Munitionszug auf dem falschen Gleis
Der Widerstand der Gewerkschaften gegen Hitler war weniger spektakulär als das Attentat vom 20. Juli 1944. Zudem sei die Quellenlage schwierig, sagt der Politikwissenschaftler Siegfried Mielke. Bekannt ist, dass sich Eisenbahner Hitler widersetzten, indem sie Munitionszüge auf falsche Gleise lenkten.
Heute jährt sich das das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler zum 71. Mal. Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist inzwischen Symbolfigur des Widerstands gegen den Diktator – dass auch Gewerkschafter sich vehement gegen die Nationalsozialisten wehrten und ihr Leben riskierten, ist weniger bekannt.
Dafür gebe es viele Gründe, sagte der Politikwissenschaftler Siegfried Mielke im Deutschlandradio Kultur. So sei zum einen die Quellenlage schwieriger – ein proletarisches Leben hinterlasse weniger Spuren als ein bürgerliches. Zudem habe es lange eine Voreingenommenheit vieler Wissenschaftler gegenüber den Gewerkschaften gegeben, beklagte er.
Die Gewerkschaften haben es versäumt, ihre Widerstandsgeschichte aufzuarbeiten
Auch sei der Zugang zu Akten versperrt gewesen, und die Gewerkschaften selbst hätten es versäumt, ihre diesbezügliche Geschichte aufzuarbeiten: Ansätze aus den 50er- und 60er-Jahren seien im Sande verlaufen, sagte der ehemalige Leiter der Arbeitsstelle Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Als Beispiel für gewerkschaftlichen Widerstand beschrieb Mielke denjenigen der Eisenbahner. Hier leiteten Widerständler Züge auf falsche Gleise, damit Munition später an der Front ankam. "Es gab aber in der Regel nicht diese spektakulären Aktionen wie beim 20. Juli", sagte er – sondern eher den Versuch, die Nazis über "Gegenöffentlichkeit" – beispielsweise mit Publikationen – zu schwächen.
Das Interview mit dem Politikwissenschaftler Siegfried Mielke im Wortlaut:
Nana Brink: Heute ist ja der 20. Juli, und dies ist ein stehender Begriff in der deutschen Geschichte: Am 20. Juli 1944, also heute vor 71 Jahren, machte sich ja ein deutscher Offizier namens Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf, den Diktator zu beseitigen. Wie das ausging, das wissen wir ja alle, auch dass es im Nachkriegsdeutschland, in Ost wie West, lange gedauert hat, bis dieser Widerstand einer Gruppe von Bürgerlichen und Militärs im Bewusstsein der Deutschen überhaupt angekommen ist.
Kontakt zu den Hitlerattentätern vom 20. Juli 1944 hatte auch Wilhelm Leuschner, Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der ja 1933 gleichgeschaltet worden ist, und er leistete – also Wilhelm Leuschner – wie wenige Gewerkschafter auch Widerstand und bezahlte nach dem gescheiterten Attentat auch dafür mit seinem Leben.
Mit seiner Geschichte und der vieler anderer Gewerkschafter hat sich lange der erimitierte Politikwissenschaftler Professor Siegfried Mielke an der FU Berlin beschäftigt. In ein paar Stunden hält er bei der Feierstunde in der Gedenkstätte Plötzensee einen Vortrag über den Widerstand der Gewerkschaften, und es freut mich, dass Sie jetzt schon hier in "Studio 9" sind. Guten Morgen!
Siegfried Mielke: Ja, schönen guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Stauffenberg und seine Mitstreiter sind ja bekannt – täuscht mich der Eindruck, dass über den Widerstand von Gewerkschaftern doch weniger bekannt ist?
"Voreingenommenheit zahlreicher Wissenschaftler"
Mielke: Da haben Sie völlig recht, und es gibt viele Gründe, die man anführen müsste, um dies zu erklären. Da ist zum einen die schwierigere Quellenlage. Der Historiker [Ulrich] Borsdorf hat mal gesagt: Ein proletarisches Leben hinterlässt sehr viel weniger Spuren als ein bürgerliches. Das ist richtig. Hinzu kommt die Voreingenommenheit zahlreicher Wissenschaftler gegenüber den Gewerkschaften.
Man muss wissen, dass das Gros der Publikationen zum gewerkschaftlichen Widerstand der 1970er- bis 1990er-Jahre entstand, und da haben eher linke Wissenschaftler den Gewerkschaften, die mit ihrer Anpassungspolitik gegenüber den Nationalsozialisten im Frühjahr '33 versagt haben, nicht zugetraut, dass sie Widerstand leisten würden. Hinzu kommt, dass wir damals keinen Zugang zu vielen Akten hatten, wo es heute diesen Zugang gibt – etwa Entschädigungsakten, Opfer-des-Faschismus-Akten –, sodass viele Arbeiten auf der Auswertung der Quellen der Verfolgerinstitutionen entstanden, was auch dann zu Fehleinschätzungen führte. Unterschätzt wurden in diesen Jahren auch die internationalen Beziehungen und Verbindungen der Gewerkschaften, auch der illegalen, noch zu ihren Organisationen auf europäischer oder Weltebene.
