Berliner Buchhandlung Kisch & Co kämpft ums Überleben
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Der Buchladen ist gekündigt, aber nicht geräumt: In der Berliner Oranienstraße kämpft die Nachbarschaft um den Erhalt der kleinen Geschäfte im Kiez. Herausgefordert wird eine Milliardärsfamilie, die sich hinter einem anonymen Fonds versteckt.
Berlin-Kreuzberg, im März 2020. Kurz vor dem ersten Corona-Lockdown. Im "SO 36", einem legendären Club in der Oranienstraße, kneift Thorsten Willenbrock die Augen zusammen. Blinzelt ins Scheinwerferlicht. Der Buchhändler steht vor der Bühne, auf der sonst Bands auftreten. Vor ihm sitzen gut 200 Menschen auf Bierbänken.
Die sogenannte Kiezversammlung tagt zum zehnten Mal. Uschi und Felix vom "Bündnis gegen Zwangsräumung" moderieren: "Wir haben eine unglaubliche Organisierungswelle von Häusern gehabt, und haben die immer noch. Menschen, die sich wehren gegen den Verkauf, gegen Organisierung, gegen Mieterhöhung und, und, und. Es ist großartig!"
An den Wänden hängen Transparente und Plakate: "Deutsche Wohnen & Co enteignen", "Zwangsräumungen verhindern". Flyer und Handzettel liegen am Rand. Welches Haus steht zum Verkauf? Wo droht die Zwangsräumung?
Es geht nicht nur um die Wohnungen von Mietern, es geht auch um das Gewerbe, um die kleinen Läden, die die Straße so liebenswert machen. Telefonnummern von Hausbesitzern und Hausverwaltungen werden herumgereicht. Uschi fährt fort: "Dann kommen wir wie zurück in den Kiez. In die Oranienstr. 25. "Kisch & Co", ein Buchladen, den es hoffentlich noch lange geben wird."
Sagenhafte Wertsteigerung der Immobilien
Jetzt ist Thorsten Willenbrock dran. Er tritt zwei Schritte nach vorne. Fasst das Mikro fester. Er ist nervös, wie immer, wenn er öffentlich sprechen soll. Fast alle kennen ihn hier, genauso wie seinen Buchladen "Kisch & Co". Der liegt gerade mal 200 Meter entfernt, in einem alten Gewerbehaus mit Hinterhöfen. Vorne der Buchladen, dahinter die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, obendrüber ein Architektenbüro, dann noch ein Museum und ein Yogastudio.
Vor kurzem wurde das Haus verkauft. Für einen Rekordpreis: Mehr als 35 Millionen Euro konnte der Milliardär Nikolas Berggruen dafür kassieren. 2008 hatte er die Immobilie für weniger als acht Millionen Euro gekauft – eine Wertsteigerung von sagenhaften 27 Millionen in zwölf Jahren. Aber an wen hat er verkauft?
Willenbrock weiß mehr: "Wir konnten eine ganze Zeit lang nicht rausfinden, wer der neue Eigentümer ist, erst Mitte Januar haben wir erfahren, das gehört einem Fonds aus Luxemburg."
Ein anonymer Fonds als neuer Besitzer
Der Fonds heißt "Immo Properties V". Kopfschütteln auf den Bänken. Immer häufiger tauchen Immobilienfonds als Käufer in Berlin-Kreuzberg auf, oft mit Sitz in Luxemburg oder in Liechtenstein. Anonymes Kapital auf der Suche nach attraktiven Anlagen. Alte Mieter stören da oft nur. Der Mietvertrag von Willenbrocks Buchhandlung läuft damals im März nur noch wenige Wochen bis 31. Mai 2020. Und die neuen Besitzer, die sich hinter dem Fonds verstecken und deren Namen niemand kennt, wollen ihn nicht verlängern.
"Das ist die Situation im Moment. Und wir hoffen im Moment auf Euch! Vor drei Jahren hat es geklappt, mit eurer großen Unterstützung. Und darum möchte ich Euch bitten."
