen oder rennen."
Christoph Rickels spricht heute von einem "Schicksalsschlag", so lautet auch der Titel seines Buches. Sein Leben, 14 Jahre danach, beschreibt er als tägliche Auseinandersetzung, auch mit sich selbst.
Was ihn antreibt und motiviert, sind heute vor allem zwei Dinge: die Klage gegen die Versicherung, ganz besonders aber seine Initiative First Togetherness.
Kampf um 200.000 Euro Schmerzensgeld
Der Täter wurde lediglich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, noch immer kämpft Christoph Rickels um 200.000 Euro Schmerzensgeld. Die Summe hatte ihm das Gericht zugesprochen, die gegnerische Versicherung will jedoch bis heute nicht zahlen, Ende offen.
Monatlich über die Runden zu kommen, das war für Christoph Rickels über Jahre eine große Herausforderung. Durch sein Engagement mit First Togetherness lernte er Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius kennen. Der setzte sich dafür ein, dass ihm der sogenannte Berufsschadensausgleich gezahlt wird.
"Wir müssen ein neues Cool bekommen"
"Ich habe jetzt schon über ein Drittel meines Lebens vor Gericht verbracht", erzählt Christoph Rickels. "Hallo Deutschland, das geht nicht! Opferschutz, wo ist der? Ich bekomme jetzt das Geld, was ich sonst verdient hätte, vom Staat. Aber hätte ich das nicht vom Innenminister erfahren, dass es das gibt, ich hätte es nie bekommen. Normalerweise bräuchten wir in Deutschland, und dafür kämpfe ich, einen Fonds. Wir brauchen einen Fonds, wo die Opfer erst mal entschädigt werden."
Drei Jahre nach dem "Schicksalsschlag" gründete Christoph Rickels seine Initiative für Gewaltprävention. Für sein Engagement wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2019 sogar mit dem Bundesverdienstkreuz. Regelmäßig besucht der 34-Jährige Schulen und Haftanstalten. Hier erzählt er von seiner Geschichte. Davon, was Gewalt anrichten kann.
Ob bei den Kindern oder im Knast, stets betont der Präventionsarbeiter, er hätte auch zum Täter werden können: "Früher wollte ich cool sein. Ich wollte Anerkennung. Wenn mir jemand blöd kam, hat er eine darauf bekommen, weil das in dem Moment cool für mich war. Das ist genau der Punkt, den ich heute verändern will. Wir müssen ein neues Cool bekommen."
(ful)