Gianfranco Rosi über Dokfilm "Seefeuer"

"Ich musste entscheiden, ob ich den Tod zeige"

Der italienische Regisseur Gianfranco Rosi erhält für "Fuocoammare" den Goldenen Bären 2016
Der italienische Regisseur Gianfranco Rosi © dpa / picture alliance / Kay Nietfeld
Patrick Wellinski im Gespräch mit Gianfranco Rosi |
"Seefeuer (Fuocoammare)" heißt der Dokumentarfilm des Italieners Gianfranco Rosi, der im Februar auf der Berlinale Jury und Publikum überzeugte und so den Goldenen Bären gewann. Der Film, der seit Donnerstag in unseren Kinos läuft, liefert einen ehrlichen Blick auf die Mittelmeerinsel Lampedusa und wird mit der Zeit zu einem vereinnahmenden Porträt der Flüchtlingssituation dort. Eine Insel als Parallelgesellschaft zwischen unbeschwerter Jugend und dem Kampf ums Überleben.  
Patrick Wellinski hat Regisseur Gianfranco Rosi auf der Berlinale zum Interview getroffen und wollte damals von ihm wissen, wie das ganze Seefeuer-Projekt entstanden ist, denn es hieß, er wollte zunächst über Lampedusa nur einen Kurzfilm drehen:
Gianfranco Rosi: Na, es war nicht ganz so. Ich wollte keinen Kurzfilm machen, ich wurde gebeten einen Kurzfilm auf Lampedusa zu drehen! Und da die italienische Produzentin eine gute Freundin von mir ist, bin ich da hingereist. Und ich wusste sofort, dass ich hier länger bleiben muss. Die Situation konnte nicht auf ein paar Minuten reduziert werden. Ums kurz zu machen: Ich brauchte Zeit. Am Ende wurde es ein Jahr. Anders konnte ich mich der Situation zu nähern.

Flüchtlinge vom Inselbevölkerung isoliert

Deutschlandradio Kultur: Sie zeigen den Alltag der Inselbewohner. Ein kleiner Junge, ein Radio-DJ, alte Damen, Fischer – Ist Lampedusa eine Parallelwelt?
Rosi: Lampedusa wurde zur Parallelwelt gemacht. Vielleicht begann das vor zwei, drei Jahren als die italienische Küstenwache die Marineoperation "Mare Nostrum" ins Leben rief. Später begann die Operation Triton unter der Arbeit der EU-Grenzagentur Frontex. Die Grenzen dieser Insel verschoben sich damit ins Mittelmeer. Das ändert alles. Nicht nur für die Bewohner, die sich plötzlich von Militärbooten umzingelt sehen. Sondern auch für die Flüchtlinge.
Früher kamen sie am Ufer der Insel an. Jetzt werden sie immer mitten auf hoher See gestoppt. Alle Aufnahmerituale haben sich aufs Meer verschoben. Also: Lampedusa ist nicht mehr der Ort, an dem viele Flüchtlinge ankommen, sondern eine große Erstaufnahme-Einrichtung. Die Flüchtlinge werden erst ans Ufer gebracht, dann in die Lager auf der anderen Seite. Dadurch sind sie vom Leben der Inselbevölkerung isolierter. Das vergisst man gerne.
Deutschlandradio Kultur: Samuele ist ein kleiner Junge und der heimliche Mittelpunkt Ihres Films. Wie haben Sie ihn gefunden und vor allem: Wussten Sie sofort, dass Sie ihn zum heimlichen Hauptdarsteller machen?
Rosi: Ich wusste von vornherein, dass ich eine Episode meines Films mit Kindern besetzen will. Naja, und dann liefen wir so über die Insel und guckten nach den Kindern. Und mein Assistent hat dann den kleinen Samuele gefunden. Und mir war sofort klar, der ist was Besonderes, auch, dass er in meinen Film gehört. Damals wusste ich aber noch nicht, dass er quasi die Hauptfigur werden wird. Aber ich habe ihn jetzt nicht immer begleitet.
Wir haben uns spontan getroffen. Und ich habe immer wieder kleine Episoden aus seinem Alltag aufgenommen. Und dann merkte ich, dass Samuele sich langsam seiner Umwelt bewusst wird. Ihm geht es ja plötzlich schlecht. Er hat Angstzustände. Weil da etwas um ihn rum passiert, was er nur fühlt. Und das war für mich ein schönes Bild für unser Verhältnis zur aktuellen Lage.