Vor drei Jahren gehörte das Haus noch zum Immobilien-Imperium des Milliardärs Nicolas Berggruen. Auch der wollte den Buchladen loswerden. Aber als mehr als 3000 Demonstranten durch die Straße zogen, gab der Vermieter nach. Willenbrock bekam einen Drei-Jahres-Vertrag bis zum 31. Mai 2020. Die Zeit ist abgelaufen und das Gebäude bereits an den nächsten verkauft. An einen ominösen Fonds.
Während Willenbrock um seinen Mietvertrag kämpft, macht sich Christoph Trautvetter auf die Suche nach dem wahren neuen Hausbesitzer. Wer steckt hinter der Fonds-Finanzkonstruktion? Der schlanke Mittvierziger ist auf Datenrecherchen spezialisiert, er hat lange Zeit für ein internationales Wirtschaftsprüfungsunternehmen gearbeitet, Abteilung "Forensic Investigations".
Er sagt: "Die Forensic Investigations ist eine Sonderabteilung bei KPMG, das ist ja normal eine große Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft. Und die haben eine kleine Abteilung, die sich mit Wirtschaftskriminalität befasst. Anonyme Daten realen Personen zuordnen, Firmenkonstruktionen entschlüsseln, Querverbindungen herstellen, Indizien auswerten - was Trautvetter bei der großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gelernt hat, stellt er seit gut zwei Jahren als Berater in den Dienst der Allgemeinheit.
Er arbeitet für das Netzwerk "Steuergerechtigkeit", und recherchiert – im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung – die Besitzverhältnisse auf dem Berliner Immobilienmarkt. "Daraus ist dieses Projekt entstanden ‚Wem gehört Berlin‘. Und weil es dieses Projekt gab und ich diesen Ruf hatte, sind eben auch über mehrere Kontaktpersonen die Leute von ‚Kisch & Co‘ auf mich zugekommen und haben gefragt, können Sie uns nicht helfen."
Liechtenstein, Luxemburg und die Schweiz
Trautvetter greift zu seinem alten, abgenutzten Laptop, tippt die Adresse des Luxemburger Unternehmensregisters ein. Seit 2019 verpflichtet eine EU-Richtlinie alle Mitgliedsstaaten ihre Unternehmen zu registrieren und die Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Trautvetter gibt "Victoria Immo Properties" in die Suchmaske ein. "Da findet man hier in Luxemburg eine ganze Menge von Victoria Immos, so rund 10 Treffer", sagt er. "Darüber angesiedelt die Victoria Immo Holdings, die diese ganzen Immobiliengesellschaften zusammenhält und darüber noch einmal die Victoria IMMO SCSP, dieses Investmentvehikel, hinter dem sich dann die Investoren und Eigentümer verstecken."
Eine Schachtelkonstruktion. Jede Holding steht für ein Gebäude, die Nr. V (römisch V) für die Immobilie in der Oranienstraße. "Egal welchen dieser zehn Einträge man anklickt, man kommt immer direkt zu den Eigentümern, die ganz am Ende stehen, das sind in diesem Fall drei Anwälte." Als "wirtschaftliche Eigentümer", sind Markus Summer, Johannes Michael Burger, und Geoffrey Richards aufgeführt. Allerdings: Hinter jedem Namen steht "Directeur de fiducie." Das bedeutet Treuhänder. Sie haben ihren Sitz im Steuerparadies Liechtenstein bzw. in der Schweiz
"Und in Liechtenstein, wo die Anwälte dann dieses Vermögen verwalten im Auftrag irgendeiner Stiftung oder einer Anstalt, fehlt bisher die Transparenz, wer jetzt die Begünstigten dieser Stiftung sind", sagt Trautvetter.