Und ein Grund dafür, dass wir heute noch zu wenig über den gewerkschaftlichen Widerstand wissen, liegt auch bei den Gewerkschaften selbst, denn es gab zwar früher Ansätze in den 1950er- und 1960er-Jahren, dieses aufzuarbeiten, aber die verliefen im Sande. Und auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat einen Förderschwerpunkt, der fängt in den 1970er-Jahren an, als es um die Debatten zum Mitbestimmungsgesetz von '76 ging. Und gewerkschaftliche Untersuchungen und wissenschaftliche Untersuchungen über den Widerstand werden von diesem Institut nur in Ausnahmefällen unterstützt. Aus allem zusammen kommt dann, dass gewerkschaftlicher Widerstand sehr viel schlechter dasteht als der Widerstand der Militärs oder bürgerlicher Gruppen
Brink: Aber trotzdem sprechen Sie ja von Widerstand. Wir wissen ja, 1933, die Gewerkschaften wurden gleichgeschaltet ...
Mielke: Ja, zerschlagen.
Brink: ... es gab wahrscheinlich auch wenig Chancen, zerschlagen auch, aber ...
Mielke: Das Gleichgeschaltet hört sich meines Erachtens noch zu gut an.
Brink: Aber trotzdem gab es ja einen Widerstand. Wie sah der aus?
Hans Jahn konnte Eisenbahner zum Widerstand motivieren
Mielke: Ja, der sah sehr vielfältig aus. Die Gewerkschaften bildeten Widerstandsgruppen ... Ich geh' mal von einem konkreten Beispiel aus, den Eisenbahnern: Hans Jahn war Vorstandsmitglied eines Verbandes der Eisenbahner Deutschlands gewesen, hatte die Anpassungspolitik trotz Widerstand dagegen letztendlich mitgetragen, hatte aber Karteikarten von Mitgliedern und Funktionären beiseite geschafft, konnte dann nach 33 zahlreiche Eisenbahner ansprechen, sie motivieren, Widerstand zu leisten. Er organisierte dann sich die Unterstützung des internationalen Berufssekretariats der Transportarbeiter, dessen Generalsekretär Edo Fimmen ihn tatkräftig unterstützte. Er musste dann später fliehen, hat dann von Holland aus dieses weiter aufgebaut, hatte Geld, um die Leute nach Holland kommen zu lassen, um mit ihnen dann den Widerstand zu organisieren und Absprachen zu treffen, sie zu motivieren, Berichte aus den Betrieben zu sammeln, die dann in Zeitschriften veröffentlicht wurden, die dann wiederum nach Deutschland geschmuggelt wurden und dort für eine Gegenöffentlichkeit sorgten – das war ein wichtiger Punkt.
Ein weiterer wichtiger Punkt war Unterstützung für Verhaftete, und dann gab es natürlich auch teilweise – bei den Eisenbahnern zwar selten – Sabotageakte, dass Züge auf falsche Gleise nachher im Krieg geleitet wurden, damit Munition dann verspätet ankam und dergleichen mehr. Es gab aber in der Regel nicht diese spektakulären Aktionen wie beim 20. Juli, sondern eben der Versuch, über Gegenöffentlichkeit und über Überlegungen, wie man sich verhalten sollte für die Zeit nach dem Faschismus, dass man dort Programme entwickelte. Aber das waren dann wieder Aktivitäten, die hauptsächlich von Emigrantenorganisationen im Ausland geleistet wurden.
Brink: Was ganz interessant ist, dass Sie diese kleinen Beispiele schildern, die ja untergehen in dieser großen Erinnerungskultur auch. Sie haben anfangs erwähnt, die Gewerkschaften selbst haben auch nicht genug dafür getan – tun sie es heute?
Mielke: Ja, begrenzt. Es gibt nur eine Minderheit, die sich dafür interessiert, das Gros der Gewerkschafter ist auf die Tagesgeschäfte orientiert. Und da würde ich mir natürlich wünschen, dass Wissenschaftler mehr Unterstützung bekämen für ihre Arbeiten.
Brink: Der Politikwissenschaftler Professor Siegfried Mielke, vielen Dank für das Gespräch! Wir haben über den Widerstand der Gewerkschaften während des Dritten Reiches gesprochen. Heute, am 20. Juli 1944, vor 71 Jahren war ja das bekannte Attentat, der Attentatsversuch auf Hitler.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.