"Nicht genug Zeit, um den Flüchtlingen nahe zu kommen"

Deutschlandradio Kultur: Gibt es überhaupt so etwas wie eine "normale Kindheit" auf Lampedusa?
Rosi: Naja, es ist ja trotzdem noch eine Insel. Und die Kinder gehen in die Schule, raufen sich, spielen. Aber sie gehen auch Jagen und gehen alleine nachts in den Wald – alles, was Stadtkinder nicht machen. Diese Jugend auf Lampedusa hat auch etwas Archaisches. Es ist eine andere Kindheit ja, näher an meiner eigenen Kindheit in den 50er-, 60er-Jahren, aber es ist eine Kindheit.
Deutschlandradio Kultur: Sie zeigen die Flüchtlinge, die auf der Insel ankommen. Das sind auch heikle Szenen. Als Dokumentarfilmer müssen Sie sich entscheiden, was sie zeigen - und was nicht. War das immer eine Frage der Moral?
Rosi: Ja, na klar. Die härteste Phase war der Schnitt. Ich musste entscheiden, ob ich den Tod zeige. Der Tod kam ja zu mir. Ich wollte bei der Rettung einiger Flüchtlinge dabei sein. Und nicht alle haben das überlebt. Damals ist auch etwas mit mir passiert. Im Schnittraum musste ich mich fragen, ob ich das in den Film bringe oder wie. Ich wollte, dass das der Endpunkt meines Films wird und das alles darauf zulaufen sollte. Ich wusste nicht, ob das geht. Ich musste mich da herantasten.
Deutschlandradio Kultur: War das für Sie eigentlich nicht problematisch, dass jemand wie Samuele so ein emotionaler Bezugspunkt ist und die Flüchtlinge eher eine anonyme Masse?
Rosi: Natürlich sind auch die Flüchtlinge Individuen. Ich hatte einfach nicht genug Zeit um ihnen nahe zu kommen. Sie werden auf die Boote gebracht, dann auf die Insel, in die Lager und dann geht es ja schon weiter aufs Festland. Deshalb ist die Struktur meines Films so simpel. Ich zeige die Ankunft einiger Flüchtlinge von der Nacht ihrer Ankunft bis zur Ankunft im Flüchtlingslager. Aber ich musste das natürlich über mehrere Tage hinweg drehen. Währenddessen war ich so nah wie möglich bei diesen verängstigten Menschen. Am Ende spielen sie ja Fußball und dann fällt etwas von diesen Menschen ab, der Horror ihrer Flucht und vor allem der das Erlebnis jedes Einzelnen.
Deutschlandradio Kultur: Was kann eigentlich ein Film leisten oder das Kino, das die Nachrichtenbilder und die Berichterstattung nicht leisten können?
Rosi: In der Welt der Nachrichten muss alles schnell gehen. Als ich mit meinen Dreharbeiten begonnen hatte, gab es keine Flüchtlinge auf Lampedusa, weil das Inselzentrum gesperrt war. Die Insel der Flüchtlinge hatte keine Flüchtlinge. Da war es leer. Das zeige ich auch. Ich war doch ein Jahr da und ich zeige Dinge, die man in Nachrichten nicht zeigen kann: Ich zeige Vögel, die Wellen, Kinder die mit Böllern Kakteen in die Luft jagen – den Alltag halt. Die meisten zeigen nur die Tragödie und gehen dann wieder. Die Zeit, das ist der Schlüssel zu meinem Werk.

"Fuocoammare - Fire at sea"
Dokumentation von Gianfranco Rosi
Italien/Frankreich, 107 Minuten

Mehr zum Thema