Trickreiche Recherche identifiziert Besitzer
Ein Luxemburger Fond mit Liechtensteiner Treuhändern – da endet die offizielle Transparenz der staatlichen Register. Trautvetter recherchiert weiter, sucht nach anderen Mandanten des Anwalt-Trios. Er findet sie in Dänemark. Bei "Ingleby Farms & Forest", einem Unternehmen, das Agrar- und Waldflächen in der ganzen Welt besitzt.
Auch in Dänemark gibt es ein Transparenzregister. Gut für Trautvetter: "Dann kann man mit wenigen Klicks die ‚Ingleby Farms und Forest‘ anklicken und findet dann auch die rechtlichen und final Berechtigten, da finden sich als rechtliche Anteilseigener die drei Anwälte und als finale Anteilseigner einmal Henry Rausing und Anna Lisbet Rausing."
Die Rausing-Familie, das sind die Erben des schwedischen Verpackungsunternehmers und Tetra-Pak-Gründers Ruben Rausing. Sie leben in London, ihr Vermögen wird auf mehrere Milliarden Euro geschätzt. Das Geld wird über ein kaum überschaubares Firmengeflecht investiert.
"Die Rausings sind historisch gesehen, ganz bewusst aus Schweden geflohen, um dort die Erbschaftssteuer zu vermeiden, nach Großbritannien", so Trautvetter. "Und haben schon bei diesem Umzug ihr ganzes Vermögen in der Schweiz angesiedelt. Da spielt der Wunsch nach Anonymität eine große Rolle - vor den Steuerbehörden, aber auch vor der Gesellschaft."
Es geht längst nicht mehr nur um den Buchladen
Im Buchladen greift Willenbrock zum Tabakbeutel, nickt seiner Kollegin Ulla kurz zu, quetscht sich zwischen Regal, Kisten und Kassentresen hindurch. Er hat Existenzängste: "Ich arbeite seit über 22 Jahren in der Buchhandlung in der Oranienstraße. Und davor habe ich schon viereinhalb Jahre im Buchhandel gearbeitet." Dass er jetzt weg soll, einfach so, das sieht er nicht ein. Der 55-Jährige geht nach draußen, zündet sich eine Zigarette an und stellt sich unter das Schild "Kisch & Co".
Willenbrock blickt die Straße entlang. Mehr als 90 kleine Geschäfte gibt es hier: Einen Lebensmittelladen, ein Wollgeschäft, eine Töpferei. Dazu noch Boutiquen, Kneipen und Restaurants. In vielen Fenstern hängen Plakate: "Kisch bleibt" steht da oder "Wir sind die Straße". Solidarität, die Willenbrock durch die schwere Zeit trägt. "Die ganzen Initiativen, die haben schon vor einigen Wochen, zum Teil vor Monaten angefragt, wie es denn bei uns ausschaut, die wissen alle Bescheid." Alle wissen, dass Thorsten Willenbrock wieder um seinen Buchladen kämpfen muss. Schon das zweite Mal innerhalb von drei Jahren.
Kontakt zu den Rausing-Schwestern
Willenbrock sagt: "Wir hatten versucht in der Zwischenzeit die Rausing-Schwestern zu erreichen, weil die sehr groß, wie heißt das so neudeutsch, ‚charitymäßig‘ unterwegs sind. Die eine hat einen Verlag tatsächlich in London und eine Stiftung für Menschenrechte. Und wir wollten sie an die Verantwortung für die Milliarden, die sie nun haben, erinnern. Aber das ist nicht so einfach, an sie ranzukommen."
Schließlich hilft ein Kunde aus dem Buchladen, ein international bekannter, zeitgenössischer Künstler. Er nutzt seine Verbindungen nach London, stellt über seinen Agenten den Kontakt zu einer der Tetra-Pak-Erbinnen her. Sigrid Rausing ist Verlegerin und Herausgeberin. Einen Teil ihres Vermögens hat sie in eine gemeinnützige Stiftung überführt.
Sigrid Rausing antwortet per Mail: Sie betont die Wichtigkeit von Büchern und Buchläden. Allerdings habe sie keinen Einfluss auf die Verwaltung des Fonds. Sie kenne aber einige der Beteiligten und werde mit ihnen über den Buchladen sprechen. Also schöpft Torsten Willenbrock Hoffnung und wartet auf ein neues Angebot der Hausbesitzer.
Drei Mal so viel Miete für das Architekturbüro
Drei Stockwerke höher grübelt Alexander Koblitz über die Zukunft seines Büros. Gut ein Dutzend Architekten arbeiten in der Fabriketage von KKLF, Koblitz ist einer der Geschäftsführer. Seit 13 Jahren entwerfen und planen sie hier Schulbauten, Kindergärten, Forschungseinrichtungen.
"Im März 2007 sind wir hier eingezogen, damals gab es einen privaten Vermieter noch, die Flächen standen leer, er war glücklich, dass sich jemand gemeldet hat, und sich für diese Flächen interessiert hat", sagt er. Angefangen hat Koblitz mit einer Miete von sechs Euro pro Quadratmeter. Als der private Hausbesitzer an die Immobiliengesellschaft von Berggruen verkaufte, wurden die Vertragslaufzeiten immer kürzer, die Miete immer höher. Jetzt liegt sie bei 13 Euro. Im August 2021 läuft der aktuelle Vertrag aus.
Also fragt auch Koblitz bei der Hausverwaltung an. Betreff: Vertragsverlängerung. "Die hat letztendlich eine relativ anonyme E-Mail weitergeleitet. Und dort wurde uns gesagt, dass man jederzeit bereit sei, den Mietvertrag zu verlängern. Aber eben zu Konditionen, die einem doch den Atem genommen haben. 38 Euro den Quadratmeter kalt. Und wenn man das in Vergleich zu anderen Mieten setzt, das sind Preise, die selbst am Ku‘damm teilweise nicht gezahlt werden." Fast eine Verdreifachung der Miete.
Das macht Koblitz wütend. Denn es macht klar, dass die neuen Besitzer an den alten Mietern kein Interesse haben. "Man hat das Gefühl, es ist ein reines Spekulationsobjekt geworden, das Haus. Und dass wahrscheinlich eine leere Immobilie sich besser auf dem Markt generiert als ein mit Mietern besetztes Gebäude."
Maulkorb für die Mieter
Mitte Mai schließlich bekommt auch Willenbrock Post von der Hausverwaltung. Der Buchhändler zahlt zurzeit 20 Euro pro Quadratmeter. "Das sah folgendermaßen aus, dass die einen sieben Monats-Vertrag angeboten haben zu reduzierten Konditionen. Aber da war ein Passus drin, der ein Problem war." Wenn es nach sieben Monaten keine Einigung geben sollte, sollte sich Willenbrock nach diesem Vertrag verpflichten, automatisch zum 31.12.2020 auszuziehen.
Der 55-Jährige schüttelt den Kopf. Aus den Gesprächen mit den Berggruen-Immobilienverwaltern ist er einiges gewohnt. Dieses Angebot aber ist eine ganz neue Erfahrung. "Erstens ist da eine Verschwiegenheitsklausel eingebaut, die besagt, dass wir weder über das Zustandekommen, noch über den Vertrag, dass wir überhaupt nichts sagen dürfen, auch nicht über das Ende des Mietvertrages hinaus." Noch ein weiterer Passus findet sich in dem neuen Vertrag: "Wir sollten positiv über die Fondsgesellschaft berichten, vor allem auf Youtube und auch den Medien gegenüber, die über uns berichtet haben."
Die Journalisten, die kontaktiert werden sollen, sind namentlich aufgeführt. Über den Vertrag schweigen und für die neuen Besitzer Werbung machen. Maulkorb und Medienkampagne in einem Vertrags-Angebot. "Wir haben uns zurückgehalten, um die Verhandlungen, von denen wir dachten, dass man da noch etwas erreichen kann, nicht zu gefährden. Das ist jetzt absolut vorbei. Wir haben nichts mehr zu verlieren."
Es ist nun Ende Mai, der Mietvertrag ist ausgelaufen und Willenbrock sagt trotzig: "Wir schalten jetzt in den Widerstandsmodus". Auch die ominösen Hausbesitzer reagieren. Sie wechseln den Anwalt. Als nächstes bekommt Willenbrock Post von einer internationalen Kanzlei aus Frankfurt am Main. Die Anwälte fordern den Buchhändler auf, die Geschäftsräume bis zum 19. Juni zu übergeben.
Sie drohen mit Schadenersatzforderungen, da schon ein Folgemietvertrag abgeschlossen sei. Aber der Buchhändler lässt sich nicht einschüchtern. "Das Einzige, was wir machen können, ist jetzt erstmal einfach drin bleiben und denen das Leben so schwer wie möglich machen. Und darüber versuchen, möglicherweise eine Einigung mit denen zu erzielen."
Gewerbemieten sind frei verhandelbar
Eberhard Reis schlendert durch die Oranienstraße. In schwarzer Steppjacke, mit leicht abgewetzter Umhängetasche. Seit mehr als 20 Jahren vermietet Reis in Kreuzberg Gewerberäume. Mehr als 250 sind es hier im Kiez. Erst arbeitete Reis für eine städtische Wohnungsgesellschaft, dann wurde die – samt Reis - vom Immobilienkonzern Deutsche Wohnen übernommen.
Ob Fisch-, Brillen- oder Töpferladen – alle haben ihren Vertrag mit Reis gemacht. "Wenn ich will, kriege ich hier locker 30 Euro, ist überhaupt kein Problem. Machen wir aber nicht. Wir sind hier auch bei zehn bis 15 Euro. Ist alles so im Schnitt, der eine zahlt ein bisschen mehr, man muss immer so gucken." Er schaue da genau hin, sagt Reis. Was er seit einiger Zeit in der Oranienstraße sieht, gefällt ihm gar nicht. Spitzen-Gewerbemieten von bis zu 50 Euro pro Quadratmeter. "Das können die Leute einfach definitiv nicht erwirtschaften, weil die Kaufkraft gar nicht da ist. Das geht nicht, von daher passt das nicht, die machen dadurch alles kaputt."
Das Gewerbemietrecht kennt dafür keine Grenzen. Miethöhe und Mietdauer – alles ist frei verhandelbar. Deshalb bekommen manche Betriebe nur kurzfristige Verträge über zwei oder drei Jahre. Reis bleibt stehen, hält ein kurzes Schwätzchen mit der Besitzerin eines Töpferladens. Auch eine Mieterin. Dann deutet er auf die andere Straßenseite: Dort hat gerade ein neuer Laden aufgemacht. Wieder einmal Gastronomie. "Ich sage Ihnen, in einem halben Jahr ist der wieder leer, das sage ich Ihnen jetzt schon!"
Der Mieter habe langfristig keine Chance, sagt Reis. 5000 Euro Monatsmiete ließen sich auf Dauer mit legalen Mitteln hier nicht erwirtschaften. Der Vermieter profitiere so oder so. "Der nimmt 5000 Euro, dann nimmt er 20.000 Euro Kaution und wenn der Mieter platt geht, dann hat er erstmal drei Monate seine Kaution drin. Und das ist dem Latte." Die maßlose Immobilien-Spekulation zerstöre den Kiez, sagt Reis. Da macht er sich keine Illusionen. Das geht sogar einem renditeorientierten Wohnungskonzern wie der Deutschen Wohnen zu weit.
"Wir wollen, dass Kreuzberg hier so bleibt, wie es ist. Wir gehen nicht aktiv hin und sagen, Du fliegst jetzt raus, weil wir für das Doppelte oder das Dreifache vermieten können. So wie der da drüben. Sowas machen wir nicht", sagt Reis und hofft, dass dies auch so bleibt. Denn in einigen Monaten wird er in Pension gehen.
Der Buchladen bleibt – auch ohne Vertrag
Es ist inzwischen Ende Juni 2020, die Pandemie ebbt ab. Seit mehr als drei Wochen ist die Buchhandlung "Kisch & Co" ohne Mietvertrag. Willenbrock verkauft weiter Bücher. Und überweist die Miete als "Nutzungsentgeld". Vor dem Schaufenster stehen große Boxen, die Oranienstraße ist abgesperrt.
Gut 200 Menschen warten auf der Straße, alle tragen Masken. Es ist die Auftaktveranstaltung für die Aktion "Volle Breitseite für unseren Buchladen. Und den Kulturstandort Oranienstraße 25". Viele weitere Aktionen dieser Art werden im Sommer noch folgen.
Willenbrock greift zum Mikrofon, macht die Passagen aus dem letzten Vertragsangebot öffentlich: "Der Mieter ist verpflichtet, über das vom Vermieter mit diesem Nachtrag manifestierte Entgegenkommen durch einen Beitrag bei Youtube und Mitteilung gegenüber der Bundestagsabgeordneten Frau Cansel Kiziltepe, Frau Gabi Gottwald."
Langer Atem bei den Protesten
Ein Angebot, das selbst in der verrohten Berliner Immobilienszene einmalig ist. "Gentrifizierung in Kreuzberg. Buchhändler soll Vermieter auf Youtube loben", titelt dann auch die "Berliner Zeitung". Auf dem Bürgersteig begrüßt der Schriftsteller Raul Zelik die Demonstranten zur Buchpremiere. Es dauert einige Minuten bis Kamera und Live-Stream synchronisiert sind. Dann liest Zelik aus seinem neuen Suhrkamp-Buch: "Wir Untoten des Kapitalismus".
Kunden nehmen Videostatements auf, laden sie bei Youtube hoch. Politiker aus dem Bezirk, die im Abgeordnetenhaus und im Bundestag sitzen, schreiben nach London. Appellieren an die Rausing-Schwestern. Sie bekommen keine Antwort.
Im Architekturbüro, im vierten Stock, eilt Alexander Koblitz zwischen den Schreibtischen hindurch. Auch er hat auf einer Demonstration vor dem Buchladen gesprochen, genauso wie Vertreter des Yoga-Studios, die Chefin der Galerie für Bildende Kunst. Sie alle haben befristete Verträge, sie alle wollen kämpfen. "Die Solidarität ist grandios, dass muss man sagen", so Koblitz. "Ich bin wirklich berührt davon, mit welchem Engagement sich die Leute hier einsetzen. Man hat natürlich trotzdem das Gefühl, es ist wahnsinnig porös, man braucht wirklich einen wahnsinnig langen Atem. Da hat man das Gefühl, dass das Kapital den längeren Atem hat."
Milliardärs-Monopoly in der Oranienstraße
Mieter und Anwohner protestieren - die Familie Rausing und die Anwälte schweigen weiter. Eine Machtdemonstration. Koblitz dazu: "Es gibt keinerlei Regung, man hat das Gefühl, das wird ausgesessen. Irgendwann geht natürlich auch so einer Initiative die Puste aus. Und dann geht es den normalen Weg." Das ist der Weg der Immobilien-Spekulation, da ist sich der Architekt sicher.
Drüben auf der anderen Straßenseite kann man besichtigen, wie das funktioniert. Da leuchtet, frisch renoviert, die Fassade eines weiteren Gewerbe-Altbaus, es ist der "Oranienhof". Er wurde vor kurzem verkauft. Der neue Besitzer ist ein alter Bekannter: Der Milliardär Nikolas Berggruen. "Fast ist das schon eine kleine Perversion, dass die letzte attraktive Immobilie in der Straße, die auch so interessante gewerbliche Flächen hat, dass die nun dem gleichen Investor gehört, wie ursprünglich unser Haus, das ist verrückt."
Auf der einen Straßenseite mit zweistelligem Millionengewinn verkaufen, auf der anderen Straßenseite mit Millionen neu einsteigen – das ist das Milliardärs-Monopoly in der Kreuzberger Oranienstraße. Im Zwei-Wochen-Takt melden Willenbrock und seine Unterstützer nun Kundgebungen und Aktionen vor dem Buchladen an. Jedes Mal sperrt die Polizei die Oranienstraße ab, oft kommen mehr als 300 Kisch-Freunde zu den Veranstaltungen. "Ich möchte mit erhobenem Haupt da rausgehen und sagen, ich habe alles dafür getan, weil das ist unser Bestreben: dass wir da drinnen bleiben können."
Willenbrock bleibt stur. Und er bleibt nicht alleine. Auf fast jeder Veranstaltung treten jetzt weitere Gewerbetreibende auf, die über ihre Kündigungen berichten. Handwerker müssen ebenso raus wie Kindergärten.
Sommer des Protests vor dem Buchladen
Es ist Ende Juli. Meret Becker sitzt mit ihrer Gitarre auf einem Hocker vor dem Schaufenster der Buchhandlung. Akkordeon, singende Säge und ein großes, wassergefülltes Weinglas hat sie auch noch mitgebracht. Die Sängerin und Schauspielerin nimmt noch einen Schluck Bier aus der Flasche. "Danke, lieber Kapitalismus, der dafür sorgt, dass der schöne Bezirk, vor dem früher die Mädchen gewarnt wurden, dass der jetzt verkauft wird." Sie spielt dann weiter, eine halbe Stunde lang. Ein Solidaritätskonzert auch in eigener Sache.
"Auf jeden Fall bin ich hier Kunde, seit vielen Jahren, Stammkunde", sagt Becker. "Jetzt will man mir meinen Buchladen wegnehmen, das geht gar nicht. Und euch auch. Uns allen. Aber das lassen wir nicht zu!"
Über mehr als zwei Sommermonate verwandeln der Buchhändler und seine Unterstützer die Oranienstraße im Zwei-Wochen-Takt in eine kulturelle Protestbühne. Musiker der "Einstürzenden Neubauten" und von "Stereo Total" treten ebenso auf wie Opernsängerinnen, Soziologen, Stadtforscher. "Ich weiß nicht, wie oft ich schon in den letzten Wochen gedacht habe, ich kann nicht mehr", sagt Willenbrock. "Aber es geht dann trotzdem immer noch. Auch aufgrund dieser phantastischen Unterstützung. Und so eine Veranstaltung wie gestern, das gibt einem unwahrscheinlich viel Kraft weiterzumachen."
Die Räumungsklage kommt
Willenbrock verkauft weiter Bücher. Auch ohne Mietvertrag. Er sieht müde aus. Zuhause büffelt seine Tochter fürs Abi –Home Schooling. Seine Freundin unterstützt ihn, wo es geht. "Es hat mir niemand gesagt, hör auf damit, niemand. Was andere Leute gesagt haben war nur: ‚Pass bloß auf, dass Du nicht vor die Hunde gehst‘, das habe ich öfter gehört."
Am 22. September 2020 bekommt der Buchhändler Post von der Hausverwaltung: Eine Räumungsklage. "Zugestellt worden ist sie am 22. September und eingereicht haben sie Klage beim Landgericht Berlin am 7. Juli, also ziemlich schnell nachdem die Räumungsaufforderung verstrichen ist."
Er berät sich mit seinem Anwalt und verkauft weiter Bücher. Die Kreuzberger Grünen-Abgeordnete Canan Bayram bringt am 8. Oktober einen Gesetzesentwurf in den Bundestag ein, der das Gewerbemietrecht verbessern und die Rechte der kleinen Gewerbetreibenden stärken soll. Prompt warnt ein Sprecher der CDU/CSU-Fraktion vor einer "Reminiszenz an die sozialistische Planwirtschaft der DDR". Die SPD aber signalisiert Zustimmung. Das Thema hat den Deutschen Bundestag erreicht, scheinbar aber nicht die Familie Rausing und die Fondsverwalter. Bis auf die Räumungsklage gibt es keine weiteren Reaktionen.
Private Hausbesitzer werden zur Minderheit
Im November veröffentlicht die Rosa-Luxemburg-Stiftung die Studie des Daten-Analysten Trautvetter mit dem Titel: "Wem gehört die Stadt?" Das Ergebnis ist, "dass wir immer noch nicht genau sagen können, wem diese Stadt gehört, aber wir haben zumindest eine Liste der 200 größten und bedeutendsten Eigentümer der Stadt", heisst es darin.
Immobilien- und Fondsgesellschaften bauen laufend ihren Anteil am Häusermarkt aus, das ist ein Ergebnis der Studie. Die privaten Hausbesitzer, die von der Politik so gerne beschworen werden, seien inzwischen eine Minderheit. Trautvetter resümiert: "Wenn man sich den Gewerbeimmobilienmarkt anguckt, dann sind das sehr oft große Pakete, die zu mehr als der Hälfte in ausländischer Hand sind."
Diese anonymen Gesellschaften wollten immer öfter abkassieren, und zwar auf dem Gewerbemarkt, wo heute Mieten noch frei verhandelbar sind. Im Wochentakt melden sich jetzt bei Christoph Trautvetter Gewerbetreibende, deren Verträge auslaufen. "Die mit diesem gleichen Phänomen zu tun haben, die damit kämpfen, dass ihre Mieten sich auf einmal vervielfachen. Wir hatten jetzt den Fall des Geburtshauses im Prenzlauer Berg, wir haben eine ganze Reihe Späties, wir haben in der ganzen Stadt Gewerbetreibende, die damit zu tun haben, diese neu verlangten Mieten nicht mehr zahlen zu können."
Alle warten weiter
Die zweite Welle der Pandemie erreicht Berlin, Weihnachten und Neujahr sind vergangen. Vieles steht still, Willenbrock aber verkauft weiter Bücher. An einem Abend Anfang März sitzt der 55-Jährige allein im Laden, trinkt ein Feierabendbier. Der Buchhändler greift zum Tabakbeutel, dreht eine Zigarette. Eigentlich sollte er am 5. Februar die Vertreter der Hausbesitzer vor Gericht treffen. Dann sollte über die Räumungsklage verhandelt werden. Der Termin wurde aber verschoben auf den 9. April. Begründung: Die Corona-Pandemie und das große öffentliche Interesse. "Ich habe ein Jahr jetzt hinter mir, abgesehen von Corona, was auch Scheiße gewesen ist, da ging es nur darum, wie geht es weiter. Seit einem Jahr", sagt Willenbrock.
Der Fall der Buchhandlung zieht immer größere Kreise. Eine Petition mit dem Titel "Rettet Kisch & Co" zur Erhaltung des Buchladens haben mehr als 17.000 Personen unterschrieben, unter anderem die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek, der Schauspieler Josef Bierbichler, der Kabarettist Marc-Uwe Kling und der Maler Jim Avignon.
Von den Hausbesitzern gibt es immer noch keine Reaktion. Mittlerweile haben auch Berlins Kultursenator Klaus Lederer und sein Kollege Dirk Behrendt aus dem Justizressort in einem gemeinsamen Brief an die Vertreter der Hausbesitzer appelliert, ihre Entscheidung zu überdenken und einen Mietvertrag mit "tragbaren Konditionen" anzubieten. Keine Antwort bisher. Also warten alle weiter. Die Gerichtsverhandlung am 9. April wurde bereits wieder verschoben. Aus Sicherheitsgründen.
Einige der Kunden bereiten sich derweil schon auf den Ernstfall vor. "Die alle sagen, das geht so nicht, wir müssen unbedingt was machen. Wir bringen den Schlafsack mit, wir übernachten bei Euch, wir besetzen das, wir machen irgendetwas